Aufgeblättert
Mussolinis Wohltaten
Ein Roman mit dem Titel »Canale Mussolini« könnte den Verdacht der Sympathiewerbung für den historischen Faschismus aufkommen lassen. Der Autor dürfte das nicht beabsichtigt haben. Antonio Pennacchi, geboren 1950 und in jungen Jahren Mitglied des neofaschistischen MSI, entwickelte sich später weit nach links. Sein Roman erzählt die Geschichte der Familie Peruzzi in den Jahren 1904 bis 1945. Als arme Leute aus Venetien werden sie zusammen mit Tausenden anderen 1928 in ein Sumpfgebiet südlich von Rom umgesiedelt. Mit Hilfe des »Canale Mussolini« wird das Gebiet trockengelegt und für die Landwirtschaft nutzbar gemacht - die Malaria verschwindet. Pennacchis Ich-Erzähler lässt keinen Zweifel, dass wegen solcher Wohltaten die allermeisten FaschistInnen wurden oder sich zumindest mit dem Regime arrangierten. Er ist umfassend informiert, auch über die faschistischen Verbrechen in Afrika, die Rassengesetze, das Bündnis mit Nazi-Deutschland. Auf Einwände eines im Dunkeln bleibenden Zuhörers antwortet er teils apologetisch, teils kritisch, aber immer distanzlos: Es war, wie es war. Auch der »Duce« erscheint ganz menschlich. Man trauert ihm nicht nach, aber er hat auch Gutes getan. Ein Roman über den Faschismus »aus der Perspektive reueloser Mitläufer«, wie der Verlag treffend formuliert. Das ist teilweise schwer erträglich, aber auch erhellend, weil repräsentativ für das im heutigen Italien hegemoniale Geschichtsverständnis.
Jens Renner
Antonio Pennacchi: Canale Mussolini. Roman. Hanser Verlag, München 2012. 442 Seiten, 24,90 EUR.
Bürgerbeteiligung
Auf www.dialog-ueber-deutschland.de lädt die Kanzlerin ein zur Diskussion: Wie wollen wir zusammen leben? Wovon wollen wir leben? Wie wollen wir lernen? Merkel: »Jeder kann seine Ideen vorschlagen oder auf gute Praxisbeispiele hinweisen. Diese Vorschläge können dann wiederum kommentiert und bewertet werden.« Für den Publizisten Thomas Wagner ist dieser Bürgerdialog im Internet eine »Mogelpackung«: das Beispiel eines »demokratisch verkleideten autoritären Regierungsstils«. Für eine Direktwahl des Bundespräsidenten gibt es Unterstützung in allen politischen Lagern. Der konservative Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim fordert zudem einen deutlichen Machtzuwachs für das Staatsoberhaupt. Rechte Parlamentskritik betreibt auch der ehemalige Wirtschaftslobbyist Olaf Henkel. Dieser fordere eine »plebiszitär abgesicherte Elitenherrschaft«, schreibt Wagner. Bürgerbeteiligung als Vehikel für eine Verfestigung von Elitenherrschaft, mag auf den ersten Blick paradox klingen. Doch Wagner zeigt an verschiedenen Beispielen auf, wie in rechtskonservativen Kreisen mit dem Verweis auf die schweigende Mehrheit soziale Regelungen, Forderungen von Gewerkschaften, aber auch von sozialen Initiativen und Umweltverbänden ausgehebelt werden sollen. Der Parteienstaat, der unterschiedliche Interessen austarieren müsse, hindere am kraftvollen Durchregieren, lamentierten schon rechte Parlamentskritiker in der Weimarer Republik.
Peter Nowak
Thomas Wagner: Demokratie als Mogelpackung. Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus. Papyrossa-Verlag, Köln 2011. 142 Seiten, 11,90 EUR.
Grenzbewegungen
Aufmerksamen ak-LeserInnen ist Afrique-Europe-Interact (AEI) längst ein Begriff. Das Netzwerk wurde 2009 von AktivistInnen aus Mali, Deutschland, Österreich und den Niederlanden gegründet und ist damit »eine Bündniskonstellation, welche spätestens seit dem Ende der Anti-Apartheidsbewegung immer seltener geworden ist«. Anfang 2011 organisierte AEI eine Karawane von Bamako zum Weltsozialforum nach Dakar. Die Erfahrungen und Themen dieser Karawane hat AEI nun in einer Broschüre dokumentiert, die bald in der zweiten Auflage erscheint. Im ersten Kapitel finden sich Berichte aus der Migration, von Selbstorganisierung und Widerstand mit Fokus auf Mali als wichtigem Transitland. Das zweite Kapitel widmet sich dem Begriff der »gerechten Entwicklung«. Dieser mag aus europäischer Sicht problematisch klingen; die afrikanischen AEI-AktivistInnen fassen darunter die Forderung nach einem besseren und würdigen Leben. Entsprechend behandelt dieses Kapitel Themen wie Korruption in Westafrika, Landgrabbing oder die Situation von FischerInnen am Niger. Besonders lesenswert ist das dritte Kapitel. Hier wird diskutiert, wie angesichts der kolonialen Erbschaften eine gleichberechtigte Organisierung zwischen Afrika und Europa gelingen kann - und damit die Frage, wie aus den Fehlern und Debatten des früheren Internationalismus gelernt werden kann. Die zweisprachige Broschüre ist lesenswert und auch optisch sehr schön gestaltet.
Sarah Lempp
Afrique-Europe-Interact (Hrsg.): Grenzbewegungen - Mouvements autour des frontières. 2011, 120 Seiten. Bestellung gegen Spende (5-10 Euro) über www.afrique-europe-interact.net.
Katz und Maus
Günter Grass' Novelle »Katz und Maus« erschien 1961. Sechs Jahre später kam Hansjürgen Pohlands Verfilmung in die Kinos, die besser als die literarische Vorlage ist - und provokativer. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Franz-Josef Strauß wollte den Film verbieten: Dieser verunglimpfe die Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger und sei eine »sittlich verwerfliche Form der Darstellung hoher Tapferkeitssymbole«. Das Bundesinnenministerium verlangte Fördergelder zurück. Das Ritterkreuz war ein von Hitler gestifteter Orden. Seine Träger wurden während des Nationalsozialismus als Helden verehrt. Enno Stahl hat in seinem Büchlein die Geschichte des Films und die Auseinandersetzungen um ihn rekonstruiert. Hierfür hat er auch den Briefwechsel zwischen Grass, Schauspielern und Regisseur sowie Archivmaterial und die Presse gesichtet. Das Buch bietet einen Einblick in die Kulturproduktion im postfaschistischen Deutschland vor 1968. Eine DVD-Edition des Films ist in Vorbereitung. Was fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit Sexualität und Männlichkeit. Spätestens seit Klaus Theweleit ist bekannt, dass es hierbei einen Zusammenhang zum NS-Faschismus gibt - auch in der kulturellen Verarbeitung nach 1945. In »Katz und Maus« trägt die Hauptfigur das Ritterkreuz aus Scham über seinen großen Adamsapfel, und die Protagonisten veranstalten eine Art Onanierolympiade, eine Szene, die Pohland erheblich kürzt.
Ingo Stützle
Enno Stahl: Für die Katz und wider die Maus. Pohlands Film nach Grass. Verbrecher Verlag, Berlin 2012. 128 Seiten, 14 EUR.