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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 574 / 17.8.2012

Es war eine Zeit voller Widersprüche

Rostock-Lichtenhagen Die 1990er Jahre wurden in der Linken sehr unterschiedlich wahrgenommen - und doch zum Teil ähnlich bewertet

Zusammengestellt von der ak-Redaktion

Fassungslos saßen viele vor deutschen Fernsehern, Ohnmacht ist das Wort, das im Zusammenhang mit dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen wohl am häufigsten fällt. Wir haben gefragt, was die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen für Linke und für linke Politik bedeuteten. Die Antworten sind so unterschiedlich wie die Bedingungen, die an verschiedenen Orten herrschten: als Antifa im Osten, als Autonomer in der westdeutschen Großstadt, als Zecke auf dem Land, als Linke in Ost und West.

Manche reden von einer vertanen historischen Chance

Es war eine Zeit voller Widersprüche. Rostock insgesamt war geprägt von Umbrüchen. Besonders die Kämpfe um die Abwicklung der Werften und die Treuhand-Proteste waren prägend: 1991 gingen noch 35.000 Menschen auf der Straße. Von früher 55.000 Beschäftigten im Schiffbau waren Ende 1992 noch 17.000 übrig.

Für uns war der Anfang der 1990er Jahre auf der einen Seite geprägt von extremen Freiräumen, der relativen Unsichtbarkeit des Staates und einem Gefühl von »alles ist möglich«. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Wir demonstrierten für den Erhalt von DT64 (ein linkes Radio, das der NDR zum 31.12.1991 abschaltete) und besetzten unsere Schulen. Es gab alternative Zentren und besetzte Häuser. Die Szene war breit, aber noch nicht ausdifferenziert. Es gab gemeinsame Treffpunkte und damit einen regen Austausch.

Auf der anderen Seite waren Auseinandersetzungen mit Nazis ganz selbstverständlich. Besonders nach Fußballspielen mussten wir mit einem größeren Nazimob, der durch die Stadt zog, rechnen. Übergriffe auf Einzelne gehörten ebenso dazu wie regelmäßige Angriffe auf das JAZ (Jugend Alternativ Zentrum) und unsere Häuser. Wir wussten zum Teil schon vorher: Morgen Nachmittag wird es wieder einen Angriff geben. Diese Übergriffe fanden in einem rassistisch aufgeladenen Klima statt. So gab es Kampagnen von LadenbesitzerInnen, die dazu aufriefen, Besen in die Fenster zu stellen. Dies sollte Sinti davon abhalten, die Läden zu betreten. Die allgemeine politische Diskussion war wie überall bestimmt von einer rassistischen Hetze der politischen Eliten und der Medien. In den Schulen gab es eine klare Polarisierung zwischen links und rechts. In Teilen der Stadt war es ganz normal, irgendwie rechts zu sein.

In dieser Situation gehörte für uns Antifaarbeit einfach dazu. Dies beinhaltete klare politische Kampagnen (z. B. Mobilisierung zur Verhinderung des Gründungsparteitages der DVU) und militante Kämpfe. Auch Antira war in dieser Zeit noch nicht so klar getrennt. Es gab Kontakte zu migrantischen Communities und Kampagnen wie z.B. gegen die oben erwähnten Besen.

Als sich im August 1992 die Zuspitzung der Situation in Lichtenhagen abzeichnete, nahmen wir das ernst, konnten uns aber die Dimension des Pogroms nicht vorstellen. Wir schickten Leute von uns zusammen mit anderen nach Lichtenhagen und mobilisierten in Antifazusammenhängen nach Rostock. Es war bezeichnend, wie viele Antifas dann kamen und wie wenig wir gemeinsam in der Lage waren, mit der Situation umzugehen. Es gab Versuche vor Ort aktiv zu werden, aber auch große Unentschlossenheit. Manche reden hier von einer vertanen historischen Chance.

Für uns in Rostock wurde dadurch das Ziel wichtig, einen breiten Antinazi-Konsens in der Stadt zu schaffen. Wir haben in den folgenden Jahren durch Bündnisarbeit auf verschiedenen Ebenen versucht dies zu erreichen. Hierbei war vor allem Ansprechbarkeit von Bedeutung. Durch das JAZ waren wir Teil einer städtischen Vernetzung von Jugendklubs und konnten so z.B. die schlimmsten Auswüchse von akzeptierender Jugendarbeit verhindern und uns als lokale Player etablieren. Dadurch haben wir viele ernsthafte Bündnispartner in der Stadtverwaltung, bei den Parteien und in der Zivilgesellschaft gefunden. Durch die gemeinsamen Erfahrungen in der Mecklenburger Allee hat sich z. B. der Kontakt zu den VietnamesInnen und zum Ausländerbeauftragten intensiviert, und wir konnten zusammen für ein Umdenken in der Unterbringungspolitik der Stadt sorgen. Für uns war aber auch klar, dass der Naziterror auf der Straße nur durch militante Gegenwehr gestoppt werden kann.

