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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 572 / 18.5.2012

Zeitgenössische Empörungsprosa

Diskussion Agitationsschriften zur Krise überschwemmen den Buchmarkt. Über ihren Gebrauchswert lässt sich streiten

Von Jens Renner

Die Wirtschafts- und Finanzkrise der vergangenen Jahre hat unzählige Bücher hervorgebracht. Ein spezielles Genre bilden dabei die Streit- oder Flugschriften: kurze bis sehr kurze Werke engagierter AutorInnen, die die Welt nicht nur interpretieren, sondern vor allem verändern wollen. Das erste und international erfolgreichste dieser Büchlein ist Stéphane Hessels Streitschrift »Empört euch!«, die im französischen Original (»Indignez-vous!«) im Herbst 2010 erschien. Innerhalb weniger Monate wurden davon mehr als eine Million Exemplare verkauft.

Stéphane Hessel

Hessel, 1917 in Berlin geboren und seit 1937 französischer Staatsbürger, kämpfte als Anhänger de Gaulles in der Résistance. Von der Gestapo verhaftet, überlebte er das KZ Buchenwald. Nach dem Krieg wurde er Mitglied der UN-Menschenrechtskommission, später Frankreichs Vertreter bei der UNO; 1995 trat er in die Sozialistische Partei ein. In seiner Streitschrift fordert Hessel eine Rückbesinnung auf die Werte der Résistance, vor allem das in ihrem Programm niedergelegte »System der sozialen Sicherheit«. Das klingt ein bisschen weltfremd, aber auch sympathisch - vor allem im Kontrast zum Sachzwangjargon von Bankern und PolitikerInnen .

Auf deren vermeintlich »alternativlose« Entscheidungen zu Lasten der Armen antwortet der zornige alte Mann mit Empörung. Das ist sein Schlüsselwort. Der Aufstand gegen die empörenden Zustände aber müsse gewaltlos und friedfertig sein. Im Predigerton wendet er sich an die Jugend: »Den jungen Menschen sage ich: Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt - die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma. Ihr werdet auf konkrete Situationen stoßen, die euch veranlassen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Suchet, und ihr werdet finden.« Als wenn das das Problem wäre.

Heribert Prantl

Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, nennt seine Streitschrift »Wir sind viele« eine »Anklage gegen den Finanzkapitalismus«. Ihre Kapitelüberschriften sind biblischen Ursprungs: »Legion ist ihr Name, denn ihrer sind viele« und »Gott liebt die Zornigen«.

Prantl sieht als Folge der Krise des globalen Kapitalismus die Gefahr einer »globalen Krise der Demokratie« - aber gibt es überhaupt noch Demokratie, wenn die Börsen die »fünfte Macht im Staat« geworden sind? Der Ausspruch des Deutsche-Bank-Managers Rolf Breuer, den er zitiert, zeigt ein sehr spezielles Demokratieverständnis: »Die autonomen Entscheidungen, die Hunderttausende von Anlegern auf den Finanzmärkten treffen, werden im Gegensatz zu den Wahlentscheidungen nicht alle vier oder fünf Jahre, sondern täglich gefällt.«

Was lässt sich der Macht der Finanzmärkte entgegensetzen? Prantl fordert erstens andere PolitikerInnen, die Fachleute sind - »zuvorderst aber Fachleute für Verantwortung«; zweitens eine »Läuterung«, ja »Lebensdienlichkeit der Wirtschaft«; drittens ein anderes Verständnis von Stärke: »Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.« Diesen Satz aus der Präambel der Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft enthalte »eine zukunftsweisende Devise«, findet Prantl. Ist die Schweiz nicht ein Zentrum jenes Finanzkapitalismus, den er unter Anklage stellt? Gute Worte allein, auch wenn sie in der Verfassung stehen, reichen also nicht aus: »Vielleicht bräuchten viele Finanz-Analysten den Besuch eines guten Exorzisten, einen Ungeist-Austreiber, einen, der sie heilt«. Daher könne man »die Occupy-Bewegung als Exorzismus im erweiterten Sinn verstehen«.

