Demografie und Rentenlüge
Wirtschaft & Soziales Altersarmut ist kein Naturereignis
Die Demografie tritt als das Schlachtschiff in der Rentendiskussion auf. Sie liefert die Zahlen für die These, dass das System der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) - also das umlagefinanzierte Rentensystem für Klein- und MittelverdienerInnen - bereits jetzt nicht und in Zukunft immer weniger imstande ist, den gewohnten Lebensstandard im Alter sichern: »Renten, die zum Leben reichen«. So wie die Demografie Pate steht bei der Empfehlung an alle DurchschnittsverdienerInnen, sich eine zusätzliche private Rentenversicherung zuzulegen, also den Einstieg ins kapitalfinanzierte System der Rentenversicherung zu vollziehen, versucht sie zugleich die Anhebung des Renteneintrittsalters zu legitimieren.
Medien, »Sachverständige« und Profis bürgerlicher Politik behaupten, die demografischen Veränderungen würden die Anhebung des Rentenalters und eine Absenkung der Altersrente (verkauft als »Generationengerechtigkeit«) unbedingt erforderlich machen. »Wenn wir länger leben, müssen wir auch länger arbeiten« - dieser Spruch fehlt in keiner Rentendebatte. Seine Verbreitung steht in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Triftigkeit.
Die notwendigen Zahlen für diese Thesen liefert das Statistische Bundesamt in seiner Publikation mit dem Titel »Bevölkerung Deutschlands bis 2060«. (Wiesbaden 2009) Das steigende Durchschnittsalter der Gesellschaft in der BRD und ein Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung werden Kosten verursachen, die vor allem von jenen zu tragen sein werden, die während ihres Erwerbslebens in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, eine wachsende Anzahl nicht erwerbsfähiger Menschen unter 20 und über 65 Jahren zu unterhalten haben und dies tun, um selbst eines Tages eine Rente zu beziehen; diese wird wiederum von denen finanziert, die zeitgleich im Erwerbsleben stehen. Das ist das Fundament, auf dem die demografische Prognose des Bundesamtes aufbaut.
Sie lautet schlicht: Haben 2008 100 erwerbsfähige BürgerInnen (im Alter zwischen 20 und 65 Jahren) der BRD 66 Nicht-Erwerbsfähige (im Alter bis 20 und über 65 Jahren) zu unterhalten, steigt die Zahl der Nicht-Erwerbsfähigen bis 2060 (je nach Zahl der zuwandernden Menschen) auf 93 bis 96, die von 100 Erwerbsfähigen zu unterhalten sind. Um auch 2060 die Renten finanzieren zu können, müssen »wir« ab sofort mindestens zwei bis drei Lebensjahre länger arbeiten, weshalb eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 gerechtfertigt sei.
Die Demografie tritt in Gestalt dieser Prognose als eine Autorität mit quasi naturwissenschaftlichem Anspruch auf, die keinen (und schon gar nicht politischen) Widerspruch duldet. Zu selten fällt auf, dass diese Prognose auf zwei Lügen beruht, deren konkrete Gestalt systemspezifisch ist. Sie konnten und können nur so ausfallen.
In der Prognose des Statistischen Bundesamtes wird der Öffentlichkeit ein Zusammenhang suggeriert, der die zugrundeliegende politische Problematik der Rentenfrage ausblendet. Die plakativ vorgeführten 100 Erwerbsfähigen, die angeblich im Jahre 2008 66 nicht erwerbsfähige Menschen zu unterhalten haben, sollen verdecken, dass es eine viel kleinere Zahl tatsächlich erwerbstätiger Menschen ist, die dies leistet. Was verbirgt sich hinter dem Begriff des Erwerbsfähigen? Wohl niemand anderes als ein potentieller Erwerbstätiger. Aber eben nur ein potentieller. Unter diesen Erwerbsfähigen waren im Jahre 2007 30 Prozent nicht erwerbstätig, d.h. dass sie arbeitslos waren, befanden sich in nicht sozialabgabenpflichtigen Ausbildungen oder waren schlicht ökonomisch inaktiv: Erwerbsunfähige, Hausfrauen, FrührentnerInnen, Rentiers und andere mehr.
Rentenlügen
Das ist der Rentenlüge erster Teil. Ihr zweiter: Wenn 2007 ca. 70 Prozent aller Erwerbsfähigen real erwerbstätig waren (d.h. selbständig waren oder einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgingen) sagt das noch nicht viel über die Form ihrer Erwerbstätigkeit aus. Die aber stellt sich so dar: 38 Prozent aller Erwerbsfähigen gingen einer Lohnarbeit in Vollzeit nach, elf Prozent einer in Teilzeit, und weitere elf Prozent befanden sich in Leiharbeit, befristeter Arbeit oder in Mini- und Midijobs. Der Rest der Erwerbsfähigen teilte sich 2007 in ca. zwei Prozent sozialversicherungspflichtige Auszubildende und sieben Prozent Selbstständige. (1)
Die drastischen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt haben im Vergleich mit 1992 - wo die Zahl der Vollzeitbeschäftigten noch um sieben Prozent höher lag, wo Leiharbeit oder geringfügige Beschäftigung erst eine marginale Rolle spielten - das sogenannte »Normalarbeitsverhältnis« (Vollzeit) erodieren lassen. Unter Einbeziehung des überwiegenden Anteils der Selbständigen (der größte Teil besteht heute aus KleinstunternehmerInnen) üben mindestens 15 bis 16 Prozent der Erwerbsfähigen prekäre Tätigkeiten aus. Aus dieser Differenzierung der Zahlen ergibt sich schon: Das erodierte »Normalarbeitsverhältnis« hat einen wesentlichen Anteil an der Austrocknung der Sozialversicherungssysteme.