Frieda Mau hat sich Anfang der 1990er Jahre in Rostock politisch sozialisiert.

Die Linke entpuppt sich als handlungsunfähig

Als ein rassistischer Mob aus Neonazis, Hooligans und rechten Jugendlichen die ZAst und das Wohnhaus der ehemaligen VertragsarbeiterInnen aus Vietnam über Tage angriff, war das für uns als Linke sowie für unser gesamtes politisches Umfeld eine völlig neue Dimension des kollektiven Gewalt-Exzesses. In den Tagen des Pogroms von Lichtenhagen war das Rostocker Jugend Alternativ Zentrum (JAZ) zentraler Anlaufpunkt für radikale Linke, die aus anderen Städten anreisten, um zu helfen. Doch zu keiner Zeit befanden sich dort mehr als 200 Personen.

Sie standen einem bis dahin nicht gekannten aggressiven und rassistisch-nationalistischen Treiben gegenüber. Die Situation in Rostock-Lichtenhagen war für viele anders als erwartet. Man sah sich nicht nur, wie sonst üblich, den Neonazis gegenüber, sondern einem rassistischen Mob. Hier war die »ganz normale Bevölkerung« auf der Straße und machte das Pogrom erst zu einem »völkischen Massenevent«. Die Frage, was man so einem entfesselten, tausendfach Hass grölenden Mob entgegensetzen soll und kann, blieb für viele in dieser Situation unbeantwortet.

Desorientiert und ratlos beschränkten sich die meisten auswärtigen Linken auf Herumsitzen und Warten. Gelegentliche Patrouillenfahrten durch die Innenstadt waren die einzige Beschäftigung. Die Rostocker Linken hingegen waren in erster Linie bemüht, das JAZ vor eventuellen Nazi-Angriffen zu schützen. Nur eine Handvoll Rostocker AktivistInnen hatte den Mut, in das Haus zu gehen und die VietnamesInnen praktisch zu unterstützen. Am Sonntag wollte man nicht mehr passiv zuschauen, eine Spontandemo mit 200 AntifaschistInnen zog vor die ZAst. Sie wurde zum Desaster. 60 Personen wurden eingekesselt und stundenlang festgesetzt.

Die zentrale Frage ist: Wo war die Linke, um Widerstand gegen die Pogromstimmung zu leisten und den schutzlosen MigrantInnen und Flüchtlingen zu helfen? An den Tagen und Nächten der rassistischen Hatz waren nur ein paar hundert Menschen vor Ort. Ihre Möglichkeiten mussten begrenzt bleiben. Erst zur Großdemonstration Ende August reisten 20.000 Menschen an.

Nach Rostock-Lichtenhagen stand die Antifa zunächst hilf- und konzeptlos an den Brandstellen der neuen deutschen Geschichte. All die antifaschistische Feuerwehrpolitik, die Mahnwachen, Demonstrationen, Protestaktionen, all die direkten Auseinandersetzungen mit Neonazis hatten wenig bewirkt, denn die Flüchtlingsheime brannten weiter. Und nicht nur im Osten. Man denke an Solingen, Mölln, Mannheim-Schönau.

Die klassische Herangehensweise antifaschistischer Politik stieß in Rostock mit voller Wucht an ihre Grenzen. Der Glaube an die Rolle der Antifa als alleiniges Bollwerk gegen die faschistische Gefahr in Deutschland stand vor einem riesigen Scherbenhaufen.

Rings um das Pogrom waren zwar diverse antifaschistische »Sport-Combos« unterwegs und versuchten, im Umfeld des Pogroms Nazis auszuschalten. Doch diese militanten Aktionen konnten die Pogrome weder be- noch verhindern. Sie dienten lediglich zur Befriedigung einer eigenen, ganz persönlichen und doch ausgesprochen hilflosen Wut. Und sie waren letztendlich nur Ausdruck der unglaublichen Ohnmacht.

