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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 574 / 17.8.2012

Eine einzigartige Mordserie

Diskussion Der NSU bedeute keine neue Qualität rechten Terrors, behauptet Tomas Lecorte - das ist nicht haltbar

Von Paul Wellsow

Unter dem Titel »Mordend gescheitert« erschienen in ak 573 sechs Hypothesen zur Einschätzung des Neonazinetzwerkes Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Ein Teil der Einschätzungen von Tomas Lecorte provoziert Widerspruch. Auch wenn der Autor sie zunächst als unbewiesene Annahmen kennzeichnet, beruhen sie zum Teil auf Fehleinschätzungen - und lenken die Debatte in eine falsche Richtung. Zudem verharmlosen die Hypothesen die Taten, die Strukturen und die Verstrickung des Staates.

In der ersten Hypothese bezeichnet Lecorte den NSU »als eine lokale Erscheinung«. Eine »überregionale Vernetzung, die ein ungleich höheres Maß an Kommunikation und Struktur erfordert hätte«, erkennt er im NSU nicht. Doch die Gruppe war, gestützt auf ein über Jahre gewebtes Netz aus AktivistInnen des überregional agierenden Thüringer Heimatschutz (THS), des internationalen Nazinetzwerkes Blood & Honour (B&H) sowie einzelnen FunktionärInnen aus der NPD und den Jungen Nationaldemokraten (JN) bestens vernetzt. Sofort nach dem Abtauchen 1998 fanden die drei späteren Thüringer Mitglieder des NSU Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bei KameradInnen in Sachsen Hilfe.

NSU mit Szeneunterstützung

Bei allen weiteren Schritten konnten sie sich 13 Jahre lang auf ihre Kontakte in mehreren Bundesländern verlassen: Beschaffung von Wohnungen, Ankauf von Waffen, Herstellung von falschen Pässen, Ausweisen, Führerscheinen und Krankenkassenkarten sowie die Anmietung der Tatfahrzeuge. Von Sachsen aus agierte der NSU bundesweit. Die Orte ihrer Morde in sieben Bundesländern, der Anschläge und Banküberfälle quer durch die Republik waren gut ausgekundschaftet. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass die TäterInnen Unterstützung vor Ort bekamen.

Auch stimmt das Argument Lecortes nicht, der NSU habe aufgrund fehlender Vernetzung keine Spuren hinterlassen und habe daher nicht von den Behörden bemerkt werden können. Denn Polizei und Geheimdienste waren den Abgetauchten immer wieder dicht auf den Fersen. Spuren gab es genug. Die ErmittlerInnen hatten Fingerabdrücke, DNA- und Schriftproben, kannten Aufenthaltsorte und hielten zeitweise sogar über einen V-Mann telefonisch Kontakt. Das Verschwinden des NSU-Trios sei ein Rätsel, kommentierten Thüringer Fahnder die erfolglose Suche.

In seiner zweiten Hypothese schreibt Lecorte, der NSU »bedeute keine neue Qualität rechter Terrorstrategien«. Die »Art und Weise« der Morde zeige die »begrenzten taktischen Möglichkeiten und Fähigkeiten der MörderInnen«. Die Ermordung eines »ahnungslosen Menschen« sei einfacher als der Überfall auf eine Bank. Was möglicherweise stimmen mag, ist im vorliegenden Fall aber kein Argument. Der NSU agierte ja gerade auf verschiedenen Feldern.

Das Trio überfiel erfolgreich mindestens 14 Banken und einen Supermarkt, legte zwei Bomben in belebten Stadtvierteln und erschoss zehn Menschen, darunter eine Polizistin im Dienst. Es machte Fotos von seinen Opfern, produzierte ein Bekennervideo, führte Listen mit potenziellen Zielen und kundschaftete in zahlreichen Städten geeignete Tatorte aus.

NSU war kein Staatsprojekt

Auch woher ihr umfangreiches Waffenarsenal stammt, ist bis heute unklar. Es gelang dem NSU-Trio schließlich, sich einen erschreckend normalen Alltag in der Illegalität zu organisieren, in dem es an fast nichts fehlte. Die neue »Qualität« besteht darin, dass über eine lange Zeit drei gesuchte Neonazis zahllose Morde und Anschläge begehen konnten, sich dabei auf ein funktionierendes Netz stützten und nicht aufflogen. Rechte Gewalt und rechten Terror gab es in der Bundesrepublik immer. Aber die Serie des NSU ist einzigartig.

Dass der NSU kein »staatsterroristisches Projekt« war, hebt Lecorte in seiner dritten Hypothese hervor. Die Strukturen der deutschen Sicherheitsbehörden hätten dem NSU das Morden zwar erleichtert, eine »absichtliche Kooperation oder eine planmäßige Fremdsteuerung des rechten Terrors durch staatliche Organe« fehle jedoch. Auch hier liegt der Autor nicht falsch, aber seine Einschätzung lenkt den Blick in die falsche Richtung. Denn der Grad an organisierter Vertuschung und Unterstützung für das engste Umfeld des NSU lässt sich kaum mehr durch Zufälle, Dummheit oder verbreiteten Stammtischrassismus in Behörden erklären. Um »Staatsterrorismus« handelt es sich mit großer Sicherheit tatsächlich nicht. Aber was war es dann? Ein kritischer Blick auf den Fall NSU muss vor allem das Agieren des Staates in den Blick nehmen, denn eine zentrale Rolle staatlicher Akteure beim Entstehen und beim ungestörten Agieren dieser Strukturen ist durchaus zu erkennen.

