Mut zur Lücke
Wirtschaft & Soziales Ein neuer Sammelband widmet sich der Leerstelle zwischen Krise und Protest
Von Jan Ole Arps
Das Jahr 2011 war eines der unerwarteten Proteste rund um den Globus. Wie hängen die arabischen Revolutionen mit dem Occupy-Camp an der Wall Street zusammen? Gibt es eine Verbindung von den Riots in England zu den Streiks in Chinas Autofabriken? Und in welchem Zusammenhang stehen diese Kämpfe zur Krise der globalen Wirtschaft? Diese Fragen bilden den Rahmen des Bandes »Krisen Proteste« von Peter Birke und Max Henninger, der ausführliche Fallstudien zu mehreren der neuen Bewegungen versammelt. Die meisten Aufsätze sind bereits in Sozial.Geschichte Online erschienen; sie wurden für das Buch teils überarbeitet und aktualisiert.
In ihrem Einleitungsaufsatz zeichnen Peter Birke und Max Henninger den aktuellen Krisenverlauf nach und vergleichen ihn mit dem der 1970er Jahre. Dadurch kommen sie einer Reihe von Gemeinsamkeiten auf die Spur, etwa der, dass auf die Einbrüche in den bis dato profitablen Wirtschaftssektoren dramatische Hungersnöte in den Ländern des globalen Südens folgten. Damals wie heute wandte sich das nach Profitquellen suchende Kapital den Nahrungsmittelmärkten zu - mit fatalen Folgen für die Nahrungsmittel importierenden Länder.
Auch prägen die unterschiedlichen Formen der Krisenbewältigung jener Zeit - kapitalintensivere Produktion und Prekarisierung im »Norden«, Urbanisierung und Entstehung eines riesigen informellen Proletariats im »Süden« - die heutige Situation. Selbst das Auseinanderklaffen von wirtschaftlicher Krise und ihren spürbaren sozialen Folgen (»Die Krise ist noch nicht in Deutschland angekommen«) ist nicht neu. Eben dieses Auseinanderklaffen stellt, so die Autoren, ein zentrales Problem für linke Mobilisierungsstrategien dar - ein Problem, das nicht »mit bloßen Appellen und »weltweiten« Aufrufen bewältigt werden kann«.
Teilt man diese Beobachtung, so wandert der Blick beinah zwangsläufig zu den gesellschaftlichen Kämpfen und ihren Akteuren, und in ebendiese konkreten Geschichten sollen die Beiträge des Buches Einblick geben. Das gelingt meist erfreulich gut. Im ersten von zwei »Griechenland-Texten« beschreibt Karl-Heinz Roth, wie das Land zum »Epizentrum der europäischen Schuldenkrise« wurde. Im zweiten beleuchtet Gregor Kritidis die Protestgeschichte und Elemente der sozialen Selbstorganisierung der letzten Jahre.
Auch der Artikel von Andy Durgan und Joel Sans über die Bewegung der spanischen Empörten, die die Platzbesetzungen der arabischen Revolutionen nach Europa importierte, bietet inspirierende Lektüre. Bemerkenswert ist der Zusammenhang zwischen der Schwäche der politischen Linken und dem erstaunlichen Niveau der Selbstmobilisierung und -organisierung der sich selbst häufig »unpolitisch« nennenden prekären städtischen Jugend.
Zu diesen spektakulären Mobilisierungen bildet Peter Birkes Beschreibung der jüngeren deutschen Streikgeschichte einen deutlichen Kontrast - was sie nicht weniger lesenswert macht. Denn auch hier deutet sich ein Wandel des kämpferischen Personenkreises an. Die Streikenden waren im Schnitt migrantischer und weiblicher als zuvor, die Kämpfe fanden häufiger in Dienstleistungsberufen statt, und untragbare Arbeitsbedingungen standen öfter als früher im Fokus der Konflikte. (Eine Kurzfassung des Textes erschien in ak 562.)
Obwohl die Mehrzahl der Fallstudien einen genauen Blick auf die Proteste in den jeweiligen Ländern bietet, stehen die Beiträge am Ende etwas unvermittelt nebeneinander. In der Einleitung schreiben Peter Birke und Max Henninger, in den aktuellen Kämpfen liege das Potenzial zur länderübergreifenden Solidarisierung. Ihre Gemeinsamkeit bestehe in ihrem »Anspruch auf eine gesicherte Reproduktion des eigenen Lebens« - und zwar »einschließlich der von diesem Leben erwarteten Freiheitsgrade«. Doch diese Gemeinsamkeit teilen die Bewegungen wohl mit den meisten Sozialrevolten in der Geschichte der Menschheit.
Bereits auf dem Klappentext versuchen die Herausgeber, überzogene Erwartungen zu dämpfen. Es gehe ihnen nicht um eine voreilige Synthese, sondern um eine Suchbewegung. Trotzdem hätten einige Fragen eine weitere Diskussion verdient. Wie kommt es zum Beispiel, dass in der »Krise« die größten deutschen Proteste sich an einem alten Bahnhof in Stuttgart entzünden? Und wieso treibt zeitgleich in Italien eine Bahntrasse durchs Susatal die Menschen auf die Straßen, nicht aber die unübersehbaren Krisenfolgen?
Die Leerstelle schmälert nicht das Verdienst, eine Reihe der lesenswertesten Beiträge der leider noch viel zu wenig bekannten Texte aus Sozialgeschichte.Online gesammelt zu präsentieren. Am besten, man holt es sich, solange die Bewegungen ihren ChronistInnen noch nicht davongeeilt sind und nutzt es ganz im Sinne der Herausgeber als Anstoß zu weiteren Diskussionen.
Krisen Proteste
Peter Birke und Max Henninger (Hg.): Krisen Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte Online, Assoziation A, Berlin-Hamburg 2012, 312 Seiten, 18 EUR. Das Buch gibt es momentan auch als Prämie für ein ak-Jahresabo. Die Zeitschrift Sozial.Geschichte Online im Netz: duepublico.uni-duisburg-essen.de/go/sozial.geschichte-online