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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 574 / 17.8.2012

Der lange Atem der Bewegung

International Chiles Schüler- und Studentenbewegung ist nach wie vor quicklebendig

Von Eva Völpel

Fragt man den bekannten chilenischen Historiker Gabriel Salazar, ob in Chile tatsächlich das neoliberale Paradigma unter Druck gerät oder ob man es nur mit isolierten Protesten zu tun hat, ist er sich sicher: »Zum ersten Mal nach der Militärdiktatur wird das chilenische Modell in Gänze in Frage gestellt - und zwar in ganz Chile, vom Norden bis zum Süden. Klar ist aber auch, wir werden Veränderungen erst in fünf, sechs oder sieben Jahren sehen.«

Zumindest bisher stützt die Studierenden- und Schülerbewegung Salazars Optimismus: Sie beweist einen langen Atem, interveniert nach wie vor mit gut gesetzten Aktionen in den öffentlichen Raum, ist in den Medien präsent und lässt sich von der rechten Regierung unter Präsident Sebastián Piñera nicht über den Tisch ziehen.

Zwar sind die spektakulären, Monate währenden Besetzungen von Unis und Schulen des Jahres 2011 vorbei. Doch auch 2012 ist Chiles Jugend auf der Straße. So gab es in diesem Jahr ab Mai, nach den chilenischen Sommersemesterferien, bisher drei landesweite Großdemonstrationen. Allein in der Hauptstadt Santiago kamen dazu jeweils um oder über 100.000 Menschen zusammen. Für den August sind weitere »marchas« geplant, unter anderem haben die Familienangehörigen der StudentInnen und SchülerInnen dazu aufgerufen.

Gleichzeitig nutzt die Bewegung historische Daten oder parlamentarische Debatten immer wieder, um auf ihr erstes Anliegen, eine kostenlose, qualitativ hochwertige Bildung und ein Zurückfahren des extremen Ausmaßes der Privatisierung im Bildungssystem aufmerksam zu machen. (1) So erinnerten die Jugendlichen beispielsweise am 11. Juli gemeinsam mit den ArbeiterInnen der Kupfergewerkschaft CTC an den Jahrestag der Verstaatlichung des Kupfers unter Präsident Salvador Allende 1971 und forderten eine Renationalisierung des Metalls, das sich heute zu 60 Prozent in privaten Händen befindet.

Auch in die Diskussionen um die minimale Erhöhung des Mindestlohns (von umgerechnet rund 307 Euro monatlich auf rund 325 Euro) oder die im chilenischen Parlament anhaltende Debatte über eine zaghafte Steuerreform, nach der Firmen statt 17 künftig 20 Prozent Unternehmenssteuern zahlen sollen, schalteten sie sich ein. Mehr noch: Sie haben ein eigenes Modell für eine Steuerreform vorgelegt und zeigen damit, dass diese Bewegung nicht in Protesten verharrt, sondern konkrete Alternativen formuliert. Unterstützt und beraten werden sie dabei von WissenschaftlerInnen oder UniprofessorInnen.

Ausweitung strategischer Allianzen

Doch allem Optimismus zum Trotz kann man nicht darüber hinweg gehen, dass das letzte Jahr die Bewegung Kraft gekostet hat. Etliche Jugendliche haben ein Ausbildungsjahr verloren. Und bis vor wenigen Wochen mussten SchülerInnen in einigen Bezirken Santiagos noch darum kämpfen, wieder am Unterricht teilnehmen zu dürfen.

Die Regierung ist zudem den Forderungen der Bewegung keinen Deut entgegen gekommen. Zwar will sie über mehr Geld für Stipendien die Finanzierung für den Bildungssektor ausweiten und hat die obszönsten Kreditmodelle der Banken für Studienkredite mit Zinssätzen bis zu sechs Prozent ausgehebelt (die übrigens auf das Mitte-Links-Regierungbündnis Concertación zurückgingen). Doch das Geschäftsmodell der privaten Unis und Schulen, die mittlerweile über die Hälfte aller Studierenden und SchülerInnen absorbieren, kann weiter florieren. Am Grundsatz, dass in Chile Bildung eine Ware ist wie jede andere, wird nicht gerüttelt.

Die Bewegung hat vor diesem Hintergrund die letzten Monate dazu genutzt, ihre strategischen Allianzen auszuweiten. Sie vertiefte beispielsweise die Verbindungen zum Gewerkschaftsdachverband CUT. Die Zusammenarbeit könnte noch besser laufen, würde sich im CUT bei den anstehenden Wahlen der Flügel um den Chef der Kupfergewerkschaft CTC, Cristián Cuevas, durchsetzen. Cuevas will den Dachverband deutlich offensiver an die Seite der sozialen Bewegungen führen und wirft der alten CUT-Spitze Wahlmanipulation und Korruption vor. Ob er und der CTC sich durchsetzen werden, ist derzeit aber völlig offen.

