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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 573 / 15.6.2012

Der Klassenkampf der Reichen

Diskussion Owen Jones über die Dämonisierung der Arbeiterklasse

Von Christian Stache

Als im August 2011 mehrere Tage Jugendliche auf den Straßen Londons rebellierten, waren sich die Medien schnell einig: Junge herumstreunende Arbeitslose aus den Sozialwohnungen der heruntergekommenen Stadtteile, die von Sozialhilfe leben und am Fließband Kinder produzieren, stürmen für neue Sneakers und teure Klamotten die Stadt. Die »barbarische Unterklasse« war kurzzeitig nicht mehr unter Kontrolle. Politische oder ökonomische Ursachen konnten diese Ereignisse im »England der Mittelschicht« gar nicht haben.

Der junge englische Historiker und Journalist Owen Jones, macht mit seinem ersten Buch, das im vergangenen Jahr beim renommierten Verso-Verlag publiziert worden ist, solche und ähnliche gesellschaftlich akzeptierte und politisch nützliche Stigmatisierung der Arbeiterklasse zum Gegenstand kritischer Analyse. Der »chav« (in der im Juni 2012 erscheinenden deutschen Ausgabe wird der Terminus mit »Proll« übersetzt) ist seiner Untersuchung zufolge der Inbegriff des pejorativen (abwertenden) Arbeiter-Stereotyps, in dem alle bis dahin getrennten Ideologien über die Arbeiterklasse zusammenlaufen. Er ist faul, arbeitslos, schmutzig, unmoralisch, gewalttätig, sexuell triebhaft, drogenabhängig, kriminell und unberechenbar.

Die - ideologische - Dämonisierung der Arbeiterklasse »ist Klassenkampf von oben«. Sie rechtfertigt die Hackordnung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie verschleiert die systemischen Ursachen für Armut, zerrüttete Familien, Gewalt und Drogenkonsum. Sie macht nicht die Politik und Ökonomie der herrschenden Klasse, sondern deren Opfer für ihre Situation individuell verantwortlich. Die New-Labour-Regierung attestierte z.B. den ArbeiterInnen in den alten industriellen Kernregionen, wo die Arbeitslosenzahlen überdurchschnittlich hoch sind, »mangelnden Ehrgeiz« bei der Arbeitssuche. Die Verhöhnung der »Prolls« ist auch nützlich zur Durchsetzung von Kürzungs- und Sparpolitik. PolitikerInnen üben sich daher im Populismus gegen die arbeitenden Klassen und die Marginalisierten.

Jones insistiert jedoch darauf, dass »Ideologien gegen die Arbeiterklasse Teil einer Klassengesellschaft« und nicht der Ausgangspunkt des Übels sind. Letztlich könne es daher nicht nur darum gehen, diese Ideologien zu kritisieren. Der Brunnen, aus dem sie heraussprudeln, müsse trocken gelegt werden.

30 Jahre neoliberale Konterrevolution

Dass der »Klassenhass« von oben ein »integraler und weitgehend respektierter Teil der britischen Kultur« werden konnte, ist kein Zufall. Er ist das »Erbe« eines von den »one percent« seit über 30 Jahren unerbittlich geführten Klassenkampfes der Herrschenden »gegen alles, was mit der Arbeiterklasse assoziiert wird«. Sein Beginn ist in Britannien unwiderruflich mit der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher verbunden. Ihre Regierung setzte das politische, ökonomische und ideologische Klassenprojekt des Neoliberalismus maßgeblich auf die Schienen. (siehe auch David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus; Rezension in ak 524)

Die Thatcher-Administration legte die Steuerbelastung radikal von den Reichen auf die normale Bevölkerung um. Sie privatisierte Staatsunternehmen. »Alte Werte der Arbeiterklasse wie Solidarität wurden durch Ellenbogenindividualismus ersetzt«, individueller Reichtum glorifiziert und die Verantwortung für individuelles Scheitern privatisiert. Klassen und erst recht der Klassenkampf wurden staatsoffiziell für inexistent erklärt. Schließlich haben Margaret Thatcher und ihre Vasallen die Akkumulation durch Enteignung (Harvey) dadurch abgesichert, dass sie spätestens mit der Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks von 1985/86 das organisatorische Rückgrat des britischen Proletariats - die Gewerkschaften - brachen. Es war die Zeit, »den Klassenkampf als Idee vollständig zu eliminieren, ihn aber in der Praxis radikal zu verschärfen«.

