Wir brauchen einen linken Populismus
Organisierungsfragen Katja Kipping und Bernd Riexinger erklären, warum sie einen anderen Ton anschlagen und was Linke in und außerhalb der Partei von der neuen Führung erwarten können.
Interview: Ingo Stützle und Jan Ole Arps
»Wir wären sofort bei einer rot-rot-grünen Regierung dabei, die Waffenexporte verbietet, einen Mindestlohn einführt und die Hartz-IV-Sanktionen abschafft.« Mit diesem Satz hatte Katja Kipping Anfang August Schwung in die Debatte um mögliche Regierungsbeteiligungen gebracht. Wenig später präzisierten sie und Bernd Riexinger, auch eine Reichtumssteuer und eine friedliche Außenpolitik gehörten zu einer rot-rot-grünen Reformpolitik. Doch da hatten SPD und Grüne schon mit reflexhaften Abgrenzungen reagiert und der Linkspartei einen der lang vermissten öffentlichen Aufmerksamkeitserfolge verschafft. Doch nicht nur in der Auseinandersetzung mit SPD und Grünen tut sich etwas, auch innerhalb der Partei wird ein neuer Ton erprobt. Der Bundestagswahlkampf ist als »Mitmachwahlkampf« geplant, zu dem die Basis umfassend mobilisiert werden soll, und auch in Richtung sozialer Bewegungen und außerparlamentarischer Linker hat die neue Parteiführung die Fühler ausgestreckt. Im Juli wurden bei einem Bewegungsratschlag Möglichkeiten der Zusammenarbeit ausgelotet. Von so viel Offenheit wollten wir auch profitieren, Antworten auf ein paar brennende Fragen erhalten. Hat es geklappt, oder haben wir die Gesprächsbereitschaft der neuen Parteiführung überschätzt?
Bei der Linkspartei geht es in den Medien oft um die Vergangenheit, deshalb wollen wir mit einem Blick in die Zukunft beginnen. Wir springen ins Jahr 2014. Katja, hat Deutschland eine rot-rot-grüne Regierung?
Katja Kipping: Ein konservativer, aber in dieser Frage kluger Mann hat mal gesagt, dass Prognosen schwer zu treffen sind, besonders dann wenn sie die Zukunft betreffen.
Bernd, welche Ziele hat DIE LINKE 2014 durchsetzen können, welche bereits über Bord geworfen?
Bernd Riexinger: Unsere Ziele sind ein gesetzlicher Mindestlohn von 10 Euro, eine armutsfeste Mindestrente, weg von der Rente ab 67, eine friedliche Außenpolitik und eine sanktionsfreie Grundsicherung statt Hartz IV. Und natürlich die Einführung einer Vermögenssteuer.
Das habt ihr alles durchgesetzt?
B.R.: Wenn wir das nicht durchsetzen können, gehen wir auch in keine Regierung.
Existiert 2014 die Linkspartei im Westen noch?
B.R.: Davon gehe ich felsenfest aus. Es gibt einen großen Konsens, dass wir eine gesamtdeutsche Partei DIE LINKE brauchen und nur als solche auch überlebensfähig sind.
Ihr habt gerade eine Sommertour durch die Bundesländer hinter euch. Dabei wolltet ihr unter anderem herausfinden, was die drängenden Themen der Basis sind. Wo drückt der Schuh?
B.R.: Ich war vor allem im Osten und in Niedersachsen. In den Basisversammlungen war die Erleichterung groß, dass die internen Streitigkeiten beendet sind und wir uns wieder den politischen Themen zuwenden. Thema war hier aber vor allem, dass es nach wie vor Lohnunterschiede zwischen Ost und West gibt, die Renten immer noch nicht angeglichen sind und viele Gebiete unter Deindustrialisierung und Abwanderung leiden.
K.K.: Auch bei mir war die katastrophale finanzielle Situation der Kommunen ein Schwerpunkt. Optimistisch gestimmt hat mich die sehr rege Mitgliedschaft. Probleme gibt es aber bei der Nachwuchsarbeit. Eine weitere Herausforderung für alle Linken, nicht nur die Partei, ist der Rassismus, der weit bis in die Mitte der Gesellschaft geht. Wir beide wurden außerdem von der Parteibasis aufgefordert, uns für eine antimilitaristische Politik starkzumachen.
