Mordend gescheitert
Diskussion Sechs Hypothesen zum rechten Terror des NSU
Die folgenden sechs Hypothesen sollen dazu dienen, den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) möglichst genau einzuschätzen und die richtigen Lehren zu ziehen. Die Thesen sind notwendigerweise vorläufig und bedürfen der Weiterentwicklung und gegebenenfalls Korrektur, wenn neue Erkenntnisse auftauchen. Auch sind sie bewusst zugespitzt formuliert - möge es die Diskussion fördern.
Von Tomas Lecorte
1. Der NSU war eine lokale Erscheinung
Ende der 1990er Jahre gab es in Kameradschaftskreisen Diskussionen über bewaffneten Kampf. Auch das Konzept des »Leaderless Resistance« - also Terroranschläge ohne Tatbekennung, begangen von einem Zellen-Netz ohne Führung - wurde gerade im Umfeld des rechtsradikalen Blood-&-Honour-Netzwerks verbreitet. Doch der Gang des Neonazitrios in den Untergrund war allem Anschein nach nicht planmäßig. Von Anfang 1998 bis weit ins Jahr 1999 hinein waren die Untergetauchten und ihr Umfeld damit beschäftigt, Geld zusammenzukratzen, um ihr Überleben im Untergrund zu sichern. Allein dabei waren vermutlich dutzende von Personen beteiligt. Erst ab Oktober 1999 gibt es Anzeichen dafür, dass die Struktur sich stabilisierte (Waffen waren beschafft, möglicherweise erste Banküberfälle verübt). Eine überregionale Vernetzung, die ein ungleich höheres Maß an Kommunikation und Struktur erfordert hätte, hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Spuren hinterlassen, die sowohl von AntifaschistInnen als auch von den Sicherheitsbehörden bemerkt worden wären.
2. Der NSU bedeutete keine neue Qualität rechter Terrorstrategien
Im NSU haben sich terroristische Potenziale der rechten Szene gesammelt, die für sich genommen nicht neu sind. Die Amoralität und Gewaltbereitschaft einzelner Rechtsradikaler äußert sich seit Jahrzehnten in Form von Mordanschlägen und Amokläufen. Diese »Loose Guns« werden von den Führungskadern wohlwollend als nützliche IdiotInnen betrachtet und wenn nötig funktionalisiert.
Im Fall des NSU ermöglichte es die besondere Kombination aus einer stabilen rechten Subkultur im thüringisch-sächsischen Raum und einem teilweise aussetzenden staatlichen Verfolgungsapparat, dass sich eine jahrelang arbeitsfähige Struktur entwickelte. Dies bedeutete zwar eine neue Quantität des Terrors, da früher vergleichbare Gruppen - wie etwa zu Beginn der 1980er Jahre - stets relativ bald zerschlagen wurden. Dennoch dürfte der NSU ein aufwändiger und riskanter Sonderfall geblieben sein, dessen Nutzen für die rechte Szene vor allem in Form der erbeuteten Gelder bestand.
Die besondere Form der perfiden Mordkampagne lässt sich möglicherweise eher aus der Situation erklären als aus einem klaren Konzept. Sie entspricht einerseits dem Selbstbild der Beteiligten als Frontsoldaten einer nationalen Elite, die sich für einfache Brandanschläge zu schade sind. Andererseits ließe sich argumentieren, dass die logistische Leistung, einen ahnungslosen Menschen heimtückisch und ohne ZeugInnen zu ermorden, geringer ist als eine Bank zu überfallen, wo es ZeugInnen, Kameras und Alarmanlagen gibt. Vielleicht war die Art und Weise, wie die Gruppe die Morde beging, also makabererweise (auch) von den begrenzten taktischen Möglichkeiten und Fähigkeiten der MörderInnen bestimmt.
3. Der NSU war kein staatsterroristisches Projekt
Dass die rassistisch verseuchten und nach rechts offenen Strukturen der deutschen Sicherheitsbehörden dem NSU das Morden erleichtert haben, ist unbestreitbar. Die bisher aufgedeckten Interna aus Polizei und Verfassungsschutz, wie sie etwa das Gutachten der Schäfer-Kommission in Thüringen vom 14. Mai 2012 dokumentiert, liefern zahlreiche Hinweise auf mehr als nur Unfähigkeit im Apparat. Es gibt aber soweit bisher bekannt keine Anzeichen für eine absichtliche Kooperation oder eine planmäßige Fremdsteuerung des rechten Terrors durch staatliche Organe.
