»Wir sind mutiger geworden«
Aktion LGBT*-AktivistInnen in der Türkei haben mit vielen Problemen zu kämpfen
Interview: Anne Steckner
Die Bewegung für die Rechte von LGBT*s (1) hat in der Türkei in den letzten 20 Jahren vor allem in Städten wie Istanbul und Ankara an Sichtbarkeit gewonnen. Insbesondere in ländlichen Regionen sind abweichende sexuelle Identitäten jedoch weiterhin ein Tabuthema, und auch in den Großstädten haben LGBT*s nach wie vor mit Diskriminierung und Gewalt zu kämpfen. ak unterhielt sich mit den beiden AktivistInnen Sevval Kiliç und Cihan Hüroglu über die Situation und aktuellen Kämpfe der türkischen LGBT*-Bewegung.
Gibt es eine LGBT*-Bewegung in der Türkei oder trennt die Realität LGB-Probleme von Trans*-Kämpfen?
Sevval Kiliç: Wir demonstrieren zusammen, aber unsere Alltagswelt sieht ziemlich unterschiedlich aus. Der Trans*-Kampf bewegt sich noch auf einer sehr existenziellen Ebene: »Gewöhnt euch an uns. Tötet uns nicht!« Es geht darum, erst mal das Recht auf unversehrtes Leben einzuklagen. Wir können nicht von Menschenrechten sprechen, solange man uns Trans* zuweilen die Menschlichkeit abspricht. Wir lernen unfreiwillig, von Geburt an zu kämpfen: in der Familie, in der Schule, bei den Behörden. Nichts ist selbstverständlich. Es gibt alltägliche Diskriminierung in Bezug auf Arbeit, soziale Sicherung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnungsmarkt oder Kreditaufnahme.
Cihan Hüroglu: LGBs und Trans* kennen sich, wir haben Kontakte untereinander und an vielen Punkten eine gemeinsame Agenda. Übrigens anders als in Deutschland, wo ich die Welten als noch viel getrennter erlebt habe. Aber dass es zum Beispiel beim Verein SPoD, bei dem ich arbeite, keinE Trans*-AktivistIn gibt, ist eine Realität, die für sich spricht. Wir würden aber gern mehr kooperieren.
Welche Schwerpunkte setzt ihr in eurer Arbeit?
C.H.: Das Wissen über die Lebensrealitäten von LGBT*s ist immer noch gering. Wir brauchen mehr Statistiken, Berichte mit konkreten Daten und gut dokumentierte Rechtsfälle. Mit der Unterstützung von Anwälten und Anwältinnen müssen wir klare Präzedenzfälle schaffen. Das ist nicht »street level struggle«, klar, aber so schaffen wir neue Rahmenbedingungen für die Bewegung. In der Türkei gibt es kein Gesetz, das die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität ausdrücklich verbietet. Aus einem Entwurf für ein neues Anti-Diskriminierungsgesetz wurde die sexuelle Identität wieder rausgeworfen, jetzt liegt es auf Eis. Ein nächster Schritt wäre ein Gesetz gegen Hassverbrechen. Und danach müsste das Arbeitsrecht um LGBT*-Themen erweitert werden. Ja ja, eins nach dem anderen...
S.K.: Wir versuchen, mehr Trans* für unsere Anliegen zu interessieren. Das passiert zuallererst über freundschaftliche Unterstützung, nicht über politische Inhalte. Anders kommst du an die Leute nicht ran. Und was Gesetze betrifft: Es gibt erste Anstrengungen, Unternehmen auf (bereits existierende) gesetzliche Quotenregelungen für körperlich behinderte Arbeitskräfte aufmerksam zu machen. Eine ähnliche Regelung könnte für Trans* etabliert werden. Aber dieser Weg ist in der Bewegung sehr umstritten, die Leute sagen: Was soll das? Wir sind doch nicht eingeschränkt arbeitsfähig.
Also noch keine Möglichkeit für Trans*-Menschen, andere Jobs zu machen als Sexarbeit?