Bei eurer Wahl zu den Parteivorsitzenden habt ihr als wichtiges Anliegen formuliert, einen anderen Umgang in der Partei zu etablieren. Doch der etabliert sich nicht von selbst, er muss auch in Strukturen und Prozessen der Partei verankert werden.
B.R.: Wir haben eingeführt, dass sich die Landesvorsitzenden regelmäßig mit uns zusammensetzen, das fördert den Austausch. Die zweite Stufe wird sein, dass wir verstärkt auf Regionalversammlungen gehen. Es muss außerdem besser gelingen, die Mitglieder aktiv in die Arbeit einzubeziehen, es muss eine Kultur des Mitmachens geben. Quasi als ersten Schritt wollen wir den Bundestagswahlkampf auch als Aktivierungswahlkampf für die Mitglieder führen.
K.K.: Wir wissen, dass wir nicht allmächtig sind und vieles einfach verändern können. Wenn wir merken, es gib einen Widerspruch, den wir nicht produktiv auflösen können, dann gönnen wir uns eine Atempause und lesen mal Gramsci oder Luxemburg. Vielleicht finden wir danach eine Lösung.
Um das mal zusammenzufassen, ist eure Strategie, um mit den Widersprüchen in der Partei umzugehen: Tempo raus nehmen, und die Partei mit neuen Mitgliedern fluten?
K.K.: Eine sehr knappe Zusammenfassung. Die Zuhöroffensive haben wir ja bereits gestartet. Es gibt einen Blog, es gibt Massentelefonkonferenzen, wo die Kreisvorsitzenden miteinander ins Gespräch kommen. Auch die Grundlinien des Wahlprogramms wollen wir in einem Kreativworkshop erarbeiten, zu dem alle, die mitmachen wollen, eingeladen sind.
Ihr seid für euer enges Verhältnis zu sozialen Bewegungen bekannt. Wie stellt ihr euch eine Zusammenarbeit konkret vor?
K.K.: Eine erste Initiative war ein Bewegungsratschlag, wo wir mit Vertretern sozialer Bewegungen beraten haben, wie es mit den Krisenprotesten weitergeht. Außerdem unterstützen wir das Bündnis UmFairteilen.
Was wurde auf dem Bewegungsratschlag verabredet?
B.R.: Es gab einen Konsens über die Schwerpunkte. Einer ist die Verteilungsfrage und die Besteuerung von Reichtum, da sind wir uns mit UmFairteilen und Blockupy einig. Das bietet die Chance, auf europäischer Ebene den Gegensatz von oben und unten zu thematisieren - statt national-populistischer Deutungen der Krise. Zweitens wollen wird das Öffentliche stärken. Die Schuldenbremse und der Fiskalpakt werden zu gravierenden Angriffen auf die Sozialsysteme führen. Der dritte Punkt ist noch etwas im Ungefähren. Peter Grottian hat die Notwendigkeit der Revitalisierung der sozialen Frage formuliert. Wie das in eine Bündniskampagne umgesetzt werden kann, soll im Herbst weiter besprochen werden.
Bei diesen Themen spielen auch die Gewerkschaften eine wichtige Rolle. Und da ist gerade zu beobachten, dass sich viele Gewerkschafter wieder von der LINKEN ab- und der SPD zuwenden.
B.R.: Der These würde ich widersprechen. Ich glaube eher, dass die SPDler in der Phase von Hartz IV und Rente mit 67 in den Gewerkschaften deutlich ruhiger geworden sind und die Linken in dieser Zeit ein stärkeres Gewicht bekommen haben. In den letzten zwei Jahren hat sich das wieder umgedreht. Man kann auch nicht von »den Gewerkschaften« reden. Ver.di, die GEW und die NGG machen zum Beispiel in der Kampagne UmFairteilen mit, andere Gewerkschaften leider nicht.
K.K.: Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass die Zunahme von Stress wieder stärker gewerkschaftspolitisches Thema wird. Ich habe großes Interesse an einem Austausch darüber, mit welchen Maßnahmen man der Zunahme von Stress, der Frauen übrigens immer noch überproportional stark trifft, entgegenwirken kann. Ich denke, dass man auch wieder über Arbeitszeitverkürzung reden muss.
