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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 575 / 21.9.2012

Ende der Illusion

International In Südafrika hat der ANC durch das Massaker von Marikana seine Legitimität endgültig verloren

Von Leonard Gentle

Es waren die blutigsten Auseinandersetzungen seit dem Ende der Apartheid: Am 16. August 2012 tötete eine Sondereinheit der südafrikanischen Polizei 34 Arbeiter der Bergbaufirma Lonmin. Sie hatten zusammen mit 3.000 weiteren Bergleuten in Marikana bei Johannesburg für bessere Löhne gestreikt. Die Geschichte wurde oft oberflächlich als Konflikt zwischen konkurrierenden Gewerkschaften gezeichnet.

Doch Marikana ist nicht bloß eine Geschichte des Elends, der Gewalt und der Trauer. Sie so zu beschreiben, würde bedeuten, den Verletzungen, die den streikenden ArbeiterInnen von der Polizei beigebracht worden sind, dieselben Verunglimpfungen hinzuzufügen, wie es viele KommentatorInnen getan haben - nämlich die streikenden MinenarbeiterInnen als reine Opfer zu betrachten und nicht als VertreterInnen ihrer eigenen Zukunft und, noch wichtiger, als Quelle einer entstehenden neuen Bewegung.

Im südafrikanischen Platingürtel entstand in den letzten fünf Jahren eine Reihe neuer Kämpfe. Sie sind die Anzeichen einer neuen Bewegung, die sich trotz der staatlichen Gewalt formiert, die Andries Tatane (1) ermordete und die Lonmin-Arbeiter massakrierte. Anstatt bloß unsere Empörung hinauszuschreien, ist es an der Zeit, Stellung zu beziehen und unsere Unterstützung anzubieten.

Marikana rangiert jetzt neben den Massakern von Sharpeville und Boipatong (2) in der abscheulichen Geschichte einer Art von Kapitalakkumulation, die auf Gewalt beruht. Die moralische Legitimität des regierenden African National Congress (ANC) als führende Kraft im Kampf um Demokratie ist nun unwiderruflich dahin, und der Kampf um soziale Gerechtigkeit ist übergegangen auf eine völlig neue Arbeiterklasse, die sich außerhalb der Dreiparteienallianz und ihrer angegliederten Teile befindet. (3)

So betrachtet werden die Dinge nach Marikana nie wieder wie früher sein. Erstens markieren die Morde das Ende der Illusion eines hohen moralischen Standards, den der ANC vermeintlich einhielt, und den Abschluss seiner Umwandlung in die herrschende Partei des großen Kapitals. Der ANC tritt also direkt in die Fußstapfen seiner Vorgängerparteien, indem er die Gewinne des Minenkapitals mittels Gewalt schützt. Und Lonmin versinnbildlicht die Entstehung einer neuen Elite in Südafrika: altes weißes Kapital, garniert mit einigen politisch vernetzten Schwarzen im Namen von »black economic empowerment«.

Zweitens markieren der Streik und das Massaker einen Wendepunkt in der Befreiungsallianz rund um den ANC - vor allem im Gewerkschaftsdachverband COSATU. (4) Dieser war lange Jahre innerhalb der sogenannten »Zivilgesellschaft« eine zentrale moralische Stimme. Diese Autorität schuf sich der Verband einfach dadurch, dass er die größte organisierte Stimme innerhalb der Arbeiterklasse war. Heute sind die Verbindungen von COSATU zur Arbeiterklasse jedoch nur noch sehr dünn.

Veränderungen in der Gewerkschaftslandschaft

Beim Neoliberalismus ging es nicht nur um Privatisierung und globale Spekulation. Es ging auch um die Restrukturierung der Arbeit und des Wohnens. Prekarisierung, Informalisierung und Outsourcing wurden zur vorherrschenden Form von Arbeit - falls überhaupt Arbeit verfügbar ist. Obdachlosigkeit und Barackensiedlungen wurden zur Existenzform der Arbeiterklasse.

