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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 574 / 17.8.2012

Wir kriegen sie alle. Skinheads, alle.

Rostock-Lichtenhagen Migrantischer Selbstschutz gegen Nazis in den 1990ern

Von Jan Ole Arps

Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ist das Trauma der deutschen Antifabewegung. Es eignet sich auch deshalb so gut als Symbol, weil dort alles zusammenkommt, was die Zeit Anfang der 1990er Jahre scheinbar ausmachte: tagelange Naziangriffe auf ein von wehrlosen MigrantInnen bewohntes Haus, beklatscht vom rechten Mob, geduldet von der Polizeiführung, instrumentalisiert von der Politik. Und AntifaaktivistInnen, die sich nicht zum Eingreifen entschließen können oder von der Polizei daran gehindert werden. In der aktuellen Ausgabe des Antifaschistischen Infoblatts ist vom historischen Versagen der Antifa in Rostock die Rede.

Doch rassistische Gewalt gab es bereits lange davor, auch im Westen und vor dem Mauerfall, und es gab MigrantInnen, die sich dagegen gewehrt und die Opferrolle verweigert haben. Wenn man sich im Internet eine Dokumentation über türkische Jugendgangs in Berlin von 1991 ansieht, hört man Sätze wie »Wir kriegen sie alle. Skinheads, alle.« Oder »Letztens haben wir paar Nazis auf die Fresse gehauen. Da hab ich ein gutes Gefühl gehabt, richtig gutes Gefühl gehabt.« Die Geschichte der frühen 1990er Jahre ist also nicht nur eine, in der Nichtdeutsche oder nicht deutsch Aussehende zu Opfern wurden, es ist auch eine Geschichte des migrantischen Widerstands gegen Nazis und Rassismus.

In Berlin kann man sie gut am Kottbusser Tor in Kreuzberg erzählen. Vom Café Kotti im ersten Stock des Kreuzberg Zentrums hat man einen guten Blick auf den Platz. Auch die Geschichte von Antifasist Gençlik, in der sich zur Wendezeit türkische und kurdische AntifaschistInnen zusammenschlossen, begann am Kottbusser Tor, sagt Ercan Yasaroglu, der das Café Kotti betreibt.

Es ist der 20. April 1989, Hitlergeburtstag, sein Hundertster, rechte Gruppen haben angekündigt, in die »Ausländerviertel« zu fahren, nach Kreuzberg, Neukölln und Wedding, und dort aufzuräumen. Die Drohung macht Angst, manche Leute fragen sich, ob sie ihre Kinder in die Schule schicken sollen. Doch anstatt zu Hause in den Wohnungen zu bleiben, versammeln sich hunderte Jugendliche vor allem aus türkischen und arabischen Familien am Kottbusser Tor. Wir verkriechen uns nicht, ist die Botschaft, das ist unser Viertel, sie sollen kommen.

Türkische Jugendliche versammeln sich in Kreuzberg

Die Rechten kommen nicht. Auch nicht nach Neukölln und Wedding, wo sich ebenfalls Jugendliche versammeln. Für Ercan Yasaroglu ist es ein einschneidendes Erlebnis. Er ist damals 31 Jahre alt, aktiv in der linken Bewegung und beim Antifa Infoblatt und mit ein paar Freunden ebenfalls am Kottbusser Tor. »Wir haben gesehen, dass die Jugendlichen wütend waren und bereit sich zu wehren, ohne besonderes politisches Bewusstsein.« Wenig später gründet er mit anderen die Gruppe Antifasist Gençlik - Antifaschistische Jugend.

Schon damals nahm die Ausländer-Raus-Stimmung spürbar zu. Richtig schlimm wurde es dann nach dem Mauerfall. »Das war ein Schock«, erzählt Ercan. »Im ersten Moment freuten wir uns für die Leute im Osten. Aber dann kochte der Nationalismus hoch, wie man es sich vorher nicht vorstellen konnte. Diese Deutschlandwelle richtete sich von Anfang an gegen Ausländer und Flüchtlinge.« Viele MigrantInnen waren enttäuscht und frustriert. Das Land, das sie geholt hatte und in dem sie nun lebten, signalisierte ihnen: Haut ab, wir brauchen euch nicht mehr.

