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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 571 / 20.4.2012

Demokratie ohne Alternativen

Krise & Demokratie Europäische Regierungen organisieren Kreditwürdigkeit auf den Finanzmärkten durch mehr Armut und weniger Wahlfreiheit

Von Nick Sinakusch

»Demokratie«, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), ist »die beste Herrschaftsform.« Denn: »Nur die Demokratie bietet den Menschen die Chance, sich umfassend an Willensbildung und Entscheidungsfindung zu beteiligen (...) Nur der Wille der Bürgerinnen und Bürger, artikuliert in Wahlen und Abstimmungen, begründet und legitimiert die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen.« (1)

Die Demokratie hat laut herrschender Theorie also zwei Vorteile: Erstens beteiligt sich die Bevölkerung an der Entscheidungsfindung. Zweitens führt dies zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen. Die herrschenden politischen PraktikerInnen in Europa stellen derzeit jedoch klar: Den ersten Punkt sehen sie als Problem. Auf den zweiten sind sie dafür umso schärfer. Dies liegt an der Krise. Der Zweifel an der Kreditwürdigkeit einiger Staaten Europas - die sogenannte Eurokrise - hat sich derzeit zwar beruhigt. Doch aus Sicht der AnlegerInnen lauern derzeit drei Gefahren: »Die Wahlen in Frankreich und Griechenland wie auch die Volksbefragung in Irland können Sorgen bei den Investoren, Unternehmen und Konsumenten auslösen.« (2)

Das größte Risiko für Europas Kreditwürdigkeit scheint derzeit vom Volke auszugehen. Bei den anstehenden Wahlen könnte es sich gegen die Politik stellen, die Regierungen und FinanzanlegerInnen als alternativlosen Weg zur Finanzstabilität sehen.

Sparprogramme gegen Bürgerwillen immun machen

Diese Sorge ist berechtigt. Denn die eingespielten demokratischen Verfahren der Legitimation von Politik werden derzeit auf eine harte Probe gestellt. Schließlich ist das zentrale Ziel der Eurostaaten, ihre Kreditwürdigkeit wieder herzustellen, um sich zu niedrigen Zinsen verschulden zu können. Es gilt daher, das »Vertrauen« der Finanzmärkte zu erlangen - also das Vertrauen der AnlegerInnen darin, dass ein Staat alles tut, um ihre Rendite und ihr Vermögen zu sichern.

Es geht also um Glaubwürdigkeit der Politik. Und die Demonstrationen der Glaubwürdigkeit fallen umso überzeugender aus, je härter eine Regierung mit Sparprogrammen gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. Je größer die abverlangten Opfer, umso überzeugender wirkt der Wille einer Regierung, alles den Bedürfnissen der Finanzmärkte unterzuordnen. Die Politik beweist ihre Liebe zu den Märkten, indem sie leiden - lässt. Dabei wächst die Unzufriedenheit der Betroffenen, die gleichzeitig in Wahlen über diese Politik abstimmen soll. Um Europas Spar- und Reformprogramme immun gegen den Willen der BürgerInnen zu machen, geht die Politik derzeit vier Wege.

1 Wahlen nicht zulassen. So zum Beispiel Griechenland. Im vergangenen November kündigte Ministerpräsident Giorgos Papandreou an, die Bevölkerung über die anstehenden Sparmaßnahmen abstimmen zu lassen. Prompt stand die Finanzwelt Kopf. Es wurde befürchtet, die GriechInnen würden gegen das Programm stimmen. Damit erhielte das Land keine internationalen Kredite mehr, es drohte eine Pleite, die die Eurokrise neu entflammen könnte. »Unabsehbar sind die Ansteckungseffekte in Richtung Portugal, Spanien und Italien«, warnte VSP Financial Services. Und das Boulevardblatt Bild (1.11.2011) wetterte: »Der Euro-Alptraum geht weiter und wieder sind die Griechen schuld!« (3)

»Kann die Volksabstimmung noch verhindert werden?«, fragte bang die Commerzbank. (4) Sie konnte. Die EU stoppte die Auszahlung aller Hilfskredite, und Bundeskanzlerin Angela Merkel drohte unmissverständlich: »Die Abstimmung wird um die Frage gehen: Will Griechenland im Euro bleiben - ja oder nein?«. Sprich: Lehnt die Bevölkerung die Sparprograme ab, fliegt Griechenland aus der Eurozone.

