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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 575 / 21.9.2012

Aufgeblättert

Endhaltestelle ZASt

»Herzlich willkommen im Land der Frühaufsteher« - mit diesem Slogan wirbt Sachsen-Anhalt für den ostdeutschen Wirtschaftsstandort. Der Comic »Im Land der Frühaufsteher« von Paula Bulling zeigt Menschen, die ebenfalls früh aufstehen, nicht weil sie früh arbeiten (das wird ihnen verboten), sondern weil sie in ihrem Alltag lange Wege in Kauf nehmen müssen. Es geht um die BewohnerInnen der ZASt, der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber außerhalb von Halberstadt. Abgeschieden liegt das bewachte Lager mit seinen Plattenbauten, in denen bis zu 800 Menschen untergebracht sind. Eine Halberstädterin beschreibt der Autorin den Weg ab der Endhaltestelle der Straßenbahn so: »Da biegense denn rechts ab, da geht's bergauf. Immer bergauf, an den letzten Häusern vorbei. Also noch hinter den Schrebergärten durch den Wald, und da isses rechter Hand. Ne 3/4 Stund radelnse da aber sicher.« Um sich dann noch mal zu vergewissern: »Sindse sicher, dasse da hinwollen?« Es sind eher beiläufige Szenen, die Paula Bulling in prägnanten Schwarz-Weiß-Zeichnungen festhält. Die soziale Isolation der Asylsuchenden wird in ihren Bildern spürbar. Sie zeigen einen Alltag, der sich zwischen behördlichen Schikanen, Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft und Flüchtlingsselbstorganisation bewegt. Früh aufzustehen reicht eben nicht, um hier ein »normales« Leben führen zu können - zumindest nicht für Menschen ohne deutschen Pass.

Nicole Vrenegor

Paula Bulling: Im Land der Frühaufsteher. Texte von Noel Kaboré. avant-verlag, Berlin 2012. 120 Seiten, 17,95 EUR.

Linker Antisemitismus

Die deutsche Linke, der Nahostkonflikt und der Antisemitismus - zu diesem Komplex sind seit Ende der 1980er Jahre etliche Bücher und Broschüren erschienen. Peter Ullrich hat sich die Mühe gemacht, insgesamt 49 Veröffentlichungen zu sichten und ihren Inhalt vorzustellen. Manche Inhaltsangaben umfassen nur wenige Zeilen, andere sind länger und werden auch kommentiert. Die Sammlung gliedert sich in fünf Abschnitte: »1. Geschichte der Arbeiter/innenbewegung und des Sozialismus. 2. Die DDR. 3. Die (westdeutsche) Linke. 4. Diskurskontext(e). 5. Debatten.« Neben Klassikern wie Edmund Silberners Büchern über die Behandlung der »Judenfrage« durch SozialistInnen und KommunistInnen finden sich vor allem Werke neueren Datums. Mit 14 bzw. 13 berücksichtigten Publikationen enthalten die Abschnitte über die (westdeutsche) Linke und ihre Debatten die meisten Eintragungen. Offensichtlich geht es dem Autor vor allem darum, auf Material für die laufende Auseinandersetzung hinzuweisen. Dass man seine Kommentare nicht unkritisch übernehmen muss, versteht sich von selbst. Dem Rezensenten erscheint z.B. Ullrichs Bewertung des Buches »Wir sind die Guten: Antisemitismus in der radikalen Linken« (Unrast-Verlag) allzu positiv; andere dürften sich über die Kritik an Moshe Zuckermanns »gestelzten Endlossätzen im adornoschen Sprachduktus« ärgern. Die Bibliografie ist ein nützliches Hilfsmittel, um sich in der Debatte zurechtzufinden.

Jens Renner

Peter Ullrich: Linke, Nahostkritik, Antisemitismus. Wegweiser durch eine Debatte. Eine kommentierte Bibliografie. Reihe Analysen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Juli 2012. 46 Seiten, kostenlos.

