Chronik: Von Hoyerswerda bis Solingen
Anfang der 1990er Jahre kam es zu einer Welle rassistischer und neonazistischer Gewalt. Sie war die Begleitmusik für die faktische Abschaffung des Asylrechts. Schon bald waren viele der rechten Anschläge in den Medien kaum mehr als eine Randnotiz - lieber machte man Auflage mit Schlagzeilen wie »Das Boot ist voll!« Die Auswahl der Ereignisse ist daher notgedrungen unvollständig.
17. September 1991 Ca. 15 Neonazis greifen im sächsischen Hoyerswerda VietnamesInnen an, die Zigaretten verkaufen. Vor dem Vertragsarbeiterheim Schweitzer Straße kommt es zu Auseinandersetzungen. Immer mehr Menschen versammeln sich hier, am 19. September sind es ca. 500. Neonazis werfen Flaschen, Steine und Molotowcocktails, BürgerInnen klatschen Beifall.
19. September 1991 Während das Pogrom in Hoyerswerda in vollem Gange ist, kommt der 27-jährige Samuel Yeboah bei einem Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim in Saarlouis im Saarland ums Leben.
21. September 1991 Das Vertragsarbeiterheim in Hoyerswerda wird geräumt. Ca. 150 Menschen sammeln sich vor dem Flüchtlingsheim in der Müntzerstraße.
22./23. September 1991 Beide Heime in Hoyerswerda werden von der Polizei geräumt. Fast alle mosambikanischen VertragsarbeiterInnen werden nach Frankfurt zur »freiwilligen« Abschiebung gebracht. Etwa 40 BewohnerInnen der Heime gelingt die Flucht nach Berlin, dort leben sie zunächst in Kirchenasyl.
3. Oktober 1991 Drei Neonazis werfen nach einer Party Brandsätze auf ein Asylbewerberheim im nordrhein-westfälischen Hünxe. Zwei Mädchen erleiden schwere Brandverletzungen.
31. Januar 1992 Drei Jugendlichen verüben einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft im hessischen Lampertheim. Drei Angehörige einer Familie aus Sri Lanka sterben in den Flammen.
15. März 1992 25 Skinheads dringen in ein Asylbewerberheim im mecklenburg-vorpommerschen Saal ein und schlagen den 18-jährigen Dragomir Christinel zusammen. Der aus Rumänien stammende Christinel stirbt an den Folgen einer Hirnblutung.
18. März 1992 In Buxtehude wird der 53-jährige Kapitän Gustav Schneeclaus von zwei rechten Skinheads so brutal misshandelt, dass er vier Tage später an den Verletzungen stirbt. Auslöser war der Satz: »Hitler war der größte Verbrecher«. Einer der beiden Täter, Stefan Silar, betreibt heute den rechten Szeneladen »Streetwear« in Tostedt.
4. April 1992 Bei einem Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim im nordrhein-westfälischen Hörstel stirbt der Bewohner Erich Bosse.
9. Mai 1992 50-60 Neonazis greifen in Magdeburg-Cracau die Gaststätte »Elbterrassen« mit Baseballschlägern, Stahlrohren und Leuchtkugeln an. Acht der dort feiernden alternativen Jugendlichen müssen mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert werden, darunter der 23-jährige Torsten Lamprecht. Er stirbt am 11. Mai an einem offenen Schädelbasisbruch.
26./27. Mai 1992 Das Gerücht macht die Runde, eine 16-jährige Deutsche sei von Bewohnern des Flüchtlingsheimes in Mannheim-Schönau vergewaltigt worden. Etwa 150 Menschen ziehen vor das Heim, die Polizei verhindert dessen Erstürmung.
28. Mai 1992 Nach einem Vatertagsfest ziehen erneut mehrere Hundert Menschen vor das Flüchtlingsheim in Mannheim-Schönau, schnell sind es über 500. Beschimpfungen werden geschrien, Steine und Flaschen fliegen. Wieder verhindert die Polizei die Stürmung. In den Tagen danach lässt die Polizei die Menge mit ihren verbalen Attacken gewähren.
6. Juni 1992 Eine antirassistische Demonstration mit etwa 400 TeilnehmerInnen wird in Mannheim-Schönau durch einen Knüppeleinsatz der Polizei aufgelöst, 140 Personen werden festgenommen.