Angesichts der vielen Pogrome war ein politisches Umdenken erforderlich. Nach einer Phase der politischen Lähmung begannen erste Versuche, die bisherigen politischen Nischen bewusst zu verlassen. Um politisch wirkungsvoller agieren zu können, wurden in den Folgejahren neue Ansätze probiert. In den östlichen Bundesländern setzten einige Antifagruppen zunehmend auf eine breite Bündnisarbeit und eine bessere Zusammenarbeit vor allem mit antirassistischen Gruppen. Antirassistische Überfalltelefone gab es in Großstädten wie Berlin bereits. In anderen Orten wurden Telefonketten organisiert, Antifagruppen organisierten Schutz für örtliche Flüchtlingsheime. Als Reaktion auf die Welle rechter Gewalt gründeten sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erste Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt.

Dass sich heute immer mehr Menschen offen und entschlossen Aufmärschen der extremen Rechten entgegenstellen, ist vielleicht ein Ergebnis dieses Lernprozesses. Eine Hoffnung, von der man vor 20 Jahren in Rostock-Lichtenhagen nicht einmal zu träumen gewagt hat.

Judith Porath lebte Anfang der 1990er Jahre in Berlin und war in der Antifa aktiv. Sie arbeitet heute bei der Opferperspektive Brandenburg. Dietmar Wolf war Teil der linken DDR-Opposition und Mitbegründer der Antifa Ostberlin. Bis heute gehört er zur Redaktion der Zeitschrift telegraph.

Die Illusion vom demokratischen Deutschland

Wir als Linke bzw. Antifas waren nur Randfiguren der Ereignisse. Zwar gab es natürlich auch täglich Angriffe auf linke Projekte und Personen, und »linke« Positionen waren öffentlich kaum wahrnehmbar, aber der geballte Hass - nicht nur der organisierter Nazis, sondern auch riesiger Teile der Mehrheitsbevölkerung - richtete sich vor allem gegen MigrantInnen und Menschen, die aufgrund rassistischer Zuschreibungen dafür gehalten wurden.

Es gab schon vor »Rostock« Versuche von linken Personen und Gruppen, sich mit MigrantInnen zu solidarisieren und sie bei der Abwehr von Naziangriffen zu unterstützen. In Anbetracht der Pogrome wurde aber klar, dass diese Kontakte verstärkt werden mussten. Das war im Osten aus verschiedenen Gründen nicht so einfach. Hier in Halle (Saale) gab es aber über einzelne Leute recht gute Kontakte, so dass an mehreren Wochenenden Antifas gemeinsam mit Flüchtlingen in deren Unterkünften Wache hielten, um Nazis abzuwehren.

Leider sind diese Kontakte nach dem ersten Abflauen der Angriffe nicht weiter aufrechterhalten worden. Das hat viel mit der hohen Fluktuation der AsylbewerberInnen und ihrer minimalen Selbstorganisation zu tun - aber sicher auch mit fehlendem Engagement von unserer Seite.

Direkte Folge für uns als Linke war, dass sich die Nazis durch den Schulterschluss mit dem rassistischen Mob noch stärker als vorher als »Vollstrecker des Volkswillens« sahen und sich durch den »Erfolg« von Rostock zu weiteren Angriffen auch auf linke Strukturen ermutigt fühlten. Die Taten von Rostock und die unzähligen weiteren Pogrome, die - zumindest im Osten - flächendeckend folgten, gaben den organisierten Nazistrukturen einen immensen Zulauf und Organisierungsschub. Linke Politik war mittelfristig auf die Gegen- und Abwehr von Naziaktionen beschränkt.

Parallel dazu wurde für Linke klar, dass die eigenen Positionen unendlich weit von denen der Mehrheitsgesellschaft entfernt waren. Das führte zu einer deutlichen Radikalisierung gegenüber dieser Mehrheit. Ein positiver Bezug auf die »deutschen ArbeiterInnen« war spätestens jetzt nicht mehr möglich. Bei zahlreichen Aktiven folgte ein Bruch mit »traditionellen« linken Positionen, das stärkte antinationale und antideutsche Ansichten.

Gab es vorher noch Illusionen über den demokratischen Charakter des »wiedervereinigten« Deutschland, waren auch diese nun gründlich als Irrtum widerlegt. »Der Staat« hatte nicht nur, wie das damals immer wieder kritisch angemerkt wurde, vor den Nazis kapituliert, sondern hatte deren mörderisches Potenzial genutzt, um die Asylgesetze abzuschaffen.