Neutralisierung von Wahlen über Vorabfestlegungen

Dieses Risiko wollten die griechischen Regierenden nicht eingehen. Das Referendum scheiterte am innenpolitischen Widerstand. Papandreou musste gehen. Statt seiner wurde der Ex-Vizechef der Europäischen Zentralbank, Lucas Papademos, als Regierungschef installiert - ein »Technokrat«, dessen Macht nicht von der Zustimmung der WählerInnen abhängt, was ihm große Freiheiten bei der Verarmung der Menschen in Griechenland beschert. (5)

2 Die anstehenden Wahlen in Griechenland allerdings lassen sich nicht mehr vermeiden. Daher kommt hier die zweite Variante zur Entschärfung des Wählerwillens Geltung: die Neutralisierung des Wahlergebnisses über die Vorabfestlegung auf eine bestimmte Politik. Um die Hilfskredite zu erhalten, mussten sich die voraussichtlichen WahlsiegerInnen - die Parteien Pasok und Nea Demokratia - schriftlich dazu verpflichten, die auferlegten Spar- und Reformprogramme bedingungslos durchzuziehen. So soll gewährleistet werden, dass die GriechInnen auf jeden Fall eine Regierung wählen, die sich dem Willen der EU beugt. (6)

Eine derartige parteiübergreifende Verpflichtung auf eine bestimmte Politik wurde Irland nicht explizit abverlangt. Hier soll Ende Mai über den Fiskalpakt abgestimmt werden, ein Dauersparprogramm, auf das insbesondere die deutsche Politik den Euroraum festgelegt sehen will.

3 Damit die IrInnen auftragsgemäß dem Pakt zustimmen, kommt Variante Drei zum Einsatz: Drohung. Irland braucht noch Hilfskredite des Eurorettungsschirms ESM. Der Vertrag zum ESM legt jedoch fest: Nur Länder, die dem Fiskalpakt zustimmen, haben Zugang zu ESM-Geldern. Das bedeutet: Scheitert das Referendum, steht Irland vor der Pleite. »Somit hat Irland viel zu verlieren, wenn es mit Nein stimmt«, so die Commerzbank. (7) Das sollte die WählerInnen überzeugen.

Derartiger Druck kann auf Frankreich nicht ausgeübt werden. Denn Frankreich ist nicht abhängig von Hilfskrediten, sondern vergibt vielmehr Kredite in Europa. Auch hier stehen Wahlen an: So wird Ende April bzw. Anfang Mai einE neueR französischeR PräsidentIn gewählt. Amtsinhaber Nicolas Sarkozy hat bereits angekündigt, die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Unternehmen zu steigern, indem der Kündigungsschutz geschwächt, die Mehrwertsteuer erhöht und Tarifverträge aufgeweicht werden, kurz: indem die FranzosInnen ärmer gemacht werden.

Freiwillige Zustimmung zur eigenen Verarmung

Der voraussichtliche Wahlsieger Francois Hollande wiederum hat derartiges zwar (noch) nicht im Angebot. Seinen Ankündigungen zufolge will er die Reichensteuer erhöhen und den Fiskalpakt neu verhandeln - was die deutsche Bundesregierung ablehnt. Sein Wahlsieg dürfte aber dennoch keine »Gefahr für den Euro« darstellen. Schließlich ist Hollande »im Gegensatz zu Sarkozy der klassische Vertreter der politischen Oberschicht in Frankreich. Ein Politikwechsel ist ihm nicht zuzutrauen.« (8)