»Das große und bis heute wirksame Erbe der Thatcher-Ära besteht darin, dass die Arbeiterklasse seitdem immer der Verlierer des Klassenkampfs geblieben ist.« Daran hat weder die klassische Labour Party noch New Labour etwas geändert. Im Gegenteil. Thatcher antwortete einst auf die Frage nach ihrem größten Erfolg: »Tony Blair und New Labour. Wir haben unsere Gegner dazu gezwungen, ihre Positionen zu ändern.«

New Labour will die Lebensbedingungen der LohnarbeiterInnen nicht mehr verbessern, sondern die Mittelschicht und individuellen Aufstieg fördern. Auch für Labour existiert die Arbeiterklasse nicht mehr. Sie habe sich aufgelöst: Die respektablen ArbeiterInnen seien zur Mittelschicht dazugestoßen. Der Rest sei New Labours Analysen zufolge zu einem psychopathischen Mob verwahrlost. Entsprechend rief der Telegraph daher »Zur Verteidigung der Snobs« auf - »weil diese zumindest noch ehrenwerte Ziele besitzen.« Fitness-Studio-Betreiber in England nehmen diese Aufforderungen bisweilen ernst und bieten Kurse wie »Chav-Boxing für Manager« an.

Wie es um die englische Arbeiterklasse heute bestellt ist, erfährt man dementsprechend in Britannien nicht mehr. Nicht in den Nachrichten. Nicht in der offiziellen Politik. Und auch nicht in der Wissenschaft, deren ProtagonistInnen sich vorrangig damit befassen, den Mythos der klassenlosen Gesellschaft im Kapitalismus fortzuschreiben. Die Lage der arbeitenden Klasse in England hat sich laut Jones im Vergleich zum Regierungsantritt der Monetaristen 1979 erheblich verändert. Infolge der Deindustrialisierung ganzer Regionen, des dramatischen Anstiegs der Beschäftigung im Dienstleistungssektor, des Ausbaus der Leih- und Zeitarbeit sowie des Niedriglohnsektors sei nicht mehr der klassische gelernte Industriearbeiter der Prototyp des heutigen Proleten.

Seine Stelle hat der Call-Center-Agent eingenommen, der über keine Ausbildung verfügt, ständig seinen Arbeitsplatz wechseln muss, nicht gewerkschaftlich und erst recht nicht parteipolitisch organisiert ist und trotz Lohns nicht über die Runden kommt. Allerdings verabschiedet sich Jones weder von der theoretischen Erkenntnis der zentralen Position des Industrieproletariats, noch hält er Marx' Bestimmung der Arbeiterklasse für hinfällig. Sowohl das »alte« als auch das »moderne« Proletariat ist ein hoch fraktioniertes Kollektiv, dessen Angehörige doppelt »frei« sind.

Versagen und Verantwortung der Linken

Dass die Arbeiterklasse keine politisch relevante Heimat mehr in Britannien besitzt, hat sie Jones zufolge nicht nur der herrschenden Klasse und ihren Claqeuren in den Medien und politischen Projekten wie New Labour zu verdanken. Auch die liberale Linke hat es weitgehend aufgegeben, sie zu verteidigen. »In der gesamten Linken hat es in den letzten 30 Jahren eine Abkehr vom Klassenkampf und eine Hinwendung zur Identitätspolitik gegeben«, schreibt Jones. »Selbstverständlich sind die Kämpfe für die Befreiung der Frauen, Homosexuellen und ethnischen Minderheiten von außerordentlicher Bedeutung.« Aber sie waren »mit der Verdrängung des Klassenkampfes aus der Politik wunderbar zu vereinbaren«.

