Menschenwürde statt Profitmaximierung
Gender Zur sozialen Reproduktion in der Krise und einer Care Revolution als Perspektive
Von Gabriele Winker
Menschen sind in den hegemonialen Krisendebatten weitgehend entsorgt. Es geht um Banken, denen es schlecht geht, um Märkte, die nervös reagieren, oder um misswirtschaftende Schuldenstaaten, die den Euro infizieren. Nur für kurze Momente kommen einzelne Menschen ins mediale Bild: Neulich eine alleinerziehende Frau in Griechenland, die voll berufstätig 20 Euro am Tag verdient, ihre zwei Kinder davon nicht ernähren kann, sie in ein Kinderdorf geben musste und sie dort wegen der großen Entfernung nur alle fünf Wochen besuchen kann. Unter Tränen bedankt sie sich beim Kinderdorf, auch wenn ihr die Trennung von ihren Kindern das Herz bricht, aber sie hat keine Alternative. Hier zeigen sich die Auswirkungen der Krise in aller Deutlichkeit: Das kapitalistische System kann auch in Europa grundlegende menschliche Lebensbedürfnisse der Selbstsorge wie der Sorge für Andere nicht mehr gewährleisten.
Und selbst in der Bundesrepublik Deutschland, deren Wirtschaft zu den KrisengewinnerInnenn gehört, breiten sich menschenunwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen weiter aus. Bei prekärer und entgrenzter Lohnarbeit fehlen vielen Menschen die finanziellen und/oder zeitlichen Ressourcen für die existenziell wichtige Sorgearbeit. Gleichzeitig wird die soziale Absicherung sukzessive abgebaut, staatliche Aufwendungen in den Bereichen der Erziehung und Bildung, Gesundheit und Pflege werden reduziert. So leiden insbesondere diejenigen Menschen, die Sorgeverpflichtungen für Kinder und unterstützungsbedürftige Erwachsene übernommen haben, tagtäglich unter Existenzsorgen und Zeitdruck. Ich spreche deswegen von einer Krise sozialer Reproduktion und verstehe darunter den zugespitzten Widerspruch zwischen Profitmaximierung einerseits und Reproduktion der Arbeitskraft andererseits.
Und wer macht die Sorgearbeit?
Um diese soziale Reproduktionskrise zu verstehen, gilt es, die gesellschaftlich abgewertete Reproduktionsarbeit zu analysieren, die im hegemonialen Diskurs als typische Frauenarbeit oft unsichtbar bleibt. Diese zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeit wird nicht warenförmig, sondern am Gebrauchswert orientiert, in familiären und zivilgesellschaftlichen Bereichen realisiert. Sie war im fordistischen System, in der BRD deutlich sichtbar in den 1950er und 1960er Jahren, fast vollständig Aufgabe von (Ehe-)Frauen. Diese wurden im Gegenzug bis in große Teile der Arbeiterschaft hinein vom männlichen Familienernährer alimentiert.
Dieses Reproduktionsmodell wurde nicht nur von der Zweiten Frauenbewegung wegen patriarchaler Unterdrückung und Diskriminierung bekämpft, sondern verliert seit den 1980er Jahren auch aufgrund seiner hohen ökonomischen Kosten an Bedeutung: Der Familienlohn wurde für die Kapitalverwertung in Zeiten der Globalisierung der Kapitalmärkte zu teuer, zumal mit ihm - aus heutiger Sicht - eine hohe soziale Absicherung aller Familienmitglieder einherging. Schon Karl Marx verweist im Kapital darauf, dass der Wert der Arbeitskraft sinkt, wenn möglichst viele Familienmitglieder der Lohnarbeit unterworfen werden. Folgerichtig haben wir es im neoliberalen System mit der klaren gesellschaftspolitischen Zielvorgabe zu tun, dass sich jede erwachsene Person eigenständig um die eigene Existenzsicherung zu kümmern, sprich ihre Arbeitskraft zu verkaufen hat. Offen bleibt dabei allerdings, wer dann die Reproduktionsarbeit übernehmen soll, die bei der letzten statistischen Messung im Jahre 2001 in der BRD um das 1,7-fache zeitlich umfangreicher war als die Lohnarbeit.