Zugegebenermaßen gibt es keine scharfe Grenze zwischen rechtspopulistischem und rechtsradikalem Milieu, und dass einzelne Personen wichtige staatliche Ämter innehaben und gleichzeitig gewalttätige Rechte dulden oder sogar fördern, ist nicht auszuschließen. Eine durch Staatsapparate gedeckte Strategie zur Destabilisierung und Verängstigung der migrantischen Bevölkerung, dazu noch durchgeführt von einer isolierten Zelle wie dem NSU, scheint derzeit aber nicht plausibel.
4. Der NSU hat sein Ziel nicht erreicht
Die Terrorkampagne des NSU wurde weder von der eigenen rechten Szene noch von den betroffenen MigrantInnen als das erkannt, was sie wirklich war. Insofern hat sie ihr Ziel verfehlt. Der rechte Terror der Brandanschläge zwischen 1992 und 1996 hatte eine um ein vielfaches größere Wirkung. Nicht völlig auszuschließen ist zwar die Möglichkeit, dass die individuellen Morde die migrantische Bevölkerung in Angst versetzen sollten, ohne dabei eine gesellschaftliche Solidarisierung mit den Opfern zu erzeugen, wie es sie bei den Brandanschlägen der 1990er Jahre gab. Doch auch in diesem Fall wäre die Mordkampagne gescheitert.
Zwar gab es Angstgefühle in migrantischen Kreisen, wobei insbesondere der Kölner Bombenanschlag von 2004 hervorzuheben ist (der durchaus auch öffentlich als rechtsradikaler Terrorakt erkannt und benannt wurde) und, als sichtbare Reaktion, eine antirassistische Demonstration in Kassel nach dem letzten Mord 2006. Doch als rassistische Mordserie mit politischem Hintergrund erkannten offenbar auch die meisten MigrantInnen die Taten nicht.
Weil die Morde anonym verübt wurden, mobilisierten sie auch die rechte Szene nicht. Alles deutet bisher darauf hin, dass nur ein kleiner innerster Zirkel um die Zwickauer Zelle von den Morden wusste. Bei den Personen, die von der Existenz der Gruppe und vielleicht auch dem Kürzel NSU wussten, bestand vermutlich eher die Vorstellung, die Untergetauchten machten sich »nützlich« und bedankten sich mit Geldbeschaffungsaktionen für die Hilfe der KameradInnen. So klingt auch der bekannt gewordene Gruß in dem Fanzine Der Weisse Wolf (»Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ...«) im Jahr 2002 eher wie der Dank für eine Geldspende. Bei dem mutmaßlichen Verfasser des Grußes, dem NPD-Funktionär David Petereit, wurde Ende April 2012 bei einer Durchsuchung ein entsprechender Begleitbrief des NSU gefunden. Das manchmal als Gegenindiz herangezogene »Döner-Killer«-Lied der Naziband um Daniel Giese wurde erst 2010 aufgenommen und enthält keine Details, die nicht auch aus den Medien bekannt waren (selbst der Spiegel hatte im Juli 2008 in einem Nebensatz die Möglichkeit eines rassistischen Motivs der Mordserie angedeutet). 2010 war die Mordkampagne außerdem schon lange beendet.
Das Modell des »Leaderless Resistance« benötigt viele Zellen in einer breiten Bewegung. Es gibt zwar einzelne Indizien, die auf weitere Zellenstrukturen hinweisen könnten. Erinnert sei an die zeitliche Nähe zwischen einem Sprengstoffanschlag in Düsseldorf am 27. Juli 2000, bei dem ein ungeborenes Kind getötet und zehn AussiedlerInnen teils schwer verletzt wurden, und dem Tod des 31jährigen Dortmunder Neonazis Michael Berger am 14. Juni 2000, der bei einer Verkehrskontrolle drei PolizistInnen und zuletzt sich selbst erschoss. Eine erste Vermutung der Polizei, er könne einen Anschlag geplant haben, wurde seinerzeit wie üblich schnell verworfen. Aber andere schwerwiegende Taten, für die weitere aktive Zellen in Frage kommen könnten, gibt es kaum. Falls es noch mehr Zellen gegeben hat - was man derzeit nicht sicher ausschließen kann - dürften sie nicht lange bestanden haben.