Ein besondere Erfolg für die StudentInnen ist, dass sich mittlerweile auch etliche der privaten Universitäten im landesweiten Studentendachverband Confech organisieren - trotz aller Konflikte, die die Forderung, die Privatisierung im Bildungssystem zurückzudrehen, für Studierende der privaten Unis bedeutet.

Doch die obszöne Bereicherung der privaten Unis treibt den Organisierungsprozess ihrer StudentInnen unfreiwillig mit voran. Jüngstes Beispiel ist der Skandal um die private Universidad del Mar, der im Juni tagelang die Medien beherrschte. Ein Rektor der Uni hatte bekannt gemacht, dass deren Besitzer ihren Angestellten und Lehrkräften seit Monaten umgerechnet rund 800.000 Euro an Löhnen und Sozialbeiträgen vorenthalten und für schlechte Ausbildungsbedingungen verantwortlich sind, sich aber selbst rund eine Million Euro aus den Einnahmen der Uni ausgezahlt hatten. Unibüros wurden durchsucht, die Uni bestreikt, zum Teil aber auch von offizieller Seite geschlossen, so dass für 20.000 Studierende unklar ist, wie es mit ihrer teuer bezahlten Ausbildung weitergeht.

Daraufhin riefen die StudentInnen privater Universitäten zum ersten Mal zu einer eigenen, noch bescheidenen Demonstration gegen das Profitstreben im Bildungssystem auf. Das ist übrigens per Gesetz verboten, findet aber dennoch landauf, landab statt, wie ein durchaus sehr kritischer, aber vom Parlament nicht angenommener Untersuchungsbericht einer kleiner Gruppe von Abgeordneten kürzlich feststellte.

Diskussionen über eine neue Verfassung

Aber auch die Regierung ist nicht untätig. Sie sieht nach der letzten großen Demonstration Ende Juni, bei der es am Rande zu Ausschreitungen kam, endlich ihre Chance gekommen, das umstrittene Ley Hinzpeter, benannt nach Innenminister Rodrigo Hinzpeter, durch das Parlament zu bringen.

Das Gesetz sieht eine weitreichende Kriminalisierung der sozialen Bewegungen vor und wird auch von Amnesty International oder Medienverbänden heftig kritisiert. Träte es in Kraft - was sich in diesen Tagen entscheiden dürfte -, könnten die OrganisatorInnen der großen Demonstrationen, also StudentensprecherInnen wie Gabriel Boric, Camila Vallejo oder Noam Titelman, künftig für Ausschreitungen haftbar gemacht werden und für mehrere Jahre ins Gefängnis wandern. Auch die Besetzung von Schulen, Unis oder Regierungsgebäuden würde mit hohen Strafen beantwortet. Es ist offensichtlich, dass die Regierung der Bewegung mit verschärfter Repression begegnen will. Wie die unter solch einem neuen Gesetz agieren wird, ist noch völlig unklar.

Den Akteuren der Proteste - und dazu gehört nicht nur die Jugend Chiles - ist in den letzten Monaten aber noch einmal deutlicher geworden, dass das eigentliche Problem des Landes in der extremen Abgeschlossenheit des in der Pinochet-Diktatur geformten parlamentarischen (Wahl-)Systems und der gleichfalls aus der Diktatur stammenden Verfassung bestehen. Unter den gegebenen Bedingungen erscheint es aussichtslos, auf parlamentarischem Wege eine Veränderung des Status quo zu erzielen, weil die Rechte - selbst ohne die Regierung zu stellen - weitreichende Mitsprachemöglichkeiten bei Gesetzesinitiativen hat.

Also diskutieren SchülerInnen, StudentInnen und AktivistInnen anderer sozialer Bewegungen, aber auch einige PolitikerInnen, über eine neue Verfassung. Die Vorstellungen über den Weg dorthin könnten unterschiedlicher nicht sein: Während einige PolitikerInnen eine neue Verfassung über das Parlament erarbeiten und verabschieden lassen wollen, sehen die außerparlamentarischen Bewegungen vor allem den Weg als Ziel und plädieren für die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung, in der die Bevölkerung Chiles zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine eigene Verfassung erarbeiten könnte.

Ambivalentes Verhältnis zu Parteien

Die Desavouierung des Systems der politischen Repräsentation in Gänze (auch die Concertación, die Chile von 1990 bis 2010 regierte, liegt in Umfragen regelmäßig am Boden) hält jedoch einige aus der Bewegung nicht davon ab, den parteipolitischen Weg zu wählen. So hat sich in diesen Tagen die Partei Izquierda Ciudadana de Chile (Linke Bürgerbewegung Chiles) gegründet, der beispielsweise ein ehemalige Sprecher der Universität von Chile, aber auch ein ehemaliger Minister unter Allende angehören. Die Izquierda Ciudadana will unter anderem mit der Kommunistischen Partei (PC) kooperieren, zu den Kommunalwahlen in Oktober antreten und streitet für eine neue Verfassung.