Schon den direkten Reaktionen der landes- und bundespolitischen VertreterInnen auf die Pogrome war zu entnehmen, dass es dort nicht die Spur von Empathie oder Verantwortungsübernahme gab. So forderte der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters auf einer Pressekonferenz in Rostock am 24. August 1992 »Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben«. Die angegriffenen Flüchtlinge wurden zu den Verantwortlichen für die Menschenjagd auf sie gemacht. Kaum waren die Brandsätze im »Sonnenblumenhaus« erloschen, gab es auch schon die Forderung nach Abschaffung des Artikel 16 GG als angeblich logische Konsequenz aus den Angriffen.

Dass dafür das Leben von über 100 Menschen direkt in Rostock und das von unzähligen weiteren potenziellen und tatsächlichen Opfern der neonazistischen und rassistischen Gewalt in den Folgejahren billigend in Kauf genommen wurde, ist ein Skandal, der nicht genug betont werden kann.

Daniel B. beteiligte sich in Halle bereits in den letzten Jahren der DDR am antifaschistischen Widerstand gegen organisierte Neonazis und ist seitdem für verschiedene linke Gruppen aktiv. Er war u.a. im August 1992 in Rostock, um AntifaschistInnen und MigrantInnen vor Ort zu unterstützen.

Wir sahen Bilder in der Glotze, fassungslos, wie gelähmt

In Hamburg hatten antifaschistische und antirassistische Gruppen bereits zu Jahresbeginn ein Antirassistisches Telefon (ART) eingerichtet, weil auch hier Flüchtlingsunterkünfte angegriffen und Flüchtlinge bedroht worden waren. Einer unserer politischen Schwerpunkte war damals der Kampf gegen die Umverteilung von Flüchtlingen von West nach Ost. Im Westen hatte sich schon eine unterstützende Infrastruktur entwickelt, im Osten gab kaum etwas, wohin sich Flüchtlinge wenden konnten.

So waren etliche von uns auch schon mal in Rostock, weil Leute aus Hamburg in die ZAst im Sonnenblumenhaus »umverteilt« wurden. Wir kannten die katastrophalen Zustände dort. Überfüllung und totale Verwahrlosung des Gebäudes machten die ZAst schon im Frühsommer für die, die »drinnen« waren, unerträglich. Dann mussten die Roma draußen bleiben. Diese Bilder illustrierten nun die monatelange Hetze vom »vollen Boot«.

Und dann kam das Pogrom. Wir sahen die Bilder täglich in der Glotze, fassungslos, wie gelähmt. Trotz allem konnte sich niemand, den ich kannte, vorstellen, dass es immer weitergehen würde. Dass keine Bereitschaftspolizei mit heruntergeklappten Visieren, Schildern und Schlagstöcken vor den Häusern aufziehen würde, um die BewohnerInnen zu schützen und die AngreiferInnen zurückzutreiben. Dass keiner die Nazis festnahm. Dass sich jeden Tag mehr Menschen zusammenrotteten, dass kein Mitgefühl und keine Polizei sie aufhielt. Dass das Haus brannte und keine Feuerwehr kam - und als sie kam, kam sie nicht durch.

Mit Zehntausend anderen fuhren wir am folgenden Wochenende zur Demo nach Lichtenhagen. Und da war wieder alles »normal«: In Bad Doberan wurden wir aufgehalten, eingekesselt. Da sprangen PolizistInnen aus Mannschaftshelikoptern und sahen furchteinflößend aus in ihrer »Ninja«-Ausrüstung mit Arm- und Beinschutz und Brustpanzern, mit Schlagstöcken im Anschlag.

Daran, dass man in Mecklenburg keinen Polizei-Einsatz organisieren kann, hat es also nicht gelegen. Daran habe ich mich wieder erinnert, als bekannt wurde, dass es einen NSU gab, der in aller Ruhe zehn Menschen ermorden konnte, während Polizei und Geheimdienste das Privatleben der Opfer ausforschten und sie teilweise öffentlich in die Nähe der »organisierten Kriminalität« rückten.

Die üblichen Betroffenheits-Bekundungen der PolitikerInnen waren damals kurz und knapp. Und dann wurden Konsequenzen gezogen: Artikel 16 des Grundgesetzes wurde gestrichen, Deutschland war ab sofort von »sicheren Drittstaaten« umgeben, in die Asylsuchende möglichst wieder »zurückgeschoben« werden sollten.

Das ART musste von nun an Flüchtlinge weniger vor Nazis schützen als ihnen gegen den institutionalisierten Rassismus beistehen. Und so wurde aus einer Vernetzung zur Intervention eine noch heute ehrenamtliche Anlauf- und Beratungsstelle für Flüchtlinge: das Café Exil.