Serhat Karakayal? hat eine ähnliche Einschätzung. Er ist Soziologe an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Lange war er im Netzwerk Kanak Attak aktiv, das Ende der 1990er Jahre nach einer neuen Sprache suchte, um Themen wie Rassismus und Migration zu bearbeiten. »In den letzten Jahren sind eine Million Leute zum Arbeiten nach Deutschland gekommen, vor allem aus EU-Ländern. Anfang der 1990er ging es um gerade mal 400.000 Flüchtlinge, die aber aus Regionen kamen, die ein schlechteres Image hatten. Damals waren Aussiedler die größere Einwanderergruppe, und auch gegen sie gab es Ressentiments. Aber die Politik schürte bewusst die gegen Nichtdeutsche: Asylbewerber, Flüchtlinge, Türken.«

»Die Nazis haben das schnell begriffen«, meint auch Ercan. »Gleich nach dem Mauerfall haben sie angefangen, sich den Raum zu erobern, besonders im Osten. Am Alexanderplatz waren sie, am Ostbahnhof, sogar am Schlesischen Tor sind sie herumgelaufen und haben Leute bedroht.« Antifa Gençlik ging zum Schlesischen Tor, sprach mit den Leuten, verteilte Flugblätter. Auch in die Jugendzentren ging die Gruppe und zu den Treffpunkten der Gangs, zu den 36 Boys aus Kreuzberg oder den Black Panthers aus Wedding. »Wir haben mit ihnen diskutiert und gesagt, sie sollen aufhören, sich gegenseitig zu bekämpfen und mit uns zusammen gegen die Nazis vorgehen. Wir wollten, dass sie politisches Bewusstsein entwickeln und begreifen, wo ihre Probleme herkommen.«

In dieser Zeit nahmen Jugendliche aus dem Umfeld der Gangs oft an Antifa-Demonstrationen teil. »Zum Beispiel nach dem Mord an Nguyen Van Tu 1992 sind wir mit 1.000 Jugendlichen auf die Straße gegangen, viele aus den Gangs«, erzählt Is?k Sekerli, auch er war damals bei Antifasist Gençlik. Die Gangs vereinbarten sogar, sich nicht mehr untereinander zu bekämpfen, sondern sich gemeinsam gegen die Nazis zu wehren. Zusammen fuhren sie und Leute von Antifa Gençlik zu den Treffpunkten der Nazis und suchten die Auseinandersetzung. Oder sie fuhren Patrouille: mit der S-Bahn durch Ostberlin. Den Selbstschutz organisieren, hieß die Maxime.

Antifa Gençlik und Gangs zusammen gegen Nazis

Die Gruppe startete auch Aktivitäten gegen das Ausländergesetz, solidarisierte sich mit Flüchtlingen und gab eine Zeitschrift heraus. Auch mit weißen deutschen Antifagruppen gab es eine enge Zusammenarbeit. Aber die Aktionen mit den Gangs erzielten die größte Aufmerksamkeit. Und sie riefen auch die Polizei auf den Plan. Gekippt sei die Stimmung nach Hoyerswerda, erzählt Ercan. »Dass solche Ausschreitungen möglich waren, dass die Polizei nichts unternahm, hat so eine Wut ausgelöst«, sagt er, »und die hat zur Gewalteskalation geführt. Viele Jugendliche wollten sich vor allem stark fühlen. Sie sagten nicht mehr Scheiß Nazis, sondern Scheiß Deutsche. Auf einmal war das Wir-Ihr-Denken wieder da, das wir eigentlich überwinden wollten. Wir Erwachsenen haben nicht genug dagegen getan. Wir haben die Haltungen toleriert in der Hoffnung, sie wieder eindämmen zu können.«

Gleichzeitig breitete sich die rassistische Welle immer weiter aus, täglich kam es zu neuen Angriffen auf AusländerInnen, zu Brandanschlägen und Morden. Antifa Gençlik bekam Anfragen aus Hamburg, Bremen, Frankfurt, von Leuten, die auch so was machen wollten. »Es ging alles sehr schnell«, sagt Is?k, »wir waren rund um die Uhr aktiv.«

