Einsturz der Fassaden
International Steht Mali nach dem Putsch an einem historischen Scheidepunkt?
Von Charlotte Wiedemann
Kann ein Land binnen kurzem von einer gepriesenen Demokratie zum failed state werden? Oder ist schon die Frage falsch gestellt?
Der Blick auf Mali und seine Krise wird von einem Dickicht falscher Annahmen verstellt. Wer auf einer Karte die bizarre Silhouette des Landes sieht, mag glauben, es handele sich ohnehin um ein künstliches Gebilde, immer schon zweigeteilt, wo nun auseinanderbreche, was noch nie zusammengehörte. Tatsächlich zählte Mali jedoch zu den wenigen großen Reichen der afrikanischen Geschichte; der heutige nachkoloniale Staat bedeckt nur einen Teil des einstigen Territoriums. Die Bevölkerung Malis war immer multiethnisch; sie ist es auch heute, in allen Landesteilen, der Norden inbegriffen, wo die Tuareg, die am meisten von sich reden machen, eine Minderheit sind.
Viele Malier und Malierinnen haben ein Gefühl für ihre Geschichte, ohne je auf einer Schulbank gesessen zu haben. Ein mythisches Nationalbewusstsein; es erlaubt bei aller Armut einen gewissen Stolz. Dies muss man wissen, um die gegenwärtige Krise zu verstehen.
Das Ansehen, das Mali noch vor kurzem genoss, beruhte auf zwei Sichtweisen, deren Unvereinbarkeit lange nicht auffiel. Für die Regierungen des Westens und die Entwicklungshilfeorganisationen war Mali eine genehme Vorzeigedemokratie: Da wurde brav gewählt, privatisiert, mit IWF und Weltbank kooperiert. Bei den Weltsozialforen trat ein anderes Mali auf: eine widerständige Zivilgesellschaft, die gerechten Handel und Schuldenerlass forderte. Beide Sichtweisen machten aus Mali einen Sympathieträger, ein Stück besseres Afrika, mit guter Musik.
Tatsächlich fühlten sich die meisten Malier und Malierinnen in ihrer gepriesenen Demokratie schon lange nur als StatistInnen. Manche trugen Gewänder mit dem Slogan einer politischen Partei; solche Stoffe wurden zu bestimmten Anlässen billig auf den Markt geworfen. Sprach man jemanden auf eine solche Kleidung an, dann schaute er verwundert an sich herunter: Oh, was steht denn da?! Nur jeder vierte Malier kann lesen. Politiker werden, das hieß in den Augen der Bevölkerung: sich an die Fleischtöpfe heranmachen. Zu nichts anderem dienten die meisten der mehr als 100 Parteien. Korruption war offenkundig; pro Jahr wurden 150 Millionen Euro Staatsgelder fehlgeleitet, ein Drittel der Entwicklungshilfe verschwand in dunklen Kanälen. Zuletzt wurden noch die Wahlergebnisse gefälscht.
Vom demokratischen Aufbruch blieb nur das Pathos
Im März, nach einem ungelenken Coup unterer Offiziere, fiel diese Demokratie zusammen wie ein Kartenhaus. Sie war nur noch Fassade gewesen; wer von der Fassade profitiert hatte, verlangte ihre sofortige Wiedererrichtung. Und nur diese Kräfte gelten seitdem in den Nachrichten der Welt als Demokraten.
Außensicht und Binnensicht divergieren extrem: Kein einziger Politiker genießt mehr das Vertrauen der Bevölkerung. Die Ablehnung zielt besonders auf Interimspräsident Dioncounda Traoré. Der heute 70-jährige Mathematiker hatte in den vergangenen 20 Jahren fast jeden nur denkbaren politischen Posten inne. Er verkörpert den tragischen moralischen Niedergang einer Politikergeneration, die 1991, von großen Hoffnungen begleitet, Malis Mehrparteiensystem in Gang setzte. Zuvor hatte eine Demokratiebewegung die vormalige Militärdiktatur gestürzt; das war Malis politischer Frühling.
So schmerzlich die islamistische Besetzung des Nordens für die meisten Malier und Malierinnen ist: Sie mildert nicht die Wut auf die bisherige Führungsschicht. Diese Politiker ohne neue Wahl nun wegen der nationalen Notlage wieder inthronisiert zu sehen, ist extrem unpopulär. Deshalb herrscht nun ein lautloser Stellungskrieg: Wer vom bisherigen System profitierte, will die Macht der gestürzten Klasse restaurieren; alle anderen wollen genau das verhindern. Von außen betrachtet hat es den Anschein, als sehe Mali teilnahmslos seinem eigenen Zerfall zu. In Wirklichkeit sehen viele Malier und Malierinnen ihr Land an einem historischen Scheidepunkt.