4 Mit der Kandidatin der extremen Rechten von Front National, Marine Le Pen, und Jean-Luc Mélenchon (Front Gauche) treten allerdings auch GegnerInnen der deutsch-französischen Europapolitik an. Da die Präsidentschaftswahl nicht zu verhindern ist und die zur Wahl stehenden Politiker formal frei in ihrer künftigen Politik sind, kommt eine vierte Variante zur Anwendung, mit der der Wählerwille auf die Sparpolitik festgelegt werden soll: Propaganda. Die angekündigten oder zu erwartenden Maßnahmen zur Verarmung der Bevölkerung werden als alternativlos dargestellt. Ohne Reformen drohen »griechische oder spanische Verhältnisse«, agitiert Sarkozy. Abstimmung hin oder her, so die Botschaft, letztlich hat der künftige Präsident sowieso »keine Wahl«, so Gérard Grunberg, Ex-Chef der Denkfabrik CNRS in Paris.

Die Rede von der »Alternativlosigkeit«, der internationale Druck insbesondere auf die griechische Regierung und die Machtübernahme »technokratischer«, also nicht gewählter Regierungen haben zu einer allgemeinen Klage über Entdemokratisierung geführt. Dieser Vorwurf scheint zu harmlos. Schließlich demonstriert die Politik derzeit in Europa, wie das mit der »Volksherrschaft« eigentlich gemeint ist.

Die Sparprogramme sollen möglichst nicht gegen die Bevölkerung mit Gewalt durchgesetzt werden - etwa indem Demonstrationen zusammengeknüppelt oder Wahlen verhindert werden. Wahlen sollen schon sein. Aber nicht als Auswahl zwischen verschiedenen Politikalternativen, sondern als Zustimmung zu einer Politik, die als alternativlos propagiert wird. (9) Ziel ist es, der Bevölkerung die freiwillige Zustimmung zu ihrer Verarmung abzuringen. So können die WählerInnen sich ihren Schaden als eigenen Beschluss zurechtlegen. Protest wiederum kann mit dem Verweis auf das Wahlergebnis zum Schweigen gebracht werden. Gewahrt bleibt auf diese Weise der von den Märkten geforderte soziale Friede, der durch das soziale Abbruchprogramm permanent gefährdet wird.

»Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten«, lautet ein alter Spruch. Die Politik in Europa demonstriert derzeit, wie Wahlen so gestaltet werden, damit sich nichts ändert.

Nick Sinakusch schrieb in ak 569 über die Finanztransaktionssteuer.

Anmerkungen:

1) Hans Vorländer: Demokratie - die beste Herrschaftsform. In: Informationen zur politischen Bildung, Heft 284. Siehe www.bpb.de/izpb

2) Morgan Stanley: Europe Economics (29.3. 2012).

3) Die Bild forderte gleichzeitig eine Volksabstimmung in Deutschland zur Frage »Wollt ihr noch mal deutsches Steuergeld nach Athen pumpen?« Da zu jener Zeit laut einer Umfrage von Emnid 62 Prozent der Deutschen gegen die Griechenlandkredite waren, erhielt auch hier zu Lande die Bevölkerung keine Gelegenheit, mit ihrer Wahl die Krisenpolitik zu stören.

4) Commerzbank, Economics aktuell (1.11.2011).

5) Die gleiche Freiheit hat der italienische Regierungschef Mario Monti, dessen »Expertenregierung« durch einen überparteilichen Konsens getragen wird.

6) Ob dies funktioniert, ist offen. Denn die linken Oppositionsparteien verzeichnen in Umfragen große Zugewinne. »Griechenlandwahlen gefährden Rettungsplan«, titelt daher die Finanzagentur Bloomberg (28.3. 2012).

7) Commerzbank FX Hotspot (29.2.2012).

8) Dekabank Volkswirtschaft Spezial (1/2012)

9) Wahlen ohne Alternative, auf diese Weise wurde übrigens auch im Ostblock versucht, die Zustimmung der Bevölkerung zu organisieren.