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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 574 / 17.8.2012

Aufgeblättert

Kamikazekapitalismus

David Graebers Aufsatzsammlung »Kampf dem Kamikazekapitalismus« erschien, bis auf den titelgebenden Essay, erstmals 2009 in griechischer Sprache. (»Bewegung, Gewalt, Kunst und Revolution«) Die Essays entstanden zwischen 2004 und 2010, einem Zeitraum, der geprägt war vom ideologischen Siegeszug des Neoliberalismus, dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und dem Niedergang der globalisierungskritischen Bewegungen. Graeber versucht, anhand konkreter (scheinbarer) Misserfolge bzw. Fehler dieser Bewegungen deren perspektivische Stärke herauszuarbeiten. Zwar sind die von ihm genannten Erfolge teils nur schwer nachvollziehbar (z.B. die Schwächung des IWF), doch ist sein Bestreben, die positiven Ansätze hervorzuheben und sie auch theoretisch zu begründen, ein wertvoller Beitrag für bestehende und zukünftige Zusammenhänge, die Selbstorganisation als entscheidenden Hebel für soziale Bewegungen begreifen. Graeber stellt vehement die Ideologie der Alternativlosigkeit zum Neoliberalismus in Frage, er beschreibt konkrete Ansätze von Selbstorganisation und redet der sozialen Fantasie das Wort. In dem Aufsatz »Die Misere des Postoperaismus« setzt er sich solidarisch- kritisch und teils amüsant mit immaterieller Arbeit und Kunst auseinander. Insgesamt ist diese Sammlung ein Graeber »at his best«: konkret, der Praxis verpflichtet, ohne mit theoretischem Background hinter dem Berg zu halten.

Anna Leder

David Graeber: Kampf dem Kamikazekapitalismus. Pantheon Verlag, München 2012. 192 Seiten, 12,99 EUR.

Sozialistische Einheit

Burkhard Jacob hat sich nach Thomas Klein (Ch. Links Verlag, 2009) als Zweiter mit der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin (SEW) befasst. Von 1946 bis 1962 existierte die SED auch auf dem Westberliner Terrain. Die 1962 gegründete und formal eigenständige SED-W firmierte dann von 1969 bis zu ihrer Auflösung 1990 unter dem Namen SEW. Dem Mythos einer einhelligen Ablehnung der Vereinigung von SPD und KPD zur SED begegnet Jacobs mit dem nüchternen Zitieren von Abstimmungsergebnissen. Obwohl die SEW in ihren Hochzeiten über 7.000 Mitglieder zählte, war sie stets finanziell von der DDR abhängig, die die Funktionärsebene kontrollierte. Dadurch konnte die Partei nie eine eigenständige Politik entwickeln. Ihre bündnispolitischen Erfolge in der außerparlamentarischen Opposition wurden durch blinde Apologetik der DDR-Verhältnisse wieder zunichte gemacht. Ob es die Atompolitik der sozialistischen Länder oder die widersprüchlichen und scheinheiligen Beziehungen zu faschistischen Diktatoren betraf, die SEW stand felsenfest an der Seite der offiziellen DDR-Politik und machte sich in weiten Kreisen der Linken dadurch unglaubwürdig. Versuche, neomarxistische Debatten zur Neuausrichtung einer Politik zu führen, wurden mit Parteiausschlüssen geahndet. Der Versuch einer Neuorientierung nach 1990 unter dem Namen Sozialistische Initiative scheiterte; der Rest der SEW verschwand sang- und klanglos von der politischen Bühne.

Matthias Reichelt

Burkhard Jacob: Pfahl im Fleisch. Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin. Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 2011. 225 Seiten mit Dokumenten-CD, 19,90 EUR.

Recht auf Stadt

Die vom Informationsbüro Nicaragua herausgegebene Broschüre »Recht auf Stadt« ist das Ergebnis einer mehrmonatigen Rundreise durch verschiedene Länder Südamerikas. Die Teilnehmenden trafen AktivistInnen sozialer Bewegungen, die im urbanen Raum Selbstorganisierung und -verwaltung leben und erkämpfen. Stadtgärten in Kuba, die »comunas« in Venezuela sowie ein Nachbarschaftskomitee in Uruguay gehörten zu den Stationen. Die Reise ist in Interviewform dokumentiert. In spannenden Gesprächen erfährt man von den AktivistInnen, wo Schwierigkeiten und Erfolge der Selbstorganisierung liegen. Sie schildern, inwiefern sich aus den Lebensumständen und der politischen Situation in ihren Ländern die Notwendigkeit ergibt, unabhängige Organisationsformen zu entwickeln. Was von den Erfahrungen der Menschen in Lateinamerika zu lernen ist, diskutieren zum Schluss zwei AktivistInnen des Wuppertaler Aktionsbündnisses basta!, das sich als Teil der »Recht auf Stadt«-Bewegung sieht. Die Unterschiede zwischen europäischen Großstädten und den Städten des globalen Südens machen einen direkten Vergleich schwierig. Die Menschen dort führen ihre Kämpfe, weil die Situation sie dazu zwingt. Ihre Forderungen sind oft grundlegender als hierzulande, Selbstorganisierung ist Teil der eigenen Überlebensstrategie. Von einem Blick nach Südamerika, wo die Erkämpfung von Freiräumen sowie Selbstverwaltung politischer Alltag sind, können wir daher viel lernen.

Anita Starosta

Informationsbüro Nicaragua (Hg.): Recht auf Stadt. Gemeinwohlorientierte Selbstorganisation in Lateinamerika. Nahua Script 13, Wuppertal 2011. 122 Seiten, 5 EUR.

Flucht aus Europa

In der europäischen Armutsregion Galizien (heute Polen/Ukraine) kursierten gegen Ende des 19. Jahrhunderts sagenhafte Erzählungen von Amerika: Gold auf den Straßen, grandiose Verdienstmöglichkeiten nicht zuletzt für junge Frauen, endlos verfügbare Ländereien, wunderbare Fabriken und ein gütiger Kaiser, der neue Untertanen willkommen heiße. Basierend auf historischen Quellen beschreibt Martin Pollack Motive, Hoffnungen und Erfolge von Menschen, die sich um 1900 aus Galizien auf den Weg nach Amerika machten - immer wieder aber auch scheiterten. Ein wiederkehrender Schauplatz ist dabei die Kleinstadt Oswiecim (Auschwitz), die wegen ihrer Nähe zur deutschen Grenze nicht nur zu einer wichtigen Durchgangsstation für EmigrantInnen, sondern auch zu einem bevorzugten Standort für deren »DienstleisterInnen« wurde. Mit üblen Tricks versuchten AgentInnen im Auftrag von Reedereien, Reiseagenturen, MenschenhändlerInnen oder südamerikanischen Regierungen, die ländliche Bevölkerung zur Emigration zu bewegen. Um die Auswanderungswilligen entwickelte sich bald ein blühendes Gewerbe: Ein Netzwerk von Schlepperbanden, Herbergsleuten und kreativen GeschäftemacherInnen wartete darauf, die MigrantInnen auf ihrer Reise über die norddeutschen Häfen nach Amerika bis aufs Letzte auszubeuten. Eine bemerkenswerte Reportage über eine nicht allzu ferne Vergangenheit, in der jährlich Hunderttausende Europa auf der Suche nach dem besseren Leben verließen.

Cornelia Siebeck

Martin Pollack: Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien. Zsolnay Verlag, Wien 2010. 287 Seiten, 19,90 EUR.