Exorzismus und Appelle - die Hoffnung, dass so die Wende zum Guten kommt, erfordert schon allerhand Gottvertrauen. Davon hat Prantl reichlich: Denn »Gott ist Dialektiker« - »die Sanftmut braucht den Zorn, damit sie nicht zur Harmlosigkeit verkommt«; mit anderen Worten: »Gott liebt die Zornigen« - und er erscheint auch in unerwarteter Verkleidung, etwa als »ein zorniger alter Mann, wie ihn der Kabarettist Georg Schramm zeigt, wenn er den Rentner Dombrowski mimt.« Soll man das ernst nehmen?

Michael Jäger/Thomas Seibert

Michael Jäger, Redakteur der Berliner Wochenzeitung Freitag, und Thomas Seibert, ak-Autor und Aktivist in Frankfurt, berufen sich in ihrer Flugschrift sowohl auf Prantl als auch auf Hessel. Von letzterem zitieren sie einen Satz, dem sie sich ausdrücklich anschließen: »Sartre lehrte uns, dass wir selbst, allein und absolut, für die Welt verantwortlich sind - eine fast schon anarchistische Botschaft.« Sie richtet sich, bei Jäger und Seibert, an alle, vor allem aber an die AktivistInnen, und unter diesen an diejenigen, »die von sich sagen, sie seien militant«. Die Autoren stellen hohe Ansprüche: Radikale sind für sie »Menschen, die sich mit dem Ganzen ihrer Existenz einer Wahrheit verpflichtet haben, sind Leute, die sich mit ihren Wahrheiten als freie Subjekte erschaffen.«

Ein abgehobenes Avantgarde-Unternehmen muss daraus nicht entstehen - siehe Occupy. Denn diese Bewegung »sagt mit einigem Recht Wir sind die 99 Prozent. Genauer wäre es zu sagen, sie repräsentiert die 99 Prozent, oder jedenfalls einen großen Teil der Gesellschaft.« Dass die allermeisten der 99 Prozent passiv bleiben, ist kein Problem - zumindest nicht für die Radikalen. Denn diese »erkennen die anderen an - selbst dort noch, wo sie sich von ihnen unterscheiden oder sich, im Grenzfall, gegen sie wenden.« Ein bisschen viel an produktiver Dialektik, könnte man meinen. Aber vielleicht fehlt dem Rezensenten nur die Fantasie der beiden Autoren. Die können sich »inzwischen Regierungen vorstellen, die von einer dauerhaften Bewegung nicht nur fallweise angegriffen, sondern auch grundsätzlich gestützt werden.«

Ist es Selbsttäuschung oder der von Gramsci geforderte »Optimismus des Willens«, was Jäger und Seibert zu einigen fragwürdigen Einschätzungen verleitet? Etwa von Bewegungen wie Occupy: Deren »Suche bewegt sich in eine gute Richtung. Der Weg wird beschritten, mehr kann man nicht wollen«; oder der Revolte von 1968, die sie »wiederholen« und vollenden wollen. Geradezu euphorisch feiern sie auch das in diversen Metropolen praktizierte Mittel der Besetzung zentraler Plätze. »In der bloßen Tatsache der Camps« seien »mögliche Auswege aus der aktuellen gesellschaftlichen Krise bereits impliziert«; die »Subjekte in den Camps« würden mit ihren Aktionen »das Repräsentationsverhältnis aufheben« usw. Dass Jäger und Seibert mehr Pathos als Analyse bieten, mag mit ihrer Einschätzung zu tun haben, dass wir eine für historische Veränderungen einmalig günstige Situation erleben, die aber zugleich auch Gefahren in sich birgt: »Einem wieder möglichen faschistischen Versuch, sich auf nihilistische Stimmungen zu stützen, kommen wir zuvor.«