Und dann kam der Kaindl-Fall. Anfang April 1992 werden mehrere rechte Funktionäre beim Betreten eines China-Restaurants in Berlin-Kreuzberg beobachtet. Eine Stunde später stürmt eine Gruppe Vermummter in das Restaurant. Gerhard Kaindl, Funktionär der Deutschen Liga für Volk und Heimat, stirbt bei dem Angriff, ein weiterer Rechter wird durch Messerstiche schwer verletzt. In den Medien wird der Überfall sofort einer »linken türkischen oder arabischen Gruppe aus Kreuzberg« angelastet, die Polizei ermittelt wegen Mord. Ein Jahr später stellt sich ein 17-jähriger und macht umfangreiche Aussagen, daraufhin werden vier Leute verhaftet. Sechs weitere tauchen ab.

Die Gruppe Antifasist Gençlik löst sich noch vor der Festnahmewelle auf. »Wir haben das beendet, weil wir aus der Gewaltspirale anders nicht rauskamen«, sagt Ercan. »Bei den Jugendlichen hat der Kaindl-Fall ein Riesenmisstrauen ausgelöst, viele hatten das Gefühl, instrumentalisiert worden zu sein, und haben nicht mehr mit uns gesprochen.« Und dann sagt er noch: »Vielleicht war es leichtsinnig, wie wir es damals angegangen sind. Aber wir mussten uns gegen die Nazis wehren, zusammen mit den Jugendlichen. Die Gruppe hatte keine Zeit, erwachsen zu werden.«

Als die rassistische Gewaltwelle mit dem Pogrom von Rostock ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, war Antifasist Gençlik bereits zerbrochen - auch wenn viele ehemalige Mitglieder weiter gegen Rassismus aktiv blieben, zum Teil bis heute. Es folgten die Mordanschläge von Mölln und Solingen und eine Vielzahl rechter Gewalttaten in Ost und West. Im Mai 1993 schaffte der Bundestag das Grundrecht auf Asyl weitgehend ab, angeblich um auf die »berechtigte Empörung« in der Bevölkerung zu reagieren.

Seitdem hat sich der Rassismus verändert. Heute, sagt Serhat Karakayal?, geht es gegen Muslime, ihre angebliche Fremdheit und Rückständigkeit steht im Mittelpunkt. Auch die Debatte um Einwanderung hat sich verändert. Deutschland will die LeistungsträgerInnen, die Hochqualifizierten. »Nicht mehr die stärksten Arme, sondern die klügsten Köpfe«, sagt Serhat. Dabei stünden Muslime anders als andere EinwandererInnen im Generalverdacht, die gewünschte Leistung nicht zu bringen. Zum Abschluss frage ich Serhat, wie er die Stimmung Anfang der 1990er erlebt hat.

»Einschneidend. Ich hatte zum ersten Mal Angst vor körperlichen Angriffen.«

Hast du damals auch Antifa- oder Antirassismusarbeit gemacht?

»Nein, ich war an der Uni aktiv. Habe Adorno gelesen und neomarxistisches Zeugs. Auf Rassismus und Migrationsthemen hatte ich keine Lust.«

Wieso nicht?

»Ich wollte nicht der Kanake sein, der über Migration spricht. Da kannst du machen was du willst, du wirst nicht ernst genommen.«

Ich dachte, du hast Kanak Attak mitgegründet.

»Nein. Erst wollte ich nicht mitmachen.«

Aber dann bist du doch zu Kanak Attak gegangen.

»Durch Kanak Attak gab es zum ersten Mal eine akzeptable Sprechposition, die den geltenden Diskurs und die Identitäten, die im Angebot waren, zurückgewiesen hat. Aber ich habe immer noch ein Unbehagen, wenn ich Seminare zu Ausländerpolitik oder Migration gebe.«

Ich hatte gedacht, du hast dich schon immer damit beschäftigt, auch als Reaktion auf den Rassismus der 90er und so.

»Hab ich nicht.«

Ach so: Verweigerung der Rolle des betroffenen Kanaken - auch eine Strategie gegen Rassismus. Moment. Ich habe dich jetzt auch als Betroffenen und Rassismus-Opfer gefragt, oder?

»Ja.«

Mist.