»Krass, das ist ja wie in den 90ern«
Rostock-Lichtenhagen Die Bedeutung von Lichtenhagen für AktivistInnen heute
Von Stefan Walkowiak
Als wir in den letzten Jahren regelmäßig vor dem Sonnenblumenhaus Demos und Kundgebungen gemacht haben, war allen klar, was dies für ein Ort ist und was Lichtenhagen bedeutet - auch wenn viele aus der heutigen linken Szene 1992 noch nicht einmal geboren waren. »Die Antifa« ist zumindest hier im Bundesland nunmal überwiegend ein Jugendphänomen. Wenn man also als 17-Jährige beginnt, sich in Mecklenburg gegen Nazis zu engagieren, dann ist Lichtenhagen vor allem ein historisches Thema.
In den Köpfen einiger Leute, die zum Beispiel zum Studieren nach Rostock gekommen sind und sich dann in die hiesige Szene eingebracht haben, sind Lichtenhagen bzw. die medialen Bilder davon noch immer sehr präsent. Die sind dann sehr erstaunt, dass Rostock nicht nur aus Plattenbauten besteht, so wie sie sich das von den Fernsehbildern her vorgestellt hatten.
Gerade jetzt vor dem 20. Jahrestag gibt es wieder eine verstärkte Beschäftigung mit Lichtenhagen und den Verhältnissen Anfang und Mitte der 1990er Jahre. Doch das damalige Lebensgefühl ist heute zumindest bei der jüngeren Generation nicht mehr da. Die Zeit des sogenannten Aufstandes der Anständigen - in die ja auch die nun aufgedeckte Mordserie des NSU fällt - war für die jüngeren Leute sicherlich viel prägender als das Pogrom von Lichtenhagen. Allerdings passieren in Mecklenburg-Vorpommern immer wieder Dinge, bei denen man sich denkt: »Krass, das ist ja wie in den 90ern« - auch wenn man die 1990er Jahre selbst gar nicht aktiv miterlebt hat. In Anklam gab es vor Kurzem zum Beispiel eine Welle von sehr brutalen Angriffen durch die lokalen Neonazis, die immer noch in ihren alten Strukturen wie dem Kameradschaftsbund Anklam organisiert sind. Da wurden dann die Angegriffenen zunächst auch noch von der Polizei verdächtigt: Du wirst extrem brutal zusammengeschlagen, niemand hilft dir und am Ende wirst du auch noch unter Verdacht gestellt. Dieses Gefühl, alleine dazustehen, ist eine Erfahrung, die man im Bundesland auch heute noch erleben kann. Zur Frage der Prägung muss man noch sagen, dass es vor zehn Jahren in Vorpommern eine Welle von Morden an Obdachlosen und alkoholabhängigen Menschen gab. Diese massive Häufung von tödlicher Neonazigewalt gegen einige der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft - das ist sicherlich bei vielen jüngeren der heute Aktiven präsenter.
Trotzdem gibt es durchaus Strukturen und Netzwerke vor Ort, die aus den Ereignissen von Lichtenhagen hervorgegangen sind, wie zum Beispiel der Verein Dien Hong. Dort hat es aber eine Professionalisierung und eine Etablierung in der lokalen Zivilgesellschaft gegeben. Bei der Antifa oder der Linken in der Stadt ist es eher so, dass das Ereignis auf die Menschen gewirkt hat und diese Motivation, sich gegen Nazis zu engagieren, immer noch anhält. Und durch diese Menschen und ihr Engagement ist natürlich auch eine fortdauernde Wirkung da. Am ehesten könnte man sagen, dass diese beiden Momente in den alternativen Projekten der Stadt wie dem JAZ, dem Café Median und auch beim Peter-Weiss-Haus zusammenkommen. Die Geschichte dieser Orte kann nicht ohne die Erfahrung von Lichtenhagen erzählt werden. Denn das Bestreben, Freiräume zu schaffen, Orte zu erkämpfen, an denen es zumindest zeitweise keine unmittelbare Bedrohung durch Nazis mehr gibt, hängt ja eng mit den Verhältnissen von damals zusammen.
Die Perspektiven von eher älteren und eher jüngeren Leuten unterscheiden sich schon deutlich voneinander. Die jüngeren Leute, die heute in den Projekten aktiv sind, stehen in gewisser Hinsicht in der Tradition einer Geschichte der Linken vor Ort, auch wenn sie das nicht wissen oder ihnen das im Alltag nicht bewusst ist. Für Menschen, die 1992 und danach versucht haben, antifaschistischen Selbstschutz zu organisieren, sieht das mit Sicherheit ganz anders aus. Für sie ist das Pogrom auch heute noch ein sehr wichtiger Bezugspunkt im Selbstverständnis als AntifaschistInnen. Um so wichtiger scheint mir aber, dass die Szene jetzt zum 20. Jahrestag ihre eigene Geschichte auch aufarbeitet oder sie überhaupt als eine Geschichte erzählt. Denn nur so können sich die Jungen heute das Pogrom auf eine andere Weise aneignen als die, die sie in der Schule im Unterricht lernen. Die Fakten und Daten zu kennen - wann wurden die Wasserwerfer abgezogen, wann wurden die ersten Flüchtlinge evakuiert, wann flogen die ersten Molotowcocktails, wann wurde das Recht auf Asyl abgeschafft - das ist das eine. Wie sich all dies im Alltag angefühlt hat, wie es war, in dieser Gesellschaft zu leben, das kann man jungen Menschen nur zugänglich machen, wenn man es ihnen erzählt.
Ich meine damit zum Beispiel dieses eigenartige Nebeneinander: Auf der einen Seite träumst du als Linke davon, Revolution zu machen, alles zum Besseren zu verändern, alle unterdrückenden Verhältnisse umzuwerfen und so weiter; aber auf der anderen musst du einen wahnsinnigen Abwehrkampf gegen die Gesellschaft führen, die sich im besten Falle nicht für dich interessiert und die in den schlimmsten Momenten auf der Straße steht und klatscht, während ein Haus angezündet wird, in dem sich Menschen befinden.
Stefan Walkowiak ist ein Rostocker Antifaschist und wurde in diesem Jahrtausend politisch aktiv.