S.K.: 99 Prozent der Trans* in der Türkei sind SexarbeiterInnen. Das ist Fakt. Die Sexarbeit suchen wir uns nicht freiwillig aus. Dazu wird man gezwungen, wenn es keine anderen Möglichkeiten der Existenzsicherung gibt. Es gibt einfach null Möglichkeiten, sich ins System zu integrieren. Anders als viele Schwule und Lesben können wir uns nicht verstecken, nicht unsichtbar machen.
Wie sichtbar sind LGBs?
C.H.: Also, erstmal ist die Sichtbarkeit eine persönliche Entscheidung. An einem Pride March teilzunehmen, macht natürlich sichtbar, und immer mehr LGBs tun es auch. Es ist schwierig, sich im Alltag ständig zu verstecken, denn das heißt letztlich, die eigene Person zu verleugnen. Dennoch bleibt es extrem heikel, die sexuelle Orientierung am Arbeitsplatz zu offenbaren. Hier in Istanbul geht das in bestimmten Kreisen, aber anderswo ist es ein hohes persönliches Risiko.
Auch eine Klassenfrage?
C.H.: Natürlich. Gebildete und Gutverdienende können sich Wohnungen an Orten gehobener Preisklasse leisten, wo mehr Toleranz und Offenheit herrschen, während die Armen auf soziale Gemeinschaft, Verbindlichkeit und familiären Zusammenhalt im eigenen Viertel angewiesen sind. Die können sich ein Ausscheren aus den moralischen Codes nicht leisten. Wir haben zwar vereinzelt direkte Kontakte zu schwulen Arbeitern, die uns ab und zu aufsuchen. Aber es gelingt uns noch nicht, die konkreten Bedingungen für ihre Integration in die Bewegung zu schaffen.
Welche anderen Gruppen unterstützen euch? Wo gibt es themenübergreifende Bündnisse?
S.K.: Im Grunde gibt es recht große gesellschaftliche Unterstützung für uns, das zeigt sich vor allem in der breiten Solidarität gegen Hassverbrechen, Diskriminierung und Polizeigewalt. Kurdische und Migrationsgruppen, Feministinnen, Menschenrechtsaktive, die Antikriegsbewegung, 1.-Mai-Zusammenschlüsse und andere mehr, die kommen auf unsere Demos. Wir unterstützen sie auch. Also ein bunter Strauß ...
Auch islamische Organisationen?
S.K.: Um Gottes willen [lacht]. Nee, die natürlich nicht. Das geht gar nicht.
C.H.: Linke Gruppen sind erstmal natürliche Bündnispartner für uns, dort gibt es jedenfalls die größte Neugier. Doch die meisten von ihnen setzen sich mit LGBT*-Themen nicht tiefer auseinander. Die gemeinsame Erfahrung als Unterdrückte vereint andere Gruppen mit uns, aber sobald du mal nachhakst: »Was, wenn die Tochter lesbisch wäre?«, oder wie sie zu Sexarbeit stehen, dann trennen sich die Welten. Auch von Gewerkschaftsseite tut sich nur wenig.
Was hat sich seit dem Machtantritt der AKP mit Blick auf LGBT*-Kämpfe verändert?
S.K.: Wir sind mehr geworden. Und mutiger. Jetzt fragen wir nicht mehr vorher, ob wir 'ne Demo veranstalten oder 'ne Aktion vor dem Gericht machen dürfen, um den diensthabenden Polizeichef öffentlich anzuklagen. Aber die Hassmorde an Trans* haben zugenommen, die Regierung verschärft das feindliche Klima noch: Wie kann jemand wie die ehemalige Familienministerin Aliye Kavaf behaupten, Homosexualität sei eine Krankheit, die man behandeln müsse?
Die neue Familienministerin der AKP, Fatma Sahin, bekundet indes, sie wolle sich für die Rechte von LBGT*s einsetzen ...
C.H.: Vordergründig schlägt Fatma Sahin einen anderen Ton an und bemüht sich um Kontakte zur Frauenbewegung. Aber das bleibt auf rein symbolischer Ebene. Eine Vertreterin der LGBT*-Organisation Pembe Hayat wurde zusammen mit Vertreterinnen hunderter anderer Frauenorganisationen zu einer Anhörung über den Gesetzesentwurf zur Prävention von Gewalt gegen Frauen eingeladen, ihre Forderungen aber nicht weiter berücksichtigt. Die Botschaft im nun verabschiedeten Gesetz ist klar: Es geht darum, die Institution der heterosexuellen Kleinfamilie zu stärken, nicht primär um Gewaltprävention. Nichtsdestotrotz: Die Aussage von Aliye Kavaf hat großen Protest in oppositionellen Kreisen hervorgerufen. So was kann heute nicht mehr unkommentiert gesagt werden.