Auch der Minenbetrieb selbst hat sich verändert. Den Großteil der harten Arbeit unter Tage machen jetzt ArbeiterInnen, die von ArbeitsvermittlerInnen angeheuert wurden. Das sind die am meisten ausgebeuteten und am unsichersten beschäftigten ArbeiterInnen mit den längsten Arbeitszeiten und den flexibelsten Verträgen. Des Weiteren gibt es sogenannte »illegale« Bergleute, die buchstäblich mit Spaten und ihrem eigenen Dynamit arbeiten und ihre Funde dann an Mittelsmänner weiterverkaufen, die wiederum Verbindungen zum »big business« haben.

Im Gegensatz dazu haben sich die vorherrschenden Gewerkschaften in Südafrika nach oben bewegt - zu den Angestellten und weg von dieser Mehrheit. Heute sind die großen Teilgewerkschaften von COSATU diejenigen für Angestellte im öffentlichen Dienst, doch auch die Nationale Union der MinenarbeiterInnen (NUM) gehört dazu.

Während der letzten 15 Jahre gab es eine Veränderung im Profil der NUM-Mitglieder, die niemand zur Kenntnis genommen hatte. Die NUM war ursprünglich in den niedrigsten Jobkategorien der südafrikanischen MinenarbeiterInnen entstanden, vor allem in den Goldminen. Mehr als 60 Prozent ihrer Mitglieder waren AusländerInnen, die meisten von ihnen ungebildete migrantische ArbeiterInnen. Heutzutage ist deren Anzahl auf unter 40 Prozent gesunken. Auf der anderen Seite kommt eine zunehmende Anzahl von NUM-Mitgliedern aus den Reihen der Angestellten.

Während also die NUM die größte Teilgewerkschaft von COSATU bleibt, hat sie sich von einer Gewerkschaft der unter Tage Arbeitenden zu einer Gewerkschaft angestellter TechnikerInnen entwickelt. Diese Entwicklung innerhalb der NUM führte zur Abspaltung der Association of Mineworkers and Construction Union (AMCU). Diese mischte bei den beiden Streiks der letzten drei Monate im Platinsektor (bei Implat und Lonmin) mit, weil die ArbeiterInnen nach einem Ventil für ihre Frustration suchten.

Das Auftauchen der AMCU ist eine direkte Herausforderung der Hegemonie von NUM und COSATU. Deshalb hat die Föderation eine infame Rufmordkampagne gegen die streikenden ArbeiterInnen und ihre Gewerkschaft begonnen. Dabei wurde sie von den Medien unterstützt.

Medialer Rufmord

Mit der bemerkenswerten Ausnahme der Zeitung Cape Times damönisierten die Medien im Gleichklang die streikenden ArbeiterInnen. Nicht nur zitierten sie ausschließlich NUM-Quellen bei der Information über den Streik. Sie versuchten außerdem gar nicht erst, abseits der Vorstellung von manipulierten ArbeiterInnen und Rivalitäten zwischen Gewerkschaften zu recherchieren.

Im Allgemeinen stellten alle Medien die MinenarbeiterInnen als ungebildet dar, während sie die Forderung nach einer Lohnerhöhung auf 12.500 Rand als »maßlos« verurteilten. Und dann gibt es da noch die von den Medien endlos wiedergekäute Geschichte, die ArbeiterInnen seien zur AMCU gewechselt, weil diese ihnen 12.500 Rand versprochen habe.

JournalistInnen sind natürlich glücklich, so etwas von (nicht genannten) NUM-Quellen zu erfahren, und sie sind einfach zu faul, den Wahrheitsgehalt bei den streikenden ArbeiterInnen oder bei der AMCU zu überprüfen. Ja, sie fügen nicht einmal hinzu, dass es sich dabei um eine unbegründete Behauptung aus NUM-Quellen handelt. Der Rufmord dabei ist, die ArbeiterInnen als so leicht manipulierbar darzustellen, als ob sie jeder leeren Versprechung Glauben schenkten. Das spielt dem Vorurteil in die Hände, die ArbeiterInnen seien ignorant und ungebildet - und es verstärkt die Vorstellung, dass die AMCU die Verantwortung für das Massaker übernehmen müsse.

