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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 573 / 15.6.2012

Wo sind sie geblieben?

International Politischer Klimawandel in Israel - ein Jahr nach den Sozialprotesten

Von Achim Rohde

Unglaublich fern scheint der vergangene Sommer, als die israelischen Sozialproteste Hunderttausende von Menschen auf die Straße brachten. Damals sah es eine Zeit lang so aus, als laufe sich da eine neue gesellschaftliche Kraft warm, welche das Zeug hätte, die Hegemonie marktradikaler und national-religiöser Kräfte ernsthaft zu bedrohen.

Zwar belegen Meinungsumfragen, dass 80 Prozent der Bevölkerung eine Fortsetzung der Proteste für nötig erachten, doch an einem landesweit organisierten Demonstrationstag im Mai nahmen nur einige Tausend Menschen teil. Zwar planen AktivistInnen aus dem Umfeld der Protestbewegung neben erneuten Demonstrationen im Sommer gegenwärtig auch die Gründung einer neuen Partei. Doch nichts weist darauf hin, dass sich die apathische Grundstimmung bis zum 14. Juli verflüchtigt: Das ist der Jahrestag der Gründung des Zeltlagers auf dem Tel Aviver Rothschild-Boulevard, die als Initialzündung der Proteste wirkte. Und ob mit einer Parteigründung mehr erreicht wäre als eine weitere kurzlebige Neuerscheinung, ist zu bezweifeln. Unklar bleibt auch, ob so eine Partei in der Lage wäre, die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit jenseits von Klientelpolitik für die abstiegsbedrohte jüdisch-israelische Mittelschicht in den politischen Gesamtzusammenhang einzubetten und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.

Natürlich sind Forderungen beispielsweise nach bezahlbarem Wohnraum, kostenlosem Zugang zu Bildung, ausreichend Kindergartenplätzen und einer Einschränkung der Macht der Oligarchen, welche die israelische Wirtschaft seit einiger Zeit dominieren, verständlich und richtig. Die Regierung Netanjahu hat seit letztem Sommer Lippenbekenntnisse zugunsten einiger dieser Forderungen abgegeben und ansonsten weitergemacht wie zuvor. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und sie von billigen rhetorischen Vereinnahmungen durch die Regierung abzugrenzen, müsste die israelische Protestbewegung sehr viel dickere Bretter bohren: Eine Abkehr von der marktradikalen Wirtschaftspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte zu fordern, unter deren Folgen heute so viele Israelis leiden, ist wohlfeil, solange keine politische Alternative formuliert wird. Doch genau dies hat die Protestbewegung bisher vermieden, um nicht als links abgestempelt zu werden und sich damit ins politische Abseits zu manövrieren. Genau dort befindet sie sich heute freilich dennoch.

Die Kosten der Besatzung

Unverständlich bleibt zudem, wieso die Kosten der Besatzung nie ernsthaft thematisiert wurden. Dabei fließen Unsummen an öffentlichen Geldern in die Infrastruktur der Siedlungen in der Westbank und deren militärische Absicherung. Sollte ausnahmsweise doch mal der eine oder andere Außenposten geräumt werden, so könnten die Betroffenen mit großzügigen Entschädigungen seitens der Regierung und Ersatzwohnungen in anderen Siedlungen rechnen, die ebenfalls subventioniert werden. Planungen für die Fortführung des Landraubs in den besetzten Gebieten in den nächsten Jahren sind bereits ausgearbeitet.

Es ist offensichtlich, dass ein solches Vorgehen weitere Milliarden an Steuergeldern verschlingt, die Konfrontation Israels mit den PalästinenserInnen zementiert, die Zweistaatenlösung unmöglich macht und Israel auf mittlere Sicht zu einem binationalen Staat mit einem Apartheidsystem macht. Nicht nur international, sondern auch mit Blick auf die Nachbarländer wird dies zu einer für Israel riskanten Verschlechterung bestehender Beziehungen führen; zum Teil ist dies bereits heute der Fall. Das impliziert nicht nur weiterhin hohe Militärausgaben. Im April hat der staatliche ägyptische Gaskonzern seine Erdgaslieferungen an Israel eingestellt und den bestehenden Vertrag gekündigt, der Israel ungemein vorteilhafte Bedingungen bot. Die Beziehungen zu Israel sind in der ägyptischen Bevölkerung unpopulär, und der Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Politik ist in Ägypten seit dem Sturz Mubaraks gestiegen. Die Aufkündigung des Friedensvertrages zwischen beiden Ländern steht dabei wohl nicht zur Debatte, eine Neubewertung der geschäftlichen Beziehungen aber schon.

Viele Israelis mögen dies als Ausdruck des wachsenden Einflusses islamistischer Parteien abtun, die notorische Israelhasser bzw. Antisemiten seien. Der Gedanke, dass Israels Image in der Region vor allem aufgrund der fortdauernden Besatzung leiden könnte, wird so wirksam abgewehrt. Derweil steigt der Strompreis in Israel infolge ausbleibender Gaslieferungen aus Ägypten deutlich. Das hat Auswirkungen auf Wirtschaft und VerbraucherInnen und verschärft eben jene Probleme, wegen derer im letzten Jahr die Massen auf die Straße gingen.