S.K.: Gesagt werden kann vieles. (3) Aber stimmt: Jetzt ziehen sich die Politiker hinter Floskeln zurück. Vor der AKP waren Repression, Hass und Diskriminierung roh: Wir wurden regelmäßig von den Bullen zusammengeschlagen oder gefoltert. Jetzt hat die Gewalt subtilere Formen angenommen, über Diskurse in den Medien. Auch die Polizei behandelt uns nicht mehr so wie früher. Die trauen sich jetzt weniger, weil sie wissen, dass wir laut werden und uns juristisch wehren.
Keine Folter mehr auf den Polizeistationen?
S.K.: Doch, aber spürbar weniger als früher. Die fassen uns nicht mehr an. Ist jedenfalls unsere Erfahrung. Ich glaube, das liegt auch daran, dass mehr Religiöse bei der Polizei arbeiten als früher. Anfassen ist tabu, denn wir sind ja besonders schlimme Sünder.
C.H.: Mein Eindruck ist, die Gesellschaft wird insgesamt konservativer. Religion, traditionelle Werte und Moral spielen eine größere Rolle in den Fernsehprogrammen, gerade in den konservativen Kanälen. Du findest keine schwulen Charaktere in den TV-Serien. Wenn dann doch mal einer vorkommt, gibt es einen Aufschrei und er wird umgehend rausgenommen. Dabei sah man in besagter Szene einfach nur zwei Männer nebeneinander auf dem Bett. Mehr war nicht.
Was würdet ihr als euren größten Erfolg in den letzten Jahren bezeichnen?
S.K.: Den Trans*-Pride! Es waren so viele verschiedene Menschen dabei, ein riesiges Fest. Und im Alltag: Wir werden von der Polizei nicht mehr dauernd mit routinemäßigen Geldbußen wegen angeblicher Störung der öffentlichen Ordnung schikaniert. Das hat etwas nachgelassen, weil wir begonnen haben, uns zu wehren.
C.H.: Unsere neue Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit. Nach der verbalen Entgleisung von Aliye Kavaf [s.o.] gab es viele Anfragen an uns für TV-Diskussionen und Stellungnahmen. Wenn sie uns mit selbst ernannten Experten diskutieren lassen, deren Argumente auf der Linie von Kavaf sind, geht es auch darum, die Einschaltquoten zu erhöhen. Aber sie können unsere Position nicht länger übergehen. Auch bei einer Parlamentsdebatte um die neue Verfassung waren wir als LGBT* vor Ort, haben mit Abgeordneten gesprochen und die stellvertretenden Parteivorsitzenden von BDP, AKP und CHP getroffen. Auch wenn unsere Forderungen später wieder aus dem Katalog herausgenommen wurden: An der öffentlichen Präsenz von LGBT*s kommt man jetzt nicht mehr so leicht vorbei.
Anne Steckner promoviert zu Neoliberalismus in islamisch geprägten Ländern am Beispiel Türkei.
Anmerkungen:
1) Das Kürzel LGBT* steht für »Lesbian, Gay, Bi, Trans*«. Das Sternchen bei »T*« dient dabei als Platzhalter für beliebige Endungen. Trans* steht somit gleichzeitig für transsexuell, transgender, Transmann, Transfrau, usw.
2) Der Verein Sosyal Politikalar Cinsiyet Kimligi ve Cinsel Yönelim Çalismalari Dernegi (SPoD) betreibt Lobbyarbeit für soziale Rechte von LGBT*s.
3) Der Kolumnist Serdar Arseven beispielsweise schrieb 2008 in der islam-nationalistischen Zeitung Yeni Akit einen Artikel, in dem er Schwule und Lesben als Perverse bezeichnete. Ihm wurde daraufhin vom obersten Berufungsgericht eine Geldbuße von 2.000 Lira (ca. 1.000 Euro) auferlegt; die Zeitung musste 4.000 Lira Kompensation zahlen.