Die Argumentation mit der Größe »Anteil der Erwerbsfähigen an der Gesamtbevölkerung« dient erstens dazu, ein hochpolitisches Thema zu kaschieren: Den sinkenden Anteil der »Erwerbstätigen« und damit vor allem die hohe Arbeitslosigkeit. Zweitens lenkt sie den Blick ab von der Zusammensetzung der Erwerbstätigen, von der abnehmenden Zahl der Vollerwerbstätigen und vom rasant zunehmenden Anteil von Teilzeit- und prekärer Arbeit. Die Demografie wird zur quasi naturwissenschaftlich legitimierten Zeugin für Rentenkürzung und längere Lebensarbeitszeit. Die inhaltslose Prognose der Gegenüberstellung von Erwerbsfähigen und Nicht-Erwerbsfähigen heute und 2060 soll den Zwang zu längerer Lebensarbeitszeit aus der Demografie begründen und den Blick ablenken von der Politik, die einen Legitimationsdiskurs für faktische Rentenkürzungen benötigt.
Es sind nicht die Erwerbsfähigen, die die Sozialversicherungssysteme unterhalten, sondern der viel kleinere Kreis der wirklich Erwerbstätigen. Und dieser schmilzt dahin wie Butter in der Sonne, weil immer mehr Menschen zwar in den Arbeitsprozess integriert werden, aber als Mini- und MidijobberInnen, ZeitarbeiterInnen, mit befristeten Arbeitsverträgen, als Teilzeitkräfte und Kleinstselbstständige in Selbstausbeutung, die nichts oder nur wenig in die Rentenkassen einzahlen können.
Heute beträgt der Anteil Erwerbstätiger an der Gesamtbevölkerung 42 Prozent und er wird laut Prognose bis 2060 auf 38 bis 39 Prozent fallen, weil der Anteil der unter 20-Jährigen abnimmt und der Anteil der über 65jährigen zunimmt. Eine komplette Neutralisierung der demografischen Veränderungen könnte leicht durch eine Beseitigung prekärer Arbeitsverhältnisse und eine Erhöhung des Anteils real Erwerbstätiger an den Erwerbsfähigen (ab 20 Jahre und bis 65 Jahre) von derzeit 69 Prozent auf nur 76 Prozent im Jahr 2060 gelingen! (2) Die demografische Legitimation der Erhöhung des Renteneintrittsalters ist eine Lüge!
Die aktuelle Rentenpolitik in der BRD verfolgt aber völlig andere Ziele als die der Sanierung der umlagefinanzierten Rentenversicherung. Im Gegenteil: Diese soll bis auf eine Basisversicherung zerstört werden und einer zukünftig kapitalmarktfinanzierten privaten Rentenversicherung nach dem Riestermodell Platz machen. Das Kapital giert danach, die paritätische Umlagefinanzierung zu kippen und durch Senkung der Sozialbeiträge die Profitraten zu erhöhen. Zudem: LohnarbeiterInnen, deren kapitalmarktfinanzierte spätere Rente davon abhängt, ob sie bereit sind in Krisenzeiten alles für die Rettung des Kapitals zu tun, sich Renitenz und Streiks sparen und sich vor jeder Forderung nach mehr Lohn oder kürzerer Arbeitszeit fragen, ob das ihre Arbeitskraft verwertende Kapital (von dessen Profitrate eben die spätere Rente abzuhängen scheint) solche Belastungen wird verkraften können - das ist die kleine banale Utopie der Bourgeoisie vom endlich erstickten Klassenkampf.
Die gegenwärtige Diskussion über Rente und Altersarmut wurde angestoßen durch eine vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Auftrag gegebene Studie zum Thema Rente und Altersarmut. Diese hat genau die Szenarien zu Tage gefördert, die von KritikerInnen immer wieder vorgebracht wurden: Selbst Normalverdienende werden spätestens ab 2030 mit Armutsrenten ihr Alter fristen, weil durch den 2004 eingeführten Nachhaltigkeitsfaktor das Rentenniveau jährlich mit abnehmender Anzahl der BeitragszahlerInnen sinkt und die kontinuierliche Beitragszahlung über den erforderlichen Minimalzeitraum von 35 Jahren eher eine Ausnahme darstellt. 2030 sollen die Rentenbezüge nur noch maximal 43 Prozent vom Nettoeinkommen erreichen dürfen.