Gleich nach dem Putsch im März dieses Jahres gründeten sich spontan Unterstützungskomitees, vor allem unter jungen Leuten. Sie hatten darauf gewartet, dass endlich etwas passiert - und redeten sich nun den Anführer der meuternden Soldaten, Hauptmann Sanogo, zum nationalen Helden schön. Das Datum des Putsches, der 22. März, war historisch aufgeladen: An jenem Märztag des Jahres 1991 verbluteten SchülerInnen und StudentInnen auf Bamakos Straßen, im Kampf gegen die damalige Diktatur. Ein Denkmal am Niger erinnert an die Märzgefallenen von damals. Für die Jugend von heute ist von diesem demokratischen Aufbruch nur das Pathos geblieben; sie nehmen den Ton nun wieder auf, mit einem rebellischen, politisch ungebildeten Patriotismus.
Demokratische Formen sind wertlos ohne Partizipation
Auch Malis Bauernvereinigung begrüßte den Putsch. Ihr Motto lautet »Land, Arbeit, Würde«. Erst unlängst hatten Bauern vergeblich dagegen protestiert, dass Malis privatisierte Baumwollgesellschaft zur Hälfte an einen chinesischen Investor verkauft wurde. Ein Militärcoup als Chance für mehr soziale Gerechtigkeit? So dramatisch können demokratische Formen an Wert verlieren, wenn sie keine wirkliche Partizipation bedeuten. An vorderster Front der zivilen Putschunterstützer steht der Arzt Oumar Mariko, Parlamentsabgeordneter und Generalsekretär einer kleinen linken Partei namens SADI (»Solidarité africaine pour la démocratie et l'indépendance«). Mariko ist seit seinen Studententagen ein bekannter Aktivist in Mali, kandidierte selbst schon für die Präsidentschaft. Der Putsch sei »heilsam«, sagte er. »Um es zu präzisieren: Ein Putsch wird geächtet in einem demokratischen Staat, aber nicht in einem Land, in dem alle Rechte (der Bevölkerung, Anm.d.R.) verhöhnt werden.« Die frühere Kulturministerin Aminata Traoré, international die bekannteste Gestalt der malischen Zivilgesellschaft, weigerte sich zumindest, den Putsch zu verurteilen: Sie wollte nicht den Beifall der falschen Seite bekommen.
Schon 2009 gründete sich eine »Patriotische Koalition«, die eine generelle Säuberung der korrupten Verwaltung forderte. Zu der Gruppe zählt Regierungspersonal aus der ersten, noch hoffnungsvollen Phase nach der Wende 1991; etwa der Philosophieprofessor Issa Ndiaye, ein früherer Bildungsminister. »In 20 Jahren demokratischer Praktiken sind Mali und die Malier ärmer geworden«, bilanziert Ndiaye nun. Den afrikanischen Staaten seien westliche Demokratiemodelle aufgedrängt worden, um sie besser ausbeuten zu können. Nun müsse über Alternativen nachgedacht werden: »Befreien wir unsern kolonisierten Geist, um Afrika und nicht dem Westen zu dienen.«
Bei den Kräften für einen radikalen Wandel lassen manche Töne ein wenig zusammenzucken; etwa wenn Ndiaye sagt, die Scheidelinie verlaufe nicht zwischen Antiputschisten und Putschisten, sondern »zwischen Feinden und Freunden des Volkes«. Der Überdruss an einem System, das demokratisch nur der Form nach war, hat zu einer gewissen Verachtung demokratischer Formen an sich geführt. Bereits vor dem Putsch sprachen ältere Malier und Malierinnen nostalgisch von der sozialen Stabilität in den Jahrzehnten der einstigen Diktatur.
In der Bevölkerung wie unter Intellektuellen macht nun ein Verratsvorwurf die Runde. »Es ist die Schande des malischen Volkes, von seinen eigenen Söhnen verraten und dem Feind ausgeliefert worden zu sein«, heißt es in einem Aufruf. Der Ausverkauf des Landes durch das bisherige Regime - dazu zählt aus dieser Sicht der Verkauf großer Ackerflächen an ausländische Investoren ebenso wie die laxe Handhabung der wachsenden Krise im Norden. Unter das Stichwort Demütigung wird nun auch subsumiert, wie die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (CEDEAO) in die malischen Angelegenheiten hineinregiert.