Dabei wissen alle, die auch nur ein wenig Erfahrung im Organisieren haben, dass Gewerkschaften nicht wie ein Versicherungsmakler zu den ArbeiterInnen kommen. Hauptsächlich schaffen sich ArbeiterInnen selbst ihre Komitees, schicken dann eine Delegation zum Gewerkschaftsbüro und fordern, dass ein Organizer kommt und ihnen zuhört. Oder sie zwingen einfach ihren Unternehmer, eine Gewerkschaft zu kontaktieren und nach einem Vermittler zu rufen.

Ebenso wenig wird irgendeine Entscheidung während eines Streiks jemals leichtfertig getroffen - schon gar nicht bei diesem wilden Streik unter dem Schirm einer nicht anerkannten Gewerkschaft, an einem Arbeitsplatz unter Minenbedingungen und wo die ArbeiterInnen weit weg von zu Hause sind. Wilde Streiks sind vermutlich die bewusstesten Akte von Aufopferung und Courage, die jemand begehen kann, angetrieben von Zorn und Verzweiflung und im vollen Bewusstsein, dass du deinen Job verlieren könntest und damit die Lebensgrundlage deiner Familie.

Die ArbeiterInnen von Marikana haben ihre Entscheidungen selbst getroffen: Mitglieder von AMCU zu werden und alles zu riskieren - selbst ihr Leben - für eine bessere Zukunft. Dafür schulden wir ihnen mehr als nur Sympathie. Wir müssen mobilisieren und eine Bewegung aufbauen.

Lange Zeit hindurch schafften es die anhaltenden Revolten für grundlegende Dienstleistungen nicht bis auf die Laptops und Blackberries der chattenden Klasse. Und zwar wegen der sozialen - und sogar geographischen - Distanz der Mittelklassen zu den neuen »working poor« und den Armen. Nun hat der Anblick der Polizisten, die streikende Arbeiter vor laufender Fernsehkamera erschießen, die reale Welt der gegenwärtigen Kämpfe in die Lounges und Schlafzimmer der öffentlichen Meinung gebracht.

Die Form »spontaner« Revolten breitet sich nun in die industrielle Sphäre aus. Bisher haben die Streikenden nicht nur gegen die Polizei und Lonmin durchgehalten, sondern auch gegenüber den Medien, die ihren Streik als »illegal« abstempeln. Inzwischen stellen sich NUM und COSATU hinter ihren Verbündeten - den ANC -, um die Streikenden und ihre Gewerkschaft als »von BHP Billiton und/oder der Kammer der Minenbesitzer bezahlt« (5) zu stigmatisieren.

Nehmen wir also in unserer Empörung zur Kenntnis, dass eine neue Bewegung auftaucht. Solche frühen Anzeichen verweisen noch nicht auf irgendetwas Großes und Organisiertes. Bewegungen sind zwangsläufig chaotisch und schwer in eine ideologische Schachtel einzuordnen. Wir wissen nicht, welche Höhen und Tiefen die Leute durchmachen müssen, aber wenn die Saat einer neuen Bewegung erst gesät ist, wird es Zeit zu fragen, was der Rest von uns tun kann, um ihr beim Wachsen zu helfen.

Leonard Gentle ist Direktor der International Labour Research Group (ILRIG) in Kapstadt. Der Text erschien am 23.8.2012 auf www.ilrig.org. Übersetzung: akkrise.wordpress.com.

Anmerkungen:

1) Andries Tatane war ein Community-Aktivist und Journalist, der im April 2011 bei Protesten von Polizisten erschossen wurde.

2) Das Sharpeville-Massaker geschah am 21.3.1960. Polizisten erschossen dabei nach einer Demonstration 69 Schwarze. Beim Massaker von Boipatong im Juni 1992 wurden ca. 40 Menschen von Anhängern einer mit dem ANC rivalisierenden Partei getötet.

3) Die Dreiparteienallianz besteht aus dem ANC, der SACP (südafrikanische KP) und COSATU, dem Dachverband der Gewerkschaften.

4) Der Congress of South African Trade Unions (COSATU) ist der größte südafrikanische Gewerkschaftsdachverband.

5) BHP Billiton ist ein australisch-britischer Rohstoffkonzern und gehört zu den drei weltgrößten Bergbauunternehmen.