8. Juli 1992 Im baden-württembergischen Ostfildern-Kemnat wird der 56-jährige Kosovo-Albaner Sadri Berisha in seiner Unterkunft von sieben Neonazis mit einem Baseballschläger erschlagen. Nachdem sie sich Reden von Adolf Hitler angehört hatten, zogen sie los, um »Polacken (zu) klatschen«.
22. August 1992 Bis zu 2.000 Menschen versammeln sich vor der Zentralen Aufnahmestelle (ZAst) in Rostock-Lichtenhagen. Rund 200 Jugendliche und Erwachsene beginnen, das Haus mit Steinen, Leuchtspurmunition und Brandsätzen anzugreifen. Die Polizei ist mit 35 BeamtInnen vor Ort, später sind es 150. Gegen zwei Uhr morgens treffen zwei Wasserwerfer aus Schwerin ein.
22. August 1992 Die SPD verabschiedet die Petersburger Beschlüsse. Sie leiten die Wende in der Frage des Asylrechts ein und führen zum »Asylkompromiss« mit den Unionsparteien sowie zur Zustimmung der SPD zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Rahmen von UN-Friedensmissionen.
23. August 1992 Am Mittag sind wieder etwa 100 Personen vor der ZAst in Lichtenhagen. Später wird das benachbarte Wohnheim vietnamesischer VertragsarbeiterInnen angegriffen. 3.000 bis 5.000 »Schaulustige« applaudieren den über 500 AngreiferInnen. Nachts rücken Hundertschaften aus Hamburg und ein BGS-Zug an. 200 Antifas machen eine Demo durch Lichtenhagen, 60 werden in Polizeigewahrsam genommen.
24. August 1992 Die ZAst wird geräumt. Kurz nach 21 Uhr ziehen sich die Einsatzkräfte zurück. Unter Applaus werden u.a. Molotowcocktails in das Wohnheim der VietnamesInnen geworfen. Drinnen befinden sich ca. 150 BewohnerInnen, ein ZDF-Team, Wachmänner und der Rostocker Ausländerbeauftragte. Sie retten sich über das Dach. Um 0.00 Uhr werden die VietnamesInnen mit Bussen evakuiert.
25. August 1992 Ca. 1.000 Personen beteiligten sich an Auseinandersetzungen, die sich nun nicht mehr gegen das Sonnenblumenhaus, sondern gegen die Polizei richten. In der Nacht brennt im Nachbarstadtteil Groß Klein der Rostocker Neonazitreffpunkt »Max«.
28.-31. August 1992 Bis zu 200 Personen sammeln sich vor dem Asylbewerberheim in Cottbus-Sachsendorf und attackieren mit Molotowcocktails, Pflastersteinen und Waffen das Gebäude.
29. August 1992 Sprengstoffanschlag auf das jüdische Mahnmal an der Berliner Putlitzbrücke
29. August 1992 20.000 Menschen demonstrieren in Rostock-Lichtenhagen unter dem Motto »Stoppt die Pogrome. Solidarität mit den Flüchtlingen. Bleiberecht für alle!«
1. September 1992 In Flöha bei Chemnitz greifen 250 neofaschistische Jugendliche ein Asylbewerberheim und eine Diskothek mit Steinen und Brandsätzen an.
7. September 1992 In Quedlinburg wird eine Unterkunft von rumänischen und bulgarischen Flüchtlingen angegriffen. Im Laufe der Woche versammeln sich immer wieder RassistInnen vor dem Haus und bedrohen die Flüchtlinge.
10. September 1992 Menschen aus Quedlinburg versammeln sich zu einer Mahnwache vor dem Flüchtlingsheim. Einen Tag später wird diese aus einer Menge von 500 Menschen heraus mit Steinen und Leuchtspurgeschossen angegriffen. Der Fahrer eines eintreffenden Krankenwagens wird aus dem Wagen gezogen und verprügelt.
26. September 1992 Laut Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe PDS/Linke Liste »sind im 1. Halbjahr 1992 insgesamt 1.443 fremden-/ausländerfeindliche Straftaten bekannt geworden, darunter 128 Brandanschläge, 178 Angriffe gegen Personen und 1.137 sonstige Straftaten«.
26. September 1992 Durch einen Brandanschlag wird die jüdische Baracke im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen zerstört.