In seiner vierten Hypothese schreibt Lecorte, der NSU habe »sein Ziel nicht erreicht«. Da die Gruppe keine umfassenden Bekennerschreiben verfasst, können wir über mögliche Strategien und Ziele des Handelns nur spekulieren. Aber wir wissen, dass die späteren NSU-Mitglieder die Zeitschriften lasen und rechten Bands hörten, die den bewaffneten »Rassenkrieg« propagierten. Ziel war nicht, die breite Öffentlichkeit zu mobilisieren, Sympathien zu wecken oder eine Organisation aufzubauen. »Diese einsamen weißen Wölfe müssen respektiert und allein gelassen werden, um die schlimmsten Feinde unserer Rasse zu verfolgen«, hieß es in einem der Papiere. »Taten statt Worte«, lautete auch das Motto des NSU. Ihre Logik ist nicht politisch, sie ist die Logik des Krieges. So dürfte ihr zentrales »Ziel« gewesen sein, individuell »Feinde« der »Rasse« zu ermorden. Dabei waren sie - verglichen mit anderen Neonazis - sehr »erfolgreich«. Darüber hinaus haben sicherlich viele MigrantInnen die Botschaft der Morde doch sehr genau verstanden.

Antifa-Diskussion fortsetzen

Ausdrücklich zuzustimmen ist Lecortes Warnung, vor einer Mystifizierung des NSU. Auch seine Einschätzung, dass mittelfristig das Potenzial für rechten Terror groß ist und heute noch in der Legalität aktive Neonazis der Rekrutierungspool für die »Terroristen von morgen« sind, teile ich. Seinem abschließenden Plädoyer kann ich mich nur anschließen. Es gilt, die Situation zu nutzen, um so viele Informationen wie möglich über die Neonaziszene zu sammeln, um in Zukunft »nicht noch einmal so böse überrascht zu werden«.

Mit sieben Thesen will ich versuchen, die Diskussion fortzuführen.

1. Die Netzwerke, auf die der NSU zurückgreifen konnte, entstanden ab Mitte der 1990er Jahre aus einer überregional organisierten und hoch aktiven Neonaziszene. (Siehe ak 567) Sie konnten nach der Vereinigung von BRD und DDR auf verbreitete rassistische und nationalistische Stimmungen aufbauen.

2. Der NSU war keine abgeschlossene Gruppe aus wenigen Personen. Er muss als organisiertes Netzwerk gedacht werden, in dem neben einem festen Kern weitere Neonazis aktiv waren.

3. Die UnterstützerInnen des NSU waren eng mit der NPD, den Jungen Nationaldemokraten (JN) oder dem internationalen B&H-Netzwerk verknüpft. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe galten in den 1990er Jahren als harter Kern von B&H in Thüringen. In den Schriften dieser Szene wurde damals der bewaffnete Kampf von individuell agierenden Kleingruppen gegen MigrantInnen, Linke und AntifaschistInnen propagiert.

4. Der NSU führte seinen »Rassenkrieg« unter den Augen des Staates. Die Behörden fahndeten wegen anderer Taten zeitweise intensiv nach den späteren NSU-Mitgliedern. Auch die UnterstützerInnen waren aktive und polizeibekannte Neonazis. Die Geheimdienste hatten zudem zahllose InformantInnen im Umfeld platziert und wussten von Terrorplänen der Szene. Immer wieder wurden Waffen und Sprengstoff gefunden.

5. In den 1990er Jahren reagierten Staat und Gesellschaft kaum oder falsch auf die Bedrohung von rechts. Sie wurde von Behörden, Teilen der Politik und »Extremismusexperten« geleugnet. Terrorstrukturen wurden verneint. Täter galten als »Einzeltäter«, die nicht zielgerichtet agierten. Der Inlandsgeheimdienst richtete seinen Blick vor allem nach links.

6. Seit 1990 starben in Deutschland mehr als 180 Menschen durch rechte Gewalt. Offiziell zählt die Bundesregierung jedoch »nur« 48 Tote. Rassistische Gewalt wird bis heute verharmlost. In den Medien wurde die Serie als »Döner-Morde« geführt. Die Sonderkommission der Polizei wurde Mordserie Bosporus genannt. Die Ermittlungen liefen aufgrund der zum Teil rassistischen und - im Fall des Mords an der Polizistin in Heilbronn - antiziganistischen Ressentiments ins Leere.

7. Polizei und Geheimdienste haben den rassistischen Charakter der Morde und Anschläge nie erkannt, den Zusammenhang der Taten nicht gesehen und die drei abgetauchten Neonazis offenbar nie finden können - sie haben versagt. Wenn Behörden aber - wie durch die Recherchen von JournalistInnen, Antifas und engagierten Abgeordneten in den Untersuchungsausschüssen immer deutlicher wird - von der Vorbereitung der Taten wussten und nicht handelten, dann ist das ein Skandal. Doch was wäre, wenn die TäterInnen aus den staatlichen Apparaten sogar geschützt, gefördert oder politisch instrumentalisiert wurden? Dafür gibt es bisher keine Beweise. Doch wie gesuchte, polizeibekannte Neonazis 13 Jahre abtauchen konnten und aus der Illegalität zehn Hinrichtungen, zwei Bombenanschläge und 14 Banküberfälle begehen können, das grenzt an ein Wunder.

Paul Wellsow ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag.