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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 571 / 20.4.2012

Bitte keine Ruhe bewahren

Krise & Demokratie Wirkliche Demokratie als Aufhebung der Trennung von Wirtschaft und Politik

Von Alex Demirovic

Aristoteles formulierte einen klaren Begriff von Demokratie, der auch für uns heute verbindlich ist. Demokratie herrsche dort, wo die Freigeborenen regierten; wo Freie und Unbemittelte in der Mehrheit seien, wo keineR, reich oder arm, einen Vorrang habe und kein Teil über den anderen regiere, sondern alle so gleichmäßig als möglich an der Regierung teilhaben. Der Philosoph war nicht für Demokratie, so wenig wie viele seiner NachfolgerInnen im Bereich der politischen Theorie, denn das hätte den Besitzenden, den Oligarchen, geschadet.

Auch die fortschrittlicheren DenkerInnen - wie der Politiker und Philosoph der Renaissance, Machiavelli, - sprachen sich lediglich für ein Mischverfassung aus. Er wollte den Konflikt zwischen den Reichen und dem Volk institutionalisieren, damit es diesem möglich wäre, seine Beschwerden vorzubringen, den Schaden, den die Reichen ihm zufügten, anzusprechen und auf Veränderung zu drängen. Dies, so hatte Machiavelli das frühe Bürgertum gelehrt, würde den Staat auf Jahrhunderte stabil halten, denn Unruhen und Revolutionen könnten so vermieden werden.

Formale Gleichheit und Zustimmung zu Herrschaft

Mit der Französischen Revolution gelang es dem modernen Bürgertum, gerade dieser Empfehlung zu folgen und die Revolution selbst zu institutionalisieren. Die Demokratie wurde in den Rahmen des politischen Staats eingepasst. Diese Verbindung von Staat und Demokratie wurde folgenreich für letztere. Zwar wurde von der demokratischen Republik gesprochen - und es war der heute so sehr missachtete Jakobiner Robespierre, der es als erster tat -, aber genauer wäre es, davon zu sprechen, dass das Volk mitbestimmt oder partizipiert. Denn zur Definition von Demokratie gehört eben seit Aristoteles, dass es weiterhin Reiche gibt, die die Herrschaft innehaben. Die Gleichheit kann nur im formalen Sinn vor dem Gesetz Geltung beanspruchen, die Entscheidungen reichen aber nicht an den Reichtum und die damit verbundene Macht heran. Damit aber ist von der Grundlage her die Demokratie einer Dynamik unterworfen, die sie notwendigerweise verzerren muss.

Das beginnt beim Begriff »BürgerIn«, der nicht nur lange die SklavInnen, die Lohnabhängigen, die Frauen und bis auf den heutigen Tag vielfach die MigrantInnen ausgrenzt. Es sind nicht die Menschen, die gemeinsam über ihr kollektives Schicksal entscheiden, sondern die Menschen nur, insofern sie anerkannte BürgerIn eines Staatsvolkes sind. In der Demokratie soll alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen, wie es im bundesdeutschen Grundgesetz heißt. Doch dieses Staatsvolk ist souverän nur in Gestalt von Wahlen, Legislative, Exekutive und Judikative. Anders gesagt: die Souveränität des Volkes findet nur in den schon etablierten Institutionen der politischen Repräsentation statt.

Nicht die Menschen entscheiden, allenfalls werden sie als Volk periodisch bei Wahlen angehört - ein Zustand der Sklaverei, wie Rousseau betonte. Die repräsentativen Institutionen sind - das wurde im 18. Jahrhundert schon von den amerikanischen Federalists als Herrschaftstechnik entwickelt - derart gegliedert, dass sie wechselseitig übereinander wachen und zu verhindern wissen, dass der Wille der Leute sich jemals durchsetzen könnte: repräsentative Abgeordnete und RegierungsvertreterInnen, ein Wahlsystem, dass kaum eine Regierungsmehrheit für eine Partei ermöglicht, parlamentarische Entscheidungen nur über allgemeine Gesetze und Geld, die Kontrolle der Gesetze durch die Länderkammer, durch das Bundesverfassungsgericht als Nebengesetzgeber, durch den Bundespräsidenten.

Im Parlament werden die Diskussionen und Mehrheitsentscheidungen zudem durch die Regierungsspitze, durch die Fraktionsspitze, durch LobbyistInnen und durch die Verwaltung kanalisiert.

Käme es doch einmal zu einem Gesetz, das den Reichen einen Teil ihres Reichtums wegzunehmen erklärte - progressive Steuern auf Vermögen, Kapitalerträge, Veräußerungen, Erbschaften -, würden die Steuern auch effizient von der Finanzverwaltung eingezogen, wäre mit Steuerflucht und Korruption sowie mit einem Trommelfeuer von Seiten der Verbände und mit öffentlichen Meinungsäußerungen zu rechnen, die die wirtschaftliche Irrationalität, die Gefährdung des Wirtschaftsstandorts und den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen beschwören würden. Dabei wäre das noch gar kein Eingriff in die Mechanismen der kapitalistischen Bereicherung selbst, also vor allem in den der Aneignung des lebendigen Arbeitsvermögens der Vielen durch Wenige. Gäbe es solche Gesetze, so wäre wahrscheinlich, dass die Verwaltung sie kaum oder nur stark modifiziert umsetzen würde.