Rentenpolitik heute
Plötzlich - 2013 ist Bundestagswahl - häufen sich die Strategiepapiere gegen drohende Altersarmut: Sigmar Gabriel will mehr Betriebsrenten, ein neues Riestermodell und eine steuerfinanzierte Solidarrente für Menschen mit 30 Beitrags- und 40 Versicherungsjahren, deren Alterseinkünfte unter Hartz-IV-Niveau fallen. Ein ähnlicher Vorschlag aus dem BMAS will auch über eine Zusatzrente für einen kleinen Teil der Betroffenen, der mindestens 30 Beitragsjahre aufweist und privat vorgesorgt hat, die Rente aus Beitragsmitteln auf bis zu 850 Euro aufstocken.
Aber: Die Rente mit 67 steht nicht in Zweifel! Das Strategiepapier aus dem Hause Gabriel/SPD gibt sich klarsichtig: »Erwerbsarmut und zu große Lohnspreizung sind die wichtigsten Ursachen für die in den kommenden Jahren drohende Gefahr einer wachsenden Armut im Alter.« (Bild, 8.9.2012) Daraus folgen wird aber nichts! Weder ein ausreichender Mindestlohn noch die Prekarisierung der Arbeits- und Einkommensverhältnisse stehen zur Diskussion. Dass FDP und gewichtige Teile der Union jede soziale Neugestaltung der Rentenpolitik mit Verweis auf die bestehende Grundsicherung und die Kosten zurückweisen, dürfte niemanden verwundern.
Bürgerversicherung
Die gesetzliche Rentenversicherung ist nur zu retten, wenn es gelingt, die Prekarisierung der Arbeit zurückzudrängen, einen Mindestlohn einzuführen, der es allen erlauben wird, sich eine ausreichende Rente zu erarbeiten. Zugleich - und das ist eine Dauerforderung einiger Gewerkschaften und der Linkspartei - geht es darum, dass zunehmend Kapital- und Zinseinkünfte in die Berechnung der Sozialabgabenhöhe einbezogen werden und die Beitragsbemessungsgrenze entfällt. (3) Eine Mindestrente, die zum Leben reicht, gehört genauso dazu wie eine Maximalrente. Ohne Maximalrente werden die gesetzlichen Rentenversicherungsträger spätestens dann, wenn vermögende BeitragszahlerInnen aus ihren hohen Beiträgen gleichwertige Ansprüche geltend machen können, in die Zahlungsunfähigkeit getrieben. Das geht ungefähr in die Richtung einer Bürgerversicherung, wie sie in jeweils ähnlicher Form von der IG BAU und dem Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge gefordert wird. (4)
Die Proteste aus dem Lager der Sozialorganisationen, der SPD, der Grünen und des DGB gegen die Rente mit 67 verweisen immer wieder auf die geringe Beschäftigungsquote der über 60jährigen Lohnarbeiter. Ein miserables Argument, weil es suggeriert, dass nichts gegen eine längere Lebensarbeitszeit einzuwenden wäre, wenn nur die Arbeitskraft der LohnarbeiterInnen über 60 überhaupt noch verwertet würde. Die derzeitige Arbeitsmarktpolitik treibt aber dahin, die über 60-jährigen LohnarbeiterInnen zu zwingen, ihre Arbeitskraft im Alter immer noch bereit zu halten, weil die Rente nicht reichen wird.
Auch Argumente aus der LINKEN und des DGB (5), die für die Zukunft hohe Steigerungen der Arbeitsproduktivität (Stichwort: Neue Technologien der Energiewende) prognostizieren und darauf hoffen, dass damit jede demografische Veränderung leicht auszugleichen wäre, überzeugen nicht. Der Trend abnehmender Wachstumsraten in den vergangenen Jahrzehnten in den Staaten der OECD spricht gegen die Hoffnung auf eine Wiederkehr der märchenhaften Steigerungen der Arbeitsproduktivität aus der Hochzeit des Fordismus. Die diffuse Hoffnung auf zukünftige Wiederkehr goldener Wachstumszeiten ist kein gutes Argument gegen die Rente mit 67.
Alfred Kollmeier ist aktiv bei attac Mainz.
Anmerkungen:
1) IZA-Research Report: Arbeitsmarkt und Beschäftigung in Deutschland 2000-2009.
2) attac-Mainz: Demografie und Rentenlüge. Die Studie ist auf der website von attac- Mainz erschienen.
3) Die Beitragsbemessungsgrenze ist der Höchstbetrag, bis zu dem Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen bei der Berechnung des Versicherungsbeitrags berücksichtigt werden. Für darüber hinausgehendes Einkommen sind keine Beiträge zu zahlen.
4) www.christophbutterwegge.de / www.ichwillrente.net.
5) Michael Schlecht: Der Reichtum reicht auch für Rentner. Frankfurter Rundschau, 27.1.2007. Michael Schlecht ist Chefvolkswirt bei ver.di und Abgeordneter der LINKEN. Ebenso: Sarah Wagenknecht, Neues Deutschland, 3.9.2010.