Solidarische Ökonomie

Solidarische Ökonomie und Commons - »welcher der Begriffe jeweils Verwendung findet, hängt von persönlichen Vorlieben ab und davon, in welchem Diskussionszusammenhang man gerade steht«, schreiben die AutorInnen. Dennoch bleibt der Eindruck, eher zwei Einführungen in einem Buch zu lesen als einen Brückenschlag zwischen zwei aktuellen Debatten, die sich um ähnliche Konzepte drehen. Die Commons-Debatte wird fundiert aufgearbeitet, vom Kapitalismus-Verständnis über historische »Einhegungen« bis zu aktuellen Kämpfen um Digitale Commons und Ernährung. Für die AutorInnen stellen Commons potentiell die Keimform einer postkapitalistischen Gesellschaft dar - ihre Produktion ist nichtkapitalistisch, und zugleich erlangen die Beteiligten eine gewisse Unabhängigkeit von Markt und Staat: »Indem sich Lohnabhängige Produktionsmittel aneignen, können auch kapitalistische Betriebe Commons werden.« Andere solidarische Wirtschaftspraktiken werden nur genannt, nicht aber so reflektiert, dass interessierte Laien deren emanzipatorische Möglichkeiten einschätzen können. Neu für die deutschsprachige Diskussion ist, dass eine theoretische Perspektive, nämlich die Commons-Perspektive, die Grundlage der Analyse Solidarischer Ökonomie bildet. Auch die Kritik am baskischen Genossenschaftskomplex Mondragón ist bemerkenswert: Mit treffenden Argumenten wird gezeigt, dass Mondragón nicht als Vorbild gelten kann. Das sehen viele bisher anders.

Stefan Kerber-Clasen

Andreas Exner, Brigitte Kratzwald: Solidarische Ökonomie & Commons. INTRO. Eine Einführung. Mandelbaum Verlag, Wien, 2012. 138 Seiten, 10 EUR

Unbekannter Islam

»Meine Reisen durch einen unbekannten Islam« lautet der Untertitel des Buches, in dem Charlotte Wiedemann aus verschiedenen Ländern und Milieus berichtet. Die Reisen führen uns u.a. nach Saudi-Arabien, Pakistan, in den Jemen und den Oman. Die Autorin nimmt die Durchsetzung von Frauenrechten als Gradmesser für die gesellschaftliche Entwicklung. Sie beschreibt mutige, rebellische und bildungshungrige junge Frauen, die sie an Universitäten und Schulen getroffen hat. Ebenso schildert sie uns bizarr anmutende Lebenswirklichkeiten von Frauen: Da ist die verheiratete Journalistin, Mutter mehrerer Kinder, die auf Recherchereise von ihrem Bruder begleitet werden muss; oder die Pilotin, die bei Auslandsflügen eine Erlaubnis ihres Vaters im Cockpit mitzuführen hat. Für die Frauen scheint das nicht wichtig. Wichtig für sie ist, dass sie anderen Frauen ein Beispiel geben. Auf die daraus folgenden Veränderungen vertrauen sie. Charlotte Wiedemann zeigt auch die Repression, unter der mutige, starke Frauen zu leiden haben. Wie die Anwältinnen, die Frauen gegen islamische Strafgesetze und gegen rachsüchtige Familien verteidigen; sie müssen damit leben, dass ihre Kanzlei von mit Maschinenpistolen bewaffneter Polizei bewacht wird, weil gegen die beiden Frauen seit Jahren Morddrohungen ausgesprochen werden. Wer die Vielschichtigkeit islamischer Gesellschaften ein wenig kennenlernen möchte, sollte dieses Buch lesen.

Gabi Bauer

Charlotte Wiedemann: »Ihr wisst nichts über uns!« Meine Reisen durch einen unbekannten Islam. Herder Verlag, Freiburg 2012. 237 Seiten, 9,90 EUR.