Da die Reproduktionsarbeitenden nicht mehr umfassend zur Verfügung stehen, müsste die Sorgearbeit, auch Care Work genannt, privatwirtschaftlich oder staatlich organisiert werden. Privatwirtschaftliche Konzepte konzentrieren sich aus Gründen der Profitmaximierung auf gut Verdienende bzw. Privatversicherte, was bei elitären Bildungsstätten, Wellness-Oasen oder De-luxe-Seniorenresidenzen sichtbar wird. Für die Bereitstellung von Kindertagesstätten, grundlegender Bildung in Schulen und Hochschulen, umfassender Versorgung im Krankheits- und Pflegefall wäre ein weitgehender Ausbau von staatlichen Angeboten notwendig.
Die Staatsausgaben in diesen Care-Bereichen müssten sich sogar überproportional erhöhen, da sich bei personennahen Dienstleistungen im Vergleich zur technisch optimierbaren Güterproduktion nur deutlich geringe Produktivitätssteigerungen erzielen lassen. Eine solche Erhöhung der Staatsausgaben ist allerdings wegen direkter oder indirekter Einschränkung der Profitrealisierung stark umkämpft. Entsprechend bleibt es für die Kapitalverwertung am günstigsten, wenn meist weibliche Erwerbstätige die Care-Arbeit am Rande der Erschöpfung zusätzlich zu ihrer Lohnarbeit realisieren - im Verbund mit Personen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen oder nur am Rande integriert sind, wie RentnerInnen oder illegalisierte MigrantInnen.
Familienpolitik als Wirtschaftspolitik
Entsprechend geht es auch bei den aktuellen familienpolitischen Maßnahmen darum, die Reproduktion der Arbeitskraft mit möglichst geringen ökonomischen Kosten zu realisieren. Dafür wird zwischen LeistungsträgerInnen und LeistungsempfängerInnen unterschieden. Dies zeigt sich beispielsweise am Elterngeld. Während gut verdienende Eltern für zwölf bzw. 14 Monate bis zu 1.800 Euro pro Monat Elterngeld als Lohnersatzleistung beziehen können, werden bei Hartz-IV-EmpfängerInnen selbst die ihnen zustehenden 300 Euro mit dem ALG II verrechnet.
Auch der zögerliche Ausbau der Kindertagesstätten ist primär für die Absicherung der Berufstätigkeit von Eltern gedacht; das Kindeswohl bleibt zweitrangig. Und selbst diese Kinderbetreuungskosten werden, soweit es nur irgendwie geht, zu drücken versucht. Dies führt neuerdings zum zynischen Vorschlag, unausgebildetes Betreuungspersonal in Kindertagesstätten einsetzen zu wollen. Für überdurchschnittlich gut verdienende Familien wird Care Work, die mit der staatlichen Kinderbetreuung ja nicht abgeschlossen ist, mit sozial nicht abgesichertem Haushaltspersonal abgedeckt, was arbeitsrechtlich geduldet wird.
Bei der Betreuung pflegebedürftiger älterer Menschen ist die familienpolitische Unterstützung noch deutlich geringer, werden diese ja im Gegensatz zu Kindern nicht mehr als Arbeitskräfte benötigt. Dort konnte eine bezahlte Freistellung zur Pflege - vergleichbar mit dem Elterngeld - nicht durchgesetzt werden. Staatlicherseits wird auf das Engagement der RentnerInnen gesetzt, die mit einem, wenn überhaupt, nur sehr geringen Pflegegeld die Sorge für ihre Angehörigen übernehmen. Da diese Personen mit oder ohne Reproduktionsarbeit ihre Rente, Pension oder Grundsicherung erhalten, könnte auch die Übernahme von Kinderbetreuungsarbeiten durch RentnerInnen ein kapitalistisches Zukunftsmodell sein.