Wer die Autoren kennt, wird nicht überrascht sein, dass sie sich in ihrem Text immer wieder auf »neue Philosophie« berufen. Einen Eindruck vermittelt die Literaturliste, die Jäger und Seibert als »Werkzeugkiste für Aktivist_innen« bezeichnen. Das ist originell, aber nicht praktikabel: Angefüllt mit etwa 100 Büchern, lässt sich diese »Kiste« kaum anheben; ihr Inhalt ist aber nicht nur schwer, sondern auch von mäßigem Gebrauchswert: siehe etwa die sechs aufgeführten Werke von Hegel, Heidegger und Nietzsche. Über deren Nutzanwendung auf den Straßen und Plätzen sind die Autoren ihrem Publikum noch Aufklärung schuldig.

Jutta Ditfurth

Die ex-grüne Publizistin Jutta Ditfurth, in diversen Talkshows für den linksradikalen Part zuständig, verzichtet in ihrer Flugschrift »Worum es geht« nicht nur fast völlig auf die Philosophen - bei ihr beschränken sich die Leseempfehlungen auf die eigenen Bücher. Ihre Analyse der Krise besteht vorrangig aus zeitlosen Wahrheiten, die sie in möglichst starke Worte fasst: über den »terroristischen Normalzustand« des Kapitalismus, eine »schwerkranke« Gesellschaft, die »Kollaboration der Gewerkschaftsführungen mit dem Staat«, die »sozialen Verbrechen« von Rotgrün - zusammenfassende Diagnose: »Es herrscht Krieg zwischen Eliten und Masse ... Dieser Krieg heißt Kapitalismus.«

Befremdlich wird Ditfurths Hang zum Traditionellen, wenn sie den Staat schlicht als »Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse (sic!) verwaltet«, definiert - der Abschreibfehler (im Kommunistischen Manifest heiß es richtig: Bourgeoisklasse) wäre noch entschuldbar, ihr Staatsverständnis auf dem Stand von 1848 ist es nicht. Unklar bleibt, woher sie ihr vermeintliches Wissen über das Bewusstsein »der Menschen« hat: »Sie nehmen ihr Ausgebeutetwerden nicht wahr.« Richtiger ist wohl, dass viele Menschen ihre Lage durchaus wahrnehmen, aber keine Alternative sehen.

Solche Fehler haben Auswirkungen auf das, was sie im Schlusskapitel »Was tun« als Gegenstrategie vorschlägt: »In falschen Bündnissen werden wir nicht mehr, nur falsch ..« Das geht gegen bürgerliche Kritiker des »Finanzkapitalismus« wie Hessel und Prantl, aber auch gegen Occupy. Statt hier die Auseinandersetzung zu suchen - etwa über den in der Tat »törichten Slogan« (Ditfurth) von den 99 Prozent - empfiehlt die Autorin den AktivistInnen einen eher selbstbezogenen »Dreiklang« aus Theorie (sie nennt Luxemburg, Marcuse und Krahl), Aktion und Organisation (keine Partei, aber auch kein unverbindliches »Netzwerkeln«). Am Ende steht ein Marcuse-Zitat, demzufolge »die gesellschaftlichen Träger der Umwälzung ... sich erst im Prozess der Umwälzung« formieren. Auch das wussten wir schon.

-> Stéphane Hessel: Empört euch! Ullstein, Berlin 2011. 30 Seiten, 3,99 EUR.

-> Heribert Prantl: Wir sind viele. Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus. Süddeutsche Zeitung Edition, München 2012. 48 Seiten, 4,90 EUR.

-> Michael Jäger und Thomas Seibert: Alle zusammen. Jede für sich. Die Demokratie der Plätze. Eine Flugschrift. VSA-Verlag, Hamburg 2012. 70 Seiten, 8 EUR.

-> Jutta Ditfurth: Worum es geht. Flugschrift. Rotbuch, Berlin. 48 Seiten. 3,99 EUR.