Seit Beginn der Krise versuchen jene Staatschefs, die in der CEDEAO tonangebend sind, Mali Lösungen aufzuzwingen, die unter den Maliern und Malierinnen keine Zustimmung finden: Den ungeliebten Interimspräsidenten ein ganzes Jahr im Amt zu halten, folgt einem Diktat der CEDEAO, und deren ständiges Drängen auf eine militärische Intervention dient eher französischen Interessen als malischen. In Mali plädiert, soweit bekannt, nur eine einzige Gruppe für eine ausländische Intervention im Norden: Die Wortführer der Songhai; das ist die in der Region Timbuktu vorherrschende Ethnie. Viele Songhai wurden aus Einfluss und Besitz vertrieben. Die Mehrheit der Malier und Malierinnen will indes keine ausländischen Soldaten im Land sehen, sondern den Norden mit der eigenen Armee und mit bewaffneten Freiwilligen zurückerobern.
Auf der internationalen Bühne spielen derweil die Brandstifter den Biedermann. Burkina Fasos Präsident Blaise Compaoré, der sich als Vermittler in Szene setzt, hat sich soeben durch seine Parlamentsmehrheit eine Rund-um-Amnestie in eigener Sache zusichern lassen: Er selbst kam 1987 durch einen blutigen Putsch an die Macht; sein Vorgänger Thomas Sankara wurde damals mitsamt seinem ganzen Kabinett ermordet. Der Revolutionär Sankara ist bis heute als einer der beliebtesten Führer Afrikas in Erinnerung. Der Name Campaoré steht hingegen für Korruption, schlechte Regierungsführung, Unterdrückung von Gewerkschaften und kritischer Presse. Unter »Wiederherstellung der Demokratie in Mali« verstehen solche Leute genauso jene Art des Regierens, die sie ihrem eigenen Volk zumuten.
Im Kern konfrontiert die malische Krise deshalb mit einer großen, noch unbeantwortbaren Frage: Wie kann in den Ländern des Südens eine veritable Demokratie aussehen? Eine Demokratie der Armen, die der Bevölkerung hilft, sich für ihre Interessen zu organisieren?
Charlotte Wiedemann hat Mali mehrmals bereist und dort zu Demokratie, Islam und Migration recherchiert.
Nordmali
Die Befürchtung, in ganz Mali drohe die Herrschaft radikaler Islamisten, entbehrt jeder Grundlage. Nicht durch Religion, sondern mit Waffen und mit Geld haben sich Kampfgruppen verschiedener Couleur den Norden untertan gemacht. Unter ihnen dominiert die maghrebinische Filiale von Al-Qaida: Angeführt von Algeriern hatte sich AQMI in den Weiten der nordmalischen Sahara bereits seit fünf Jahren installiert; ein Teil der malischen Tuareg-Rebellen hat sich nun mit den Jihadisten verbündet. Durch Lösegelder für entführte EuropäerInnen (gerade kamen für drei Geiseln 15 Millionen Euro neu in die Kasse) und durch internationalen Drogenhandel wurden die kriminellen Netzwerke der bewaffneten Kämpfer finanziell extrem potent - und sie hatten ihre Gewährsleute in der Verwaltung von Malis nun gestürzter Fassadendemokratie. Geld wird auch eingesetzt, um die Bevölkerung des Nordens zu umgarnen: In der Stadt Gao wurden die Preise für Brot und Zucker gesenkt.
Die bewaffneten Gruppen gehen derzeit taktische, temporäre Allianzen ein. Das wirkt verwirrend, weil alles viel mehr von Geld, militärischer Stärke und schierem Opportunismus bestimmt wird, als von religiösen oder politischen Zielen. Bamako will nun verhandeln; dadurch könnten sich die Kräfte neu ausrichten: Nicht ausgeschlossen, dass jene säkularen Tuareg, die vor Monaten einen Staat proklamierten, in dem sie selbst nur eine Minderheit sind, demnächst an der Seite der malischen Armee gegen die Jihadisten kämpfen. Die Rebellen mögen zu Beginn auch berechtigte Interessen gehabt haben; das berechtigte sie aber kaum, hunderttausende Nordmalier und Nordmalierinnen ins Flüchtlingselend zu stürzen und die Verbliebenen religiös verbrämter Willkür auszuliefern.