10. Oktober 1992 Vor einer Diskothek in Geierswalde bei Hoyerswerda versammeln sich ca. 15 jugendliche Neonazis und brüllen »Sieg Heil!« und »Deutschland den Deutschen«. Als Gäste buhen, greifen die Nazis an. Aushilfskellnerin Waltraud Scheffler will einen der Täter beruhigen. Er schlägt mit einer Holzlatte zu. Sie stirbt am 23. Oktober im Krankenhaus.
31. Oktober 1992 Brandanschlag auf die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück
8. November 1992 PolitikerInnen, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und andere Institutionen rufen unter dem Motto »Die Würde des Menschen ist unantastbar« zu einer Großdemonstration auf. 350.000 Menschen folgen dem Aufruf. Während seiner Rede wird Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit Eiern und Farbbeuteln beworfen, Autonome skandieren »Heuchler, Heuchler«.
14. November 1992 Etwa 150.000 Menschen demonstrieren in Bonn für den Erhalt des Asylrechts.
21. November 1992 Am U-Bahnhof Samariterstraße treffen Silvio Meier und drei FreundInnen auf eine Gruppe junger Neonazis, von denen einige rechte Aufnäher tragen. Die Linken nehmen ihnen die Aufnäher ab. Bei einer erneuten Begegnung mit den Neonazis ziehen diese Messer. Silvio Meier wird mit mehreren Stichen getötet, zwei seiner BegleiterInnen werden schwer verletzt.
23. November 1992 Im schleswig-holsteinischen Mölln wird ein Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häusern verübt. Dabei sterben die 51-jährige Bahide Arslan, die 14-jährige Ayse Yilmaz und die 10-jährige Yeliz Arslan.
27. November 1992 Verbot der Nationalistischen Front. Die NF ist die erfolgreichste Organisation des militanten Neonazismus in den 1990er Jahren. Zum Zeitpunkt des Verbots verfügt sie über Ortsgruppen in Detmold, Bremen und Braunschweig. In Detmold-Pivitsheide unterhält die Partei ein Zentrum, das sich im Besitz von Meinolf Schönborn befindet.
6. Dezember 1992 In München organisieren vier BürgerInnen mit mehreren hundert HelferInnen die erste Lichterkette in Deutschland. An dieser beteiligen sich 400.000 Menschen. In der Folge gibt es auch andernorts Lichterketten, 250.000 Menschen sind es in Hamburg, 300.000 in Essen, 100.000 in Nürnberg
6. Dezember 1992 Der Deutsche Bundestag beschließt mit dem »Asylkompromiss« die Neuregelung des Asylrechts.
10. Dezember 1992 Verbot der Deutschen Alternative. Die DA setzte den Plan der GdNF um, eine DDR-weite legale Partei aufzubauen (»Arbeitsplan Ost«). Mitglieder der DA waren an vielen Angriffen auf Flüchtlinge beteiligt, so in Rostock und Cottbus. Nach dem Verbot engagieren sich die Funktionäre bei den Deutschen Nationalisten, der NPD und den Nationalen.
22. Dezember 1992 Verbot der Nationalen Offensive. Es gibt Ermittlungsverfahren wegen des Verdachtes auf Bildung einer kriminellen Vereinigung und der Beteiligung an »fremdenfeindlichen Straftaten«. Bei Hausdurchsuchungen werden Schusswaffen gefunden, größere Mengen von Schwarzpulver waren bereits für einen Anschlag verpackt.
23. Januar 1993 Die Bildzeitung titelt: »Fast jede Minute ein neuer Asylant. Die Flut steigt - wann sinkt das Boot?«
19. Februar 1993 Unter dem Ruf »Schlagt die Zecken tot!« stürmen etwa 20 Naziskinheads die Diskothek »Nachtasyl« in Hoyerswerda. Mike Zerna, der Fahrer der aufgetretenen Metalband Necromanths, wird vor der Disko niedergestreckt. Ein Transporter wird auf ihn gekippt. Der 22-Jährige stirbt sechs Tage später im Krankenhaus.
23. Mai 1993 Tag X in Bonn: Der Bundestag verabschiedet die Grundgesetzänderung des Artikel 16. 10.000 Menschen demonstrieren gegen die faktische Abschaffung des Asylrechts.
29. Mai 1993 Bei einem Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus in Solingen sterben die vierjährige Saime Genç, die neunjährige Hülya Genç, die zwölfjährige Gülüstan Öztürk, die 18-jährige Hatice Genç und die 27-jährige Gürsün Ince. Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges Kind und der 15-jährige Bekir Genç werden lebensgefährlich verletzt.