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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 572 / 18.5.2012

Aufgeblättert

Renegaten

Über den albernen Titel - »Die Achse der Abtrünnigen« - ließe sich noch hinwegsehen. Ärgerlich ist die Unterzeile »Über den Bruch mit der Linken«. Denn zu den 15 »Abtrünnigen«, die der taz-Redakteur Marco Carini in seinem neuen Buch vorstellt, zählt er allen Ernstes auch Linke wie Gerhard Zwerenz, Robert Havemann, Ernst Bloch und Stefan Heym. Ihnen den »Bruch mit der Linken« zu unterstellen, grenzt an Rufmord - Renegaten und Verräter waren sie allenfalls aus der Sicht derjenigen, die sie zu kritisieren gewagt hatten: die Kader des autoritären Staatssozialismus in der DDR. Während Herbert Wehner, der vielleicht prominenteste deutsche Renegat, fehlt, würdigt Carini neben dem unvermeidlichen Henryk M. Broder auch zwei jüngere Wichtigtuer: den Philosophen Richard David Precht und den Spiegel-Autor Jan Fleischhauer. Letzterer ist ein Jugendfreund Carinis, der heute aus der Abrechnung mit seinem sozialdemokratischen Elternhaus und einigen linken Lehrern ein Geschäft macht. Er lehnt das ab, was Carini, arg willkürlich, als »aktuellen Kern linker Weltanschauung« definiert: den »Anspruch auf Verteilungsgerechtigkeit und ... auf eine unbedingte Chancengleichheit für alle Individuen«. Im zweiten Teil wird das Buch besser. Hier geht es um deutsche Debatten - u.a. über 1968, die DDR, Interventionskriege, den Islam, Sarrazin - und den Part, den Ex-Linke wie Broder, Götz Aly, Wolf Biermann oder Ralph Giordano dabei spielen.

Jens Renner

Marco Carini: Die Achse der Abtrünnigen. Über den Bruch mit der Linken. Rotbuch, Berlin 2012. 286 Seiten, 14,95 EUR.

Widerstand auf Jersey

»Für sie ist der Krieg zu Ende« - schwarze Holzkreuze mit dieser Inschrift schmücken die Gräber gerade verstorbener Soldaten. Flugblätter rufen zur Fahnenflucht auf, signiert sind sie mit »Der Soldat ohne Namen«. Die Kanalinsel Jersey wird 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Die Urheberinnen der subversiven Aktionen sind Suzanne Malherbe und Lucy Schwob, geboren 1892 bzw. 1894. Die Stiefschwestern sind Gefährtinnen und zeitlebens ein Paar. Bekannt sind sie als Claude Cahun und Marcel Moore, Künstlerinnen der französischen Avantgarde. In den 1990er Jahren wurden sie wieder entdeckt und ihr Werk, das sich u.a. mit Geschlechtszuweisung und Identität auseinandersetzt, gewürdigt. 1937 verlassen die beiden Paris, um auf Jersey zu leben. Gegen die deutsche Besatzung wehren sie sich mit den ihnen eigenen Mitteln: Fotomontagen, Texten, Flugblättern. Im Juli 1944 werden sie denunziert und landen im Gefängnis der Insel. Dort werden beide voneinander getrennt inhaftiert und leiden wie ihre Mitgefangenen an Hunger, Kälte, Terror, erfahren aber auch Solidarität. Für ihre Taten werden sie zum Tode verurteilt, kurz vor Ende des Krieges begnadigt und schließlich befreit. Den Rest ihres Lebens verbringen sie auf Jersey. Katharina Geiser nähert sich mit den Mitteln des Romans feinfühlig der Lebensrealität der beiden außergewöhnlichen Frauen. Zudem lenkt sie den Blick auf ein kaum bekanntes Kapitel der NS-Besatzungspolitik.

Raphaela Kula

Katharina Geiser: Diese Gezeiten. Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien, 2011. 362 Seiten, 24 EUR.

Riot oder Crime?

6. August 2011 im Londoner Stadtteil Tottenham: Die Polizei hat zwei Tage zuvor den 29-jährigen Mark Duggan bei einer Autokontrolle erschossen. Nun versammeln sich mehrere Hundert Menschen vor einer Polizeiwache, um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Die Demonstration eskaliert, es folgen Aufstände in mehreren Städten - die größten in England seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Autor beleuchtet nicht nur die Chronologie der Ereignisse und die »Operation Fightback«. Er nimmt auch die Hintergründe der Riots unter die Lupe, etwa die rassistischen Polizeikontrollen. Den Aufständen spricht er sehr wohl einen politischen Charakter zu. Damit wendet er sich gegen den Premierminister David Cameron, große Medien, PolitikerInnen und auch einzelne Linke, die in den Plünderungen und Brandanschlägen ohne (verbalisierte) Forderungen schlicht das Werk von Kriminellen sehen. Altenried konstatiert hingegen eine Krise der Repräsentation. Den Aufständischen sei es gelungen, ihren alltäglich erlebten Ausnahmezustand zumindest an einigen Orten umzudrehen und zum Ausnahmezustand des Staates werden zu lassen. Die vollständige Verweigerung klassischer politischer Kommunikation sei einerseits Teil einer Radikalität, aber auch einer Schwäche, da keine emanzipatorische Perspektive entwickelt worden sei. Das Büchlein enthält differenzierte Urteile und Gedanken, die zu weiteren Diskussionen anregen und über England hinausweisen.

Anke Schwarzer

Moritz Altenried: Aufstände, Rassismus und die Krise des Kapitalismus - England im Ausnahmezustand. Edition Assemblage, Münster 2012. 96 Seiten, 9,80 EUR.

Arbeiterwiderstand

In der DDR heroisiert, in der alten BRD totgeschwiegen - so ließe sich der Umgang mit dem proletarischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den deutschen Erinnerungskulturen auf den Punkt bringen. Auch nach dem Ende des Systemkonflikts gibt es nur Ansätze zu einer angemessenen Würdigung der ArbeiterInnen, die sich der braunen Diktatur widersetzten. Ein von Hans Coppi und Stefan Heinz herausgegebener Sammelband über den »vergessenen Widerstand der Arbeiter« zeigt dessen politische Breite: Dazu gehörten neben AktivistInnen aus den Gewerkschaften, Kadern von KPD und SPD auch »Trotzkisten, Anarchisten und oppositionelle Kommunisten« (Kapitel 3). Zu den etwa 500 Mitgliedern der von Berliner KommunistInnen initiierten Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisation der Jahre 1942 bis 1945 gehörten auch 220 Parteilose und 30 SozialdemokratInnen; etwa ein Viertel waren Frauen. Allen AutorInnen ist bewusst, dass nur eine kleine Minderheit den lebensgefährlichen Kampf führte. Zu Recht verstehen sie Widerstand in einem weiteren Sinne als »jegliche Handlungen und Äußerungen, die darauf ausgerichtet waren, das NS-System zu schwächen oder die Resistenzkraft gegen den sozialen und politischen Anpassungsdruck zu stärken.« (Marion Goers) Ein Kapitel ist »Zwangsarbeitern und in Deutschland lebenden Polen« gewidmet, das Schlusskapitel behandelt »Defizite und Perspektiven« der öffentlichen Rezeption des Arbeiterwiderstandes.

Daniel Ernst

Hans Coppi und Stefan Heinz: Der vergessene Widerstand der Arbeiter. Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter. Dietz Verlag, Berlin 2012. 383 Seiten, 29,90 EUR.