Die PC wiederum sähe es am liebsten, dass Camila Vallejo, derzeit die Vizesprecherin der Studierenden der Universität von Chile hinter Gabriel Boric, die Arena der Parteipolitik betritt. Sie lässt diesen Schritt bisher offen. Allein die Möglichkeit, für die PC anzutreten, brachte ihr die harsche Kritik des Historikers Salazar ein: »Wäre sie intelligent, würde sie die PC verlassen, denn sie wird von alten Männern kontrolliert.«

Salazar befürchtet nicht nur, dass Vallejo in kurzer Zeit im Parteiapparat aufgerieben wird. Er spießt mit seiner Kritik die Ambivalenz auf, der sich die Bewegung ausgesetzt sieht: Einerseits richtet sie ihre Forderungen und Vorschläge auch an die ParlamentarierInnen, die darauf mit unverhohlener Ablehnung (die Rechte) oder wenig Selbstkritik über die Vertiefung des neoliberalen Modells in der eigenen Amtszeit (die Concertación) reagieren. Andererseits organisiert sie sich unabhängig davon als Gegenmacht landauf, landab in regionalen oder lokalen Versammlungen.

Das Ende der Angst

Denn in Chile sind nicht nur die SchülerInnen und StudentInnen auf den Beinen. Immer wieder bewahrheitet sich der im Land derzeit so oft geäußerte Ausspruch vom »Ende der Angst«: 22 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet lässt sich ein Teil der Bevölkerung nicht mehr einschüchtern. So kam es nicht nur im November 2011 und im Februar und März 2012 in den abgelegenen südlichen Regionen Magallanes und Aysén zu eindrucksvollen, wochenlangen Protesten der Bevölkerung für bessere Lebensbedingungen und eine bis heute anhaltende Selbstorganisierung quer durch alle Berufs- und Altersgruppen.

Auch bei kleineren Konflikten, wie zum Beispiel Protesten gegen eine Schweinemastanlage in Freirina im Mai und Juni, blockieren die ChilenInnen heute einfach mal ruck, zuck für mehrere Tage die Straße. Jüngstes Beispiel sind die kraftvollen Proteste der Kleinfischer gegen das neue Fischereigesetz und die Privatisierung der Meeresressourcen.

Salazar, der diese Bewegung eng begleitet, berichtet zudem davon, dass in ganz Chile autonome Organisierungsprozesse eingesetzt hätten und von den Forstarbeitern bis zu den Beschäftigten des Gesundheitssektors alle in autonomen »asambleas« debattierten, was für ein Wandel in ihrem jeweiligen Bereich nötig sei. Dabei geht es nicht nur um bessere Arbeitsbedingungen, sondern beispielsweise um Forderungen nach einer anständigen öffentlichen Gesundheitsversorgung oder den besseren Schutz der ursprünglichen Wälder Chiles, die durch die Interessen der exportorientierten Forstwirtschaft bedroht sind.

Salazar ist sich sicher: »Wir sehen eine zweite Macht entstehen. Heute will jeder Souverän sein, mitbestimmen. Es gibt Hunderte von autonomen Stadtteil- oder Kommunalversammlungen, es gibt mindestens sieben regionale Versammlungen, mit denen sich die Regierung gezwungen sieht, zu verhandeln, obwohl solche Versammlungen nicht in der Verfassung vorgesehen sind.«

Selbst wenn man seinen Optimismus nicht in Gänze teilt: Unzweifelhaft ist in Chile etwas in Bewegung geraten. Jetzt stehen die Akteure vor der Herausforderung, weitergehende Allianzen zu schmieden. Das gilt nicht zuletzt für die Studenten- und SchülerInnenbewegung und die Akteure lokaler Proteste in den Regionen weitab der Hauptstadt Santiago.

Eva Völpel ist Redakteurin: erst bei ak, jetzt bei der taz. Sie hat die letzten zweieinhalb Monate in Chile verbracht.

Anmerkung:

1) Mittlerweile gehen über 50 Prozent der SchülerInnen und über 70 Prozent der StudentInnen auf private Einrichtungen. Seit 1981 wurden allein 35 neue Privatuniversitäten errichtet. Im Schnitt kostet eine Hochschulausbildung umgerechnet 4.500 Euro im Jahr. Vier Fünftel aller ChilenInnen verdienen monatlich jedoch durchschnittlich nur 700 Euro.