Doch, der Staat lässt es zu
Rostock-Lichtenhagen Ein Pogrom von Nazis und RassistInnen - und kaum einer greift ein
Ein Anruf erreichte im August 1992 die Norddeutschen Neuesten Nachrichten: »In der Nacht vom Samstag auf Sonntag räumen wir in Lichtenhagen auf.« Es war eine der Ankündigungen dessen, was folgte: ein mehrtägiges Pogrom auf die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) und ein Wohnheim für vietnamesische VertragsarbeiterInnen im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen. Ein Mob aus Nazis und RassistInnen griff das »Sonnenblumenhaus« mit Steinen und Brandsätzen an, mehrere Tausend »Schaulustige« klatschten Beifall. Eine anfangs unterbesetzte und überforderte Polizei zog sich am Abend des dritten Tages zurück. Die ZAst war bereits geräumt worden, der Mob setzte das Wohnheim in Brand - etwa 150 Menschen befanden sich zu diesem Zeitpunkt im Gebäude. Notrufe bei der Polizei blieben unbeantwortet, die Feuerwehr kam nicht durch. In letzter Minute retteten sich die BewohnerInnen, ein ZDF-Team, Wachleute und der Rostocker Ausländerbeauftragte über das Dach.
Es ist schwer zu glauben, dass es sich bei dem Einsatz um ein »Missgeschick« der Polizei handelt. Zwei Untersuchungsausschüsse brachten kein Licht ins Dunkel, massive Ungereimtheiten blieben - und vor allem der Eindruck: Hier wurde der Tod von 150 Menschen billigend in Kauf genommen. Das Pogrom passte ins Konzept von Staat und Politik, es half, den Weg zur Abschaffung des Asylrechts zu ebnen. Schließlich zeige der sich bahnbrechende »Volkszorn«, dass die »Geduld der Bürger« mit »den Ausländern« überstrapaziert sei.
Ein rassistischer Bürgermob, lokale und überregionale Neonazis und ein Staat, der sie gewähren lässt - auch ohne konkrete Absprachen zu unterstellen, ist es dieses Zusammenspiel, das viele in einen Schockzustand versetzte. Nur wenige fuhren in diesen Tagen nach Rostock, um dem Mob etwas entgegenzusetzen. Der Schock, die Ohnmacht, das ist nur ein Aspekt im Versagen der Linken.
Für die meisten »Wessis« fing auch drei Jahre nach der Wende hinter Boizenburg eine andere Welt an. Es war nicht nur die Zeit rassistischer Übergriffe, es war auch die Zeit bundesweiter antifaschistischer Organisierung. Zwar saßen hier zum Teil Ostantifas und Westantifas zusammen, doch es sollte noch Jahre dauern, bis es zu engeren Vernetzungen kam - für Hamburger Antifas war Passau lange Zeit »näher« als Schwerin.
Die ZAst in Rostock-Lichtenhagen gibt es nicht mehr, die Behörden zogen ihre Konsequenzen aus dem Pogrom: »Nachfolger« der ZAst ist das Lager Horst bei Boizenburg - mitten im Wald, in aller Abgeschiedenheit, ohne die Gefahr von massenhaftem »Anwohnerprotest«. Stacheldraht, Wachen, Drehkreuz am Eingang: »Zentrale Erstaufnahme« und faktisches Abschiebelager in einem, abgeschottet von der Außenwelt als Antwort auf den rassistischen Mob.
Maike Zimmermann
Im November 1992 erschien ein ak-Extra zu dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Zum 20. Jahrestag haben wir es online gestellt: www.akweb.de.