Wenn man dann noch die von der Regierung Netanjahu forcierten Kriegsdrohungen gegen den Iran und die Auswirkungen dieser Krise auf den Ölpreis bedenkt, von den Folgen eines tatsächlichen Krieges ganz zu schweigen, gäbe es für Israelis eigentlich genügend Anlass, einen Zusammenhang zwischen ihrer sinkenden Lebensqualität und dem konfrontativen Auftreten Israels in der Region herzustellen. Mit Blick auf die hohen Militärausgaben hat die Protestbewegung dies zwar bereits getan. Noch im vergangenen Herbst hatte Netanjahu unter dem Eindruck der Sozialproteste angekündigt, den Verteidigungshaushalt senken zu wollen und stattdessen die Sozialausgaben zu erhöhen. Doch wenige Monate später entschied die Regierung das Gegenteil. Der Militäretat steigt im laufenden Haushaltsjahr deutlich, während die versprochenen Reformen im Sande verlaufen sind.

Netanjahus Trumpf: das Thema Sicherheit

Die israelische Regierung kann sich darauf verlassen, mit dem Thema Sicherheit einen Trumpf in der Hand zu haben, der alle anderen Argumente vom Tisch fegt. Um die zunehmenden inneren Spannungen zu managen und die Opposition mundtot zu machen, erweisen sich externe Feinde bzw. Feindbilder als äußerst hilfreich. Premierminister Netanjahu inszeniert sich bei jeder Gelegenheit als furchtloser Verteidiger nicht nur des Staates Israel, sondern gleich des ganzen jüdischen Volkes angesichts einer ganzen Armada existenzieller Bedrohungen. Mal ist es der palästinensische Terror, mal die iranische Gefahr, mal die regionale Instabilität im Zuge der Arabellion, in letzter Zeit auch häufig die von den palästinensischen BürgerInnen Israels ausgehende »demographische Gefahr«, d.h. ihre im Vergleich zur jüdischen Bevölkerung höhere Geburtenrate.

In dasselbe Horn stößt Netanjahu aktuell mit Blick auf MigrantInnen und Flüchtlinge vor allem aus afrikanischen Ländern, die er als Gefahr für den jüdischen Charakter des Staates ausmacht und die er deshalb schnellstmöglich abschieben will. Anfang Juni trat ein Gesetz in Kraft, das es dem Staat ermöglicht, papierlose MigrantInnen und Flüchtlinge ohne Gerichtsverfahren und ohne Abschiebung für bis zu drei Jahre einzusperren, anstatt wie bisher für maximal zehn Tage. Betroffen sind davon Flüchtlinge aus Kriegsregionen, die gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden können. Israelis, die solchen Menschen helfen, können demnach für bis zu 15 Jahre hinter Gitter wandern.

Dieses neue Gesetz ist die Weiterentwicklung eines Gesetzes aus den 1950er Jahren, das gegen die »Infiltration«, d.h. die Rückkehr von 1948 geflohenen PalästinenserInnen in das israelische Staatsgebiet gerichtet war. Aus diesem Anlass sagte Innenminister Elie Yishai mit Blick auf afrikanische MigrantInnen in einem Interview, »die meisten Leute, die hierher kommen, sind Muslime, die nicht glauben, dass dieses Land uns gehört, den Weißen«. Eine Abgeordnete der an der Regierung beteiligten Kadima-Partei forderte Ende Mai, MenschenrechtsaktivistInnen und andere KritikerInnen dieses Gesetzes in Lager zu sperren, weil sie »Juden gegen Juden aufhetzen«. Ähnliches hört man jeden Tag von israelischen SiedlerInnen und ihren national-religiösen UnterstützerInnen mit Blick auf die PalästinenserInnen in der Westbank und auch auf palästinensische BürgerInnen innerhalb Israels.

Offener Rassismus

Bei derartig offenem Rassismus der Regierung verwundert es nicht, wenn sich immer mehr Israelis ermutigt fühlen, zu entsprechenden Taten zu schreiten. Im März überfielen ca. 300 Anhänger eines Jerusalemer Fußballclubs am helllichten Tage ein Einkaufszentrum und verprügelten alle palästinensischen Beschäftigten, derer sie habhaft werden konnten. Niemand wurde festgenommen. Ende Mai veranstaltete ein jüdisch-israelischer Mob in einem Tel Aviver Armenviertel eine Treibjagd auf AfrikanerInnen, es gab Verletzte, Autos und Geschäfte brannten. Die Menge hatte zuvor an einer Demonstration teilgenommen, im Laufe derer eine Abgeordnete der regierenden Likud-Partei AfrikanerInnen als Krebsgeschwür bezeichnet hatte. Derartige Vorfälle sind seit langem aus der Westbank bekannt, wo die SiedlerInnen sich in einem rechtsfreien Raum bewegen. Jetzt geht es langsam an die Grundfesten dessen, was an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Israel selbst noch übrig ist.

Es ist derzeit kaum vorstellbar, dass die herzerwärmenden Bilder des letzten Sommers sich in diesem Jahr wiederholen lassen. Noch schwerer vorstellbar scheint es, dass eine zivilgesellschaftliche Bewegung die fortschreitende Selbstzerstörung Israels aufhalten könnte.

Achim Rohde kommentierte in ak 570 Israels Kriegsdrohungen gegen den Iran.

Verwendete Quellen:

adva.org; aljazeera.com; bbc.co.uk; guardian.co.uk; haaretz.com; jewishnews.net.au; ynetnews.com