Cornelia Kerth vertrat die VVN-BdA in einem Bündnis aus Organisationen und Initiativen, das in Hamburg das Antirassistische Telefon betrieb. Heute ist sie Bundesvorsitzende der VVN-BdA.

Viele Fragen wurden gerade in dieser Zeit aufgeworfen

Die Konfrontationen im Westdeutschland der 1980er Jahren waren im Wesentlichen durch recht klare Konstellationen geprägt: Auf der einen Seite die sozialen Bewegungen, die AKWs, Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen, Startbahn West usw. verhindern wollten. Auf der anderen Seite der Staat mit einem zunehmend massiven Gewaltapparat, der all dies durchsetzen wollte. In den meisten Fällen sympathisierte die (lokale) Bevölkerung mit unseren Anliegen. Die schweigende Mehrheit blieb zu Hause bzw. stellte sich uns nicht in den Weg, was mit »passivem Konsens« recht gut umschrieben ist.

Ob in Wackersdorf, an der Startbahn West oder in Brokdorf: Man konnte den Eindruck haben, dass wir für eine Mehrheit agierten, dass das, was numerisch als Minderheit in Erscheinung trat, in gesellschaftlichem Sinne eine Mehrheit hinter sich wusste - so etwas wie eine »kulturelle Hegemonie«, was die Straße, den öffentlichen Raum, den Diskurs, die Zuspitzungen, die klammheimliche Freude anbelangte.

Diese Zuversicht, dieses Trugbild zerbrach mit den Ereignissen 1991 ff. auf dramatische, erschütternde Weise. Es war die Zeit des Entsetzens und die Zeit einer kaum aushaltbaren Ohnmacht. Kaum ein Tag verging ohne eine Zeitungsmeldung, ohne einen Fernsehbericht, in dem von neuen rassistischen Angriffen berichtet wurde. Dass organisierte Neonazis solche Angriffe machen, kannten wir - auch wenn dies recht selten vorkam. Dass Hunderte, Tausende von »aufgebrachten« BürgerInnen ein Flüchtlingsheim belagerten, dass die Straße in jenen Jahren dem »rassistischen Mob« gehörte, schockierte uns alle.

Auf einmal hatten wir es nicht nur mit Neonazis und der Polizei zu tun, sondern mit einer Bevölkerung, die in Teilen mit den rassistischen TäterInnen sympathisierte und in großen Teilen mit einer Großen Koalition, die eine unblutige und effektive Lösung des »Asylproblems« versprach.

Selten war unser Widerstand so hilflos, selten waren unsere Reaktionen so symbolisch und wirkungslos. Wir konnten die Angriffe auf Flüchtlingsheime nicht verhindern, und die meisten Gegendemonstrationen, Tage oder Wochen später, hatten etwas Gespenstiges und lächerlich Drohendes. Was wir Mitte der 1980er Jahre beklagten, im Scheinwerferlicht großer (und gelungener) Kampagnen, unsere Kraft und unsere Verankerung zu überschätzen, auf Demonstrationen, aber nicht im Alltag (als Alternative) präsent zu sein, fiel uns schmerzhaft auf die Füße.

Die geradezu täglichen Angriffe auf Flüchtlinge, MigrantInnen, Behinderte, Langhaarige und alles, was nicht »deutsch« genug aussieht, die offene Sympathie der Schaulustigen und die Gleichgültigkeit derer, die zuhause blieben, ließ bestenfalls punktuelles Handeln zu. Dazu zählten auch die Versuche der »Wohlfahrtsausschüsse«, mit einem Tross aus antirassistischen Gruppen und Antifas aus dem Westen im »Osten« zu intervenieren.

Es gibt sicherlich viele Fragen, die gerade in dieser Zeit aufgeworfen wurden, Ratlosigkeit und Zerwürfnisse zurückließen. Die wichtigsten Fragen bleiben: Warum haben die meisten von uns mit Flüchtlingen und MigrantInnen erst etwas zu tun bekommen, als sie Opfer rassistischer Angriffe wurden? Warum hatten, warum haben wir so wenig mit ihnen zu tun, als Handelnde, als Subjekte, die in den allermeisten Fällen nichts mit den Projektionen von einem ortsungebundenen, nomadierenden Leben zu tun haben.

Wolf Wetzel war Autor der autonomen L.U.P.U.S.-Gruppe und schrieb im Juni 2008 in ak 529 den Artikel »Entsetzen und kaum aushaltbare Ohnmacht«, aus dem dieser kurze Auszug stammt.