Diese Entwicklung hat nicht nur zu einer Kulturalisierung und Ethnisierung von Klassenkonflikten geführt, von denen rechtspopulistische Bewegungen profitieren. Die liberale Politik des Multikulturalismus hat das Subjekt des Klassenkampfes nicht erweitert, sondern durch die Förderung schwarzer, weiblicher, homosexueller Mittelschichtsangehöriger ersetzt. Das Ergebnis: Heute lachen in den wohlsituierten Vierteln Londons weibliche Vorstandsvorsitzende gemeinsam mit den schwarzen NachbarInnen über die peinlichen »Prolls« im Fernsehen, z.B. wenn das »Chav«-Paar »Wayne und Waynetta Slob« ihr letztes Geld, das sie gerade vom Amt bekommen haben, für Alkohol und Zigaretten ausgeben.

Ähnliche Elemente der Stigmatisierung und Abwendung von der Arbeiterklasse »unter Linken« sind auch in der Bundesrepublik keineswegs unüblich. Mit erschreckender Regelmäßigkeit wird klassenkämpferische Politik als verstaubtes theoretisches Überbleibsel orthodoxer ML-Sekten oder »verkürzte Kapitalismuskritik« denunziert. Das berühmte Bild, das 1992 während der Pogrome in Rostock-Lichtenhagen entstand, trug dazu bei, den rassistischen »Proll« in vollgepisster Jogginghose und Deutschlandtrikot als neues Feindbild der »emanzipatorischen« Linken zu etablieren. Und eine nicht unbeträchtliche Strömung der Neuen Marx-Lektüre zieht es vor, die Marxsche Theorie in Erkenntniskritik und »Zirkulationsmarxismus« umzuwandeln, um den Kapitalismus neu zu interpretieren, statt ihn durch den Klassenkampf zu überwinden. (siehe auch Gerhard Hanloser/Karl Reitter: Der bewegte Marx; Rezension in ak 534)

Neue Klassenpolitik

Ohne die Arbeiterklasse zu glorifizieren oder in die 1970er Jahre zurückkehren zu wollen, hält Jones eine neue Politik des Klassenkampfes für unerlässlich. Diese beginnt mit der Erkenntnis, dass es den Klassenkampf und das Proletariat überhaupt noch gibt, und mit der Kritik ideologischer Vorstellungen über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen. Ein Großteil der politisch aktiven Linken muss sich eingestehen, dass sie weder politische noch persönliche Bindungen zur real existierenden Arbeiterklasse und zu den Marginalisierten besitzt und dass dies ein Problem ist.

Darüber hinaus macht Jones zahlreiche Vorschläge, wie der Klassenkampf wieder aufgenommen werden könnte. Dazu zählt er eine Repolitisierung der Arbeitslosigkeit, eine Bestärkung von Klassenstolz, die Auseinandersetzung mit der Arbeiteraristokratie, die Organisation des »neuen« Proletariats usw. Diese Forderungen sollen mit einer Strategie gekoppelt werden, mit der »die Wirtschaft wirklich demokratisiert wird«: »Schlüsselsektoren könnten in gesellschaftliches Eigentum überführt und von den ArbeiterInnen und KonsumentInnen kollektiv verwaltet werden.« Eine solche »neue Klassenpolitik könnte der Beginn eines Prozesses sein, mit dem zumindest ein Gegengewicht gegen den hegemonialen und unhinterfragten Klassenkampf der Reichen geschaffen wird.«

Christian Stache kritisierte in ak 570 die Stellungnahme der ak-Redaktion zur Syriendebatte in der deutschen Linken.

Owen Jones: Prolls - Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Verlag André Thiele, Mainz 2012. 300 Seiten, 18,90 EUR.