Allgemeine Gesetze als Macht von oben

Gesetze entsprechen selten ihrem Wortsinn: für alle zu gelten, denn entweder sind sie zu Gunsten weniger oder zu Lasten vieler gemacht. Diese Regelwerke verkörpern vor allem die Macht von oben, auch wenn in sie Rechte für die Subalternen eingeschrieben sind. In den vergangenen Jahrzehnten jedenfalls haben Gesetzgeber und Regierungen in erheblichem Maße die Vermögensumverteilung in Deutschland durch eine Vielzahl von Gesetzen ratifiziert oder gesellschaftliche Prozesse, die dazu beitragen, einfach unbeachtet gelassen, so dass sich die Polarisierung von Arm und Reich stetig fortgesetzt oder sie sogar noch zugenommen hat.

Möglichkeiten der Gegenwehr wurden durch Gesetz oder Rechtsprechung ebenfalls stranguliert: Streikrecht, zunehmende Belastung durch Arbeit und Existenznöte, geringere Bildungsmöglichkeiten; die Öffentlichkeit ist eine Erziehungsstätte, die den BürgerInnen in endlosen Talkshowrunden, Abendnachrichten oder Kommentaren seit zwei Jahrzehnten den BürgerInnen einbläut, dass es anders nicht gehen kann: wir könnten uns das alles nicht mehr leisten. Dort, wo die BürgerInnen sich von Politik distanzieren, wird ihnen das häufig als Demokratieverdrossenheit angelastet oder - noch unverfrorener: als Zufriedenheit ausgelegt.

Proteste werden geflissentlich überhört oder die Protestierenden diskreditiert und mit Gewalt drangsaliert. Wer hätte je gehört, dass die Regierungen sich bei all denen entschuldigt hätten, die wegen der Beteiligung an Demonstrationen gegen Atomenergie oder gegen Nazigruppen von Politik und Medien öffentlich verleumdet, von der Polizei verletzt und von den Gerichten mit Prozessen überzogen worden sind?

Viele in den sozialen Bewegungen träumen von direkter Demokratie. Doch das ist ein Missverständnis. Direkte Demokratie bedeutet keine Aufhebung all der Schwächen, die mit Repräsentation verbunden sind. Es geht hier allein darum, Ja oder Nein zu fertigen Gesetzestexten sagen, vielleicht auch einmal ein Gesetz initiieren zu können. Aber das bleiben seltene Vorgänge, die enorme Anstrengungen kosten und kaum den Alltag von Entscheidungsprozessen berühren. Werden solche mit Mühe auf den Weg gebrachten Gesetzesvorschläge dann aufgrund der Kampagnen der Herrschenden und Reichen mit Mehrheit abgelehnt, ist es schwierig, das formulierte Anliegen aufrechtzuerhalten - zumal, wenn vollendete Tatsachen geschaffen werden können.

Demokratisierung aller Lebensbereiche

Wirkliche Demokratie heißt, Aristoteles hat das Stichwort gegeben, dass alle als freie BürgerInnen an den Beratungen über Entscheidungen teilnehmen und mitentscheiden. Das allgemeine Wahlrecht müsste in allen Lebensbereichen durchgesetzt, die Verantwortlichkeit der Mandats- und Verantwortungsträger wäre Prinzip. Dazu bedürfte es einer anderen Gliederung des sozialen Raums, denn heute leben wir nicht in Stadtstaaten, nicht einmal mehr nur in Nationalstaaten, auf die Entscheidungen ohnehin niemals zu beschränken waren, weil immer auch Menschen jenseits der Grenzen betroffen waren. Entscheidungen müssen heute auch makroregional oder global abgestimmt und getroffen werden.

Demokratiemodelle, die sich auf Begriffe wie Staat, Repräsentation oder Volk stützen, funktionieren längst nicht mehr. Die Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse wären subsidiär von unten nach oben zu organisieren. Oben - das wäre nicht das hierarchisch übergeordnete Gremium, das im Namen des Allgemeinen handelt, sondern ein verstetigtes Treffen, auf dem nach von unten formuliertem Bedarf die lokalen oder regionalen Entscheidungen koordiniert werden. Alle BürgerInnen würden je nach Bedarf über lokale, regionale oder globale Themen entscheiden: über Verwaltung, Rechtsprechung, Produktion, Energieversorgung, Mobilität, über Produktgestaltung, Investitionen und Zukunftsentscheidungen, über Kindererziehung oder wissenschaftliche Forschung.

Die Unterscheidung von Wirtschaft als Privatsphäre und Politik als Sphäre des Allgemeininteresses, in der die Interessen der Einzelnen im Konflikt zur Repräsentation gebracht werden müssten, hätte keine Bedeutung mehr. Die gesellschaftliche Arbeit in ihrer Gesamtheit (Güterherstellung, Fürsorge für andere und Eigenarbeit, wissenschaftliche und kreative Aktivitäten) und die arbeitsteilige Kooperation, die gemeinsame Produktion des gemeinsamen Zusammenlebens - das wäre das wirkliche Gemeinwesen der freien Individuen.

Alex Demirovic ist Sozialwissenschaftler und schrieb in ak 570 mit Thomas Sablowski über die Krise des Krisenmanagements.