Das Ende der Mordkampagne und die Produktion der DVD könnten ein Hinweis darauf sein, dass den Beteiligten ihr Scheitern selbst klar geworden war. Auch der deutlich höhere Fahndungsdruck, den der Mord an der Heilbronner Polizistin im Jahr 2007 bedeutete, dürfte weder an der Dreiergruppe noch an den MitwisserInnen spurlos vorbeigegangen sein. Der persönliche Verschleiß und die politische Perspektivlosigkeit mögen zu einem Rückzug ins »Private« geführt haben, bei dem das Erhalten des Status quo und die Geldbeschaffungsaktionen den letzten Rest konspirativer Praxis darstellten.
5. Keine Mystifizierung des NSU
Linke wissen aus eigener leidvoller Erfahrung nur zu gut, dass Medien, die politische Gegenseite und die Verfolgungsbehörden zur Übertreibung neigen, wenn es um Gruppenstrukturen und Strategien geht. Wo eine Gruppe ist, wird schnell ein ganzes Netzwerk vermutet, wo eine Aktion mal klappt, wird unerklärliche Professionalität behauptet, wo ein fehlerfreier Text veröffentlicht wird, müssen Führungspersonen und Strippenzieher am Werk gewesen sein. Diesen Fehler sollten Linke nicht umgekehrt in Bezug auf den NSU und sein Umfeld machen. Ein »Downgrading« des NSU auf seinen hinreichend ekelerregenden braunen Bodensatz bedeutet nicht, die Gefahr rechter Terrorstrukturen klein zu reden, sondern soll der Mystifizierung entgegenwirken.
In der rechten Szene wird der NSU rasch zur Legende werden, ihr Symbol wird in Zukunft sicher vielfach als Markierung für tatsächlichen oder gewollten rechten Terror erscheinen. Solchen Versuchen der Selbstermächtigung Rechtsradikaler sollten Linke besser ein realistisches Bild der Armseligkeit ihrer HeldInnen entgegensetzen als ein dämonisches Feindgemälde.
6. Die verfolgten Nazis von heute werden die Terroristen von morgen
Der staatliche Repressionsdruck, der die rechtsradikalen Strukturen momentan in die Defensive drängt, wird rasch nachlassen. Er wird einzelne abschrecken oder auch für eine Weile aus dem Verkehr ziehen, dafür andere radikalisieren. Erinnert sei an das Jahr 2000, als der offiziell ausgerufene »Aufstand der Anständigen« politisch viel Wind gegen rechts machte, während sich in genau dieser Zeit die NSU-Struktur bildete. Mittelfristig ist das Potenzial des rechten Terrors erheblich, wie das Beispiel Griechenland zeigt: Sowohl das Anwachsen radikal rechter Strömungen als auch ihre zunehmende Attraktivität für geheimdienstliche Spannungsstrategien zur Bekämpfung sozialer Bewegungen von links sind bereits jetzt zu beobachtende Folgen der EU-Krise. Mit einer verstärkten rechten Aggressivität sowohl rassistischer Art als auch gegen explizit linke Personen, Gruppen und Strömungen ist daher in naher Zukunft zu rechnen, ob nun organisiert oder im bekannten Stil der »Einzeltäter«.
Viele der Rechten, die jetzt und in den kommenden Monaten genauer beleuchtet werden und über die im Zuge der Ermittlungen und Presseberichte Details bekannt werden, werden in den kommenden Jahren organisierte Kleingruppen und voraussichtlich auch neue Terrorzellen bilden. Es ist daher im ureigensten Interesse der antifaschistischen Bewegung, in der jetzigen Phase so viele Informationen wie möglich zu sammeln, um nicht noch einmal so böse überrascht zu werden vom Eintreffen der eigenen Vorhersagen.
Tomas Lecorte schrieb in ak 570 über den Zustand des Spitzelwesens und in ak 572 über europäische polizeiliche Ermittlungsstrategien.