In den letzten Wochen seid ihr auf SPD und Grüne zugegangen und habt ihnen ein Koalitionsangebot unter bestimmten Bedingungen gemacht. Auf wen wolltet ihr damit einwirken, haben wir uns gefragt. Zielen diese Vorstöße am Ende vor allem auf die unterschiedlichen Strömungen eurer eigenen Partei?
K.K.: Das war kein Koalitionsangebot. Wenn man jemandem einen Antrag stellt, dann tut man das persönlich. Wir haben auf eine Frage geantwortet, die uns permanent von Journalisten gestellt wird, nämlich: Wie haltet ihr es generell mit einer Regierungsbeteiligung. Die Bedingungen, die wir hierfür formuliert haben, markieren einen Politikwechsel.
Aber ganz so reingeschlittert in diese Aussage, nur weil ihr dauernd die Frage gestellt bekommt, seid ihr ja auch nicht. Deshalb noch mal: Zielte der Vorstoß vor allem darauf, die Fronten in eurer eigenen Partei aufzulösen?
B.R.: Nein. Wir haben einfach überlegt, wie gehen wir mit der Frage nach der Regierungsbeteiligung um. Sagen wir immer, was mit uns nicht geht, oder formulieren wir offensiv, was wir wollen. Ich glaube, auch für die Wähler ist es deutlich interessanter, dass sie wissen, für was DIE LINKE steht.
Angesichts einiger nicht sehr erfreulicher Koalitionserfahrungen auf Länderebene wäre ein selbstkritischer Blick zurück angebracht, was hat zum Beispiel Rot-rot in Berlin gebracht? Gab es eine Auseinandersetzung, was da passiert ist?
B.R.: Auf der Bundesebene haben wir eine klare Haltung. Es geht nicht darum zu regieren um der Regierung willen. Und dort, wo DIE LINKE in Landesregierungen mitregiert, werden diese Erfahrungen in den Landesparteien diskutiert und ausgewertet.
Ich bekomme in Berlin nicht mit, was da viel diskutiert würde, eher dass es noch mal heftige Konflikte gibt, gerade vor dem Hintergrund, dass DIE LINKE auf soziale Bewegungen zugehen will. Der Berliner Mieterverein etwa verweigert sich auf lokaler Ebene einer Zusammenarbeit mit der LINKEN aufgrund der Erfahrungen mit der Politik des rot-roten Senats. Der Berliner Wassertisch ist nach wie vor stinksauer über die Rolle des ehemaligen Wirtschaftssenators Harald Wolf bei der Privatisierung.
K.K.: Die ganz konkrete Aufarbeitung muss in den Landesverbänden passieren und wird bestimmt nicht über die Medien öffentlich gemacht. Wenn man - Aufarbeitung ist ja ein sehr schwerwiegendes Wort - wenn man eine kritische Bilanz zieht, gehören dazu aber auch die Erfolge, in Brandenburg etwa die Abschaffung der Residenzpflicht für Asylbewerber. In Berlin werden die Erfolge mit dem Ende von Rot-Rot wieder beerdigt.
Zu den Problemen der Linkspartei gehört auch der Erfolg der Piraten. Was fehlt der LINKEN, was die Piraten haben?
K.K.: Die Piraten haben den Zauber des Neuen - und immer noch eine sehr freundliche mediale Begleitung. Es gibt viel, was wir an den Piraten kritisieren: Frauen sind bei ihnen eine verschwindende Minderheit, es fehlt auch jeder Biss gegenüber Konzernen und Superreichen. In einem Punkt haben wir aber von den Piraten gelernt und zwar in der Frage der Liquid Democracy. Wir werden auch unser Bundestagswahlprogramm über digitales Feedback mitdiskutieren.
Reicht es, den Zuspruch zu den Piraten nur mit der guten Behandlung durch die Medien und dem Zauber des Neuen zu erklären? Gehören dazu nicht auch Fragen der politischen Kultur, etwa die Fähigkeit, in der Ich-Form zu sprechen, von der eigenen Erfahrungswelt auszugehen?