Konsequenz dieser hier nur umrissenen familienpolitischen Konzepte ist eine deutliche Überlastung vieler Menschen, vor allem Frauen mit Sorgeverpflichtungen. Zwar können sich überdurchschnittlich gut verdienende Paare über schlecht bezahlte und nicht abgesicherte Haushaltsarbeiterinnen entlasten. Doch der wachsenden Zahl prekärer Lohnarbeitenden bleibt nur, die wachsenden Reproduktionsaufgaben ohne gesellschaftliche Unterstützung am Rande ihrer eigenen Überforderung neben ihrer Berufstätigkeit auszuführen. Deutlich wird damit, dass Familienpolitik als Wirtschaftspolitik betrieben wird. Die Sicherung des Arbeitskräftebedarfs zu möglichst geringen Kosten steht im politischen Fokus, vernachlässigt werden die Lebensbedürfnisse aller Einzelnen sowie familiärer Gemeinschaften.
Schritte in Richtung einer Care Revolution
In dieser Situation einer sozialen Reproduktionskrise plädiere ich für einen grundlegenden Perspektivenwechsel, eine Care Revolution. Dabei geht es um ein Konzept, das nicht Profitmaximierung, sondern konsequent die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen ins Zentrum politischen Handelns stellt. So werden Zeit für Sorgearbeit, Zeit für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement sowie Zeit für Muße - bei gleichzeitiger sozialer Absicherung - zum Ziel gesellschaftlicher Transformation. Erste Schritte in Richtung einer Care Revolution sind eine radikale Arbeitszeitverkürzung mit Lohn- und Personalausgleich, die Realisierung des Mindestlohns sowie ein bedingungsloses, die Existenz sicherndes Grundeinkommen. Nur so ist die individuelle und generative Sorgearbeit im familiären Umfeld zeitlich und in existenzieller Absicherung realisierbar.
Zweitens ist die auf Freiwilligkeit beruhende, individuell geleistete Sorgearbeit in den Familien mit einem deutlich ausgebauten Netz staatlich, genossenschaftlich oder gemeinwirtschaftlich angebotener personennaher Dienstleistungen zu verbinden. Hochwertige Kinderbetreuung und Bildungsangebote, umfassende Gesundheitsversorgung und Altenpflege sind steuerfinanziert zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig sind drittens eine gesellschaftliche Aufwertung und deutlich höhere Entlohnung dieser Dienstleistungen wichtig. Dies würde für alle professionellen Care Worker, vor allem die vielen Frauen, die in diesem Bereich tätig sind, endlich Existenz sichernde Löhne bedeuten. Verbunden mit humanen Aufenthaltsgesetzen ließen sich so auch die Arbeitsbedingungen von migrierten Angestellten in der häuslichen, aber auch in der privatwirtschaftlichen und staatlichen Betreuungs- und Pflegearbeit legalisieren und verbessern. Mit diesen politischen Leitlinien ließe sich Arbeit im ganz umfassenden Sinne auch zwischen den Geschlechtern umverteilen.
Zur Realisierung der dargestellten Maßnahmen einer Care Revolution ist eine gesellschaftliche Mobilisierung notwendig. Ausgangspunkt für Widersetzungspraxen und die Gestaltung eines selbstbestimmten Lebens sind kollektive Selbstreflexionsprozesse, die an alltäglichen Erfahrungen anknüpfen und die die Menschenwürde ins Zentrum stellen. Verbindend könnte die radikale Erkenntnis sein, dass menschliche Lebensinteressen nicht über profitorientierte Kapitalakkumulation zu verwirklichen sind, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln und Solidarität. Insofern verstärken an der Care Revolution orientierte politische Aktivitäten antikapitalistische Politiken und eröffnen neu gewendete Debatten um sozialistische Visionen.
Gabriele Winker ist Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg-Harburg.
Dieser Text erscheint gleichzeitig auf der Website des Feministischen Instituts Hamburg, www.feministisches-institut.de, deren Mitbegründerin die Autorin ist.