K.K.: Bei den Piraten führt die Ich-Form eher zu Egoismus. Die Piraten sind die Partei der Kopfpauschale. Dieses Modell praktizieren sie auch in der eigenen Partei: Abgesehen von Sozialtarifen zahlen bei den Piraten alle den gleichen Mitgliedsbeitrag, egal, was sie verdienen.
Dennoch: Treffen die Piraten mit ihrer Sprache und ihren Verfahrensweisen - bei allen Schwächen - nicht eine politische Kultur besser, die sich auch im Zuge neuer Arbeitsverhältnisse entwickelt hat?
B.R.: Die Frage ist, ob sie wirklich einen Beitrag leisten können zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme. Und ob es auf die Dauer reicht, Politik zu einer Stilfrage zu verklären. Durch die Eurokrise haben wir wieder mit Themen zu tun, zu denen die Piraten nichts oder nur wenig inhaltlich zu sagen haben. Und eine ganz entscheidende Frage ist: Haben die Piraten eine ausreichende soziale Basis? Jede Partei braucht, um zu überleben, eine soziale Basis, deren politischen Interessen sie zum Ausdruck bringt. Bei den Piraten habe ich da große Zweifel.
In der Eurokrise herrscht die Erzählung vor, dass »wir« Deutschen für »die« Griechen oder Südeuropäer bezahlen müssen. Diese Erzählung wird auch »von unten« getragen.
K.K.: Das stimmt. Die Aufgabe, vor der die gesellschaftliche wie die parteipolitische Linke steht, ist, in diese Erzählung zumindest eine Umverteilungs-, wenn nicht eine Klassendimension einzuführen. Ein Beispiel: Wenn man schon in Griechenland Einsparvorschläge macht, dann soll man die Millionäre dort zur Kasse bitten. Ich persönlich finde auch, dass es über zentrale Fragen der europäischen Zukunft keine nationalen, sondern europaweite Volksabstimmungen geben sollte. Über diesen Punkt gibt es aber noch Klärungsbedarf in der Partei. Weiter brauchen wir eine europäische Sozialunion, die Mindeststandards setzt. Eine gute Idee, die sich in dem unter Leitung von Gabi Zimmer entstandenen Bericht zur Vermeidung von Armut in Europa findet, wäre es, in jedem europäischen Land ein Mindesteinkommen einzuführen. Dies wäre nicht überall dieselbe Summe, um kein Dumping nach unten zu betreiben, sondern sollte sich an der nationalen Armutsrisikoschwelle orientieren.
Irgendeine Idee, wie man den guten Vorschlägen gegenüber der dominanten Stimmung Gehör verschaffen kann?
K.K.: Ich glaube, es braucht Linkspopulismus, auch in der Zuspitzung, um deutlich zu machen, es gibt Alternativen. Und wir müssen alternative Erklärungsmuster starkmachen und der Erzählung von Merkel, die sparsamen Deutschen zahlen für die faulen Griechen, eine andere Erzählung entgegensetzen. Und drittens brauchen wir eine lebendige Krisenprotestbewegung. Solange es die nicht gibt, wird es schwer sein, die Hegemonie des schwarzgelben Erklärungsansatzes zu durchbrechen.
Katja Kipping
Jahrgang 1978, ist seit 1998 Mitglied der PDS und seit 2005 im Deutschen Bundestag. Sie hat sich als Befürworterin eines bedingungslosen Grundeinkommens einen Namen gemacht. Katja Kipping arbeitet in der Redaktion der Zeitschrift Prager Frühling, gehört zur parteiinternen Strömung der Emanzipatorischen Linken und hat das Institut Solidarische Moderne mitgegründet. Im Juni wählte der LINKEN-Parteitag sie zur Bundesvorsitzenden.
Bernd Riexinger
Jahrgang 1955, arbeitete als Bankkaufmann und ist seit 1991 Gewerkschaftssekretär. Im Jahr 2001 wurde er Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart. Er war aktiv in den Sozialprotesten gegen Rot-Grün und in den Krisenprotesten und engagiert sich in der Gewerkschaftslinken. Seit 2004 war er Landessprecher der WASG in Baden-Württemberg, seit 2007 für die Linkspartei. Im Juni wurde er neben Katja Kipping zum Bundesvorsitzenden der Partei gewählt.