Ich schreib dir dann ...
Kultur Als vor 20 Jahren die erste SMS verschickt wurde, begann eine Entwicklung, die Politik und Alltag veränderte
Von Ute Holfelder
M E R R Y C H R I S T M A S - aus diesen 15 Zeichen bestand die erste digitale Textmitteilung, die am 3. Dezember 1992 von einem Computer ins britische Vodafone-Netz übermittelt wurde. Seitdem dürften weltweit Abermilliarden von Kurzmitteilungen gesendet und empfangen worden sein. Der Short-Message-Service (SMS) ist ein selbstverständlicher Bestandteil der Alltagskommunikation geworden.
Dabei war am Anfang alles ganz anders geplant gewesen: Als einige Telekommunikationsgesellschaften in den 1980er Jahren begannen, Textnachrichtendienste zu entwickeln, sollten damit lediglich ihre KundInnen kostenlos über Serviceleistungen, Netzstörungen oder Ähnliches informiert werden. Schnell zeigte sich jedoch, dass die Erfindung von den KundInnen in einer Weise genutzt wurde, mit der niemand gerechnet hatte. Zudem ließ sich mit den technisch vergleichsweise unaufwändigen und dadurch für die Anbieter kostengünstigen Textnachrichtendiensten ein profitables Geschäft machen.
Aber waren es lediglich ökonomische Gründe, die den schnell geschriebenen und verschickten Mitteilungen weltweit den Weg bereiteten? Oder handelt es sich nicht vielmehr um eine klassische Überdeterminierung, weil verschiedene Ereignisse zusammenfielen und dem Siegeszug des neuen Kommunikationsmediums förderlich waren?
Differenzierung von Kommunikation
Gerne werden die Schlagworte Beschleunigung, Mobilität und Handy in einen Topf geworfen und miteinander vermengt. Ob zuerst die Henne resp. die Beschleunigung oder das Ei resp. das Handy mitsamt seinen immer ausgefeilteren Möglichkeiten existierte, ist dabei eine häufig anzutreffende Frage. Sie führt aber kaum weiter, weil das eine das andere bedingte und vorantrieb und vice versa. Mit Sicherheit ist im Mobiltelefon, dem technischen Gerät selbst, ein Schlüssel zu sehen.
Das individualisierte Kommunikationsmittel zeichnet sich aus durch seine Kleinheit, seine Transportabilität und seine vielseitige Verwendbarkeit. Es ist innerhalb zweier Jahrzehnte für den Großteil der Bevölkerung zu einem ständig verfügbaren Alltagsbegleiter geworden. Das Mobiltelefon veranschaulicht, was die kulturwissenschaftliche Technikforschung unter »Veralltäglichung von Technik« versteht: Welches andere Gerät konnte sich in so kurzer Zeit so flächendeckend ausbreiten und die alltäglichen Kommunikationspraktiken in einem solchen Ausmaß erweitern wie das Handy?
Das SMS-Schreiben ermöglicht, auch über sehr große Distanzen hinweg, unkomplizierte und kostengünstige Kommunikation, die sowohl den Sender als auch den Empfänger weitaus weniger in Anspruch nimmt als etwa das Telefonieren oder das Verfassen einer E-Mail. Verabredungen werden kurzfristiger vereinbart, Uhrzeit und Ort bis kurz vor einem Treffen offen gelassen mit der Bemerkung »Ich schreib dir noch«. Dieser Gebrauch macht flexibler, und gleichzeitig entstehen Normen, die in dieser Form neu sind.
Wer beispielsweise zu spät kommt, auch wenn es sich nur um eine Viertelstunde handelt, wird heute oft mit der Erwartung konfrontiert, die Verspätung - wenn absehbar möglichst schon kurz vor dem vereinbarten Zeitpunkt - anzukündigen: mittels eines kurzen Telefonats oder wenigstens per SMS. Verbindliche Regeln bestehen für diesen Fall jedoch ebenso wenig wie bezüglich des Zeitrahmens, in dem eine SMS zu beantworten ist. Ausreden wie, der Akku sei leer gewesen, man hätte den Signalton nicht gehört oder sei im Funkloch gewesen, taugen mittlerweile kaum mehr als Entschuldigung.
Neue Freiräume - nicht nur für Jugendliche
Immer häufiger wird eine SMS dazu genutzt, ein Telefonat vorab anzukündigen. Interessant ist dieses Phänomen deshalb, weil es zeigt, dass Differenzierungen von Kommunikationspraktiken stattfinden, die unmittelbar auf das technischen Potenzial des Mobiltelefons gründen.
Finnische Jugendliche waren die Ersten, die das »Simsen« für sich entdeckten. Die anfängliche Beschränkung der Anzahl auf 160 Zeichen brachte es mit sich, dass sie eine SMS-Sprache entwickelten, die zur Kürze und Formelhaftigkeit tendiert und von der bildungsbürgerlichen Elterngeneration kurzerhand als Exempel für Sprachzerfall diskreditiert wurde. Medien- und SprachwissenschaftlerInnen konterten, SMS-Sprache sei keineswegs ein Geheimcode von Jugendlichen, sondern zeuge von einem kreativen Umgang mit Versatzstücken aus der Sprache der Chats, der E-Mail-Kommunikation, gängigen Abkürzungen sowie der Erweiterung durch lokale Insiderjargons und Wendungen aus Umgangssprache und Dialekt.
Festgehalten wurde auch, dass Mädchen die Textnachrichtenfunktion bedeutsam häufiger und intensiver nutzen als Jungen, was sich an Menge und Länge der SMS sowie der Anzahl der KontaktpartnerInnen messen lässt. Es stellt sich die Frage: Schreiben Mädchen mehr, weil schriftliche Kommunikation nach wie vor eine Frauendomäne ist? Oder aber - so die These der Psychologin Nicola Döring - weil die »Diskretion des Mediums« den stärker kontrollierten Mädchen entgegenkommt? (1)
»Simsen« als Option einer - etwa im Vergleich zum Telefonat - relativ unauffälligen und allerorts durchführbaren Kommunikationsform ermöglicht es Jugendlichen, sich der Kontrolle von Erwachsenen zu entziehen. Vermutlich rühren daher auch die pädagogischen Abwehrreaktionen, die auf die SMS-Sprache zielen und eigentlich den Kontrollverlust der Eltern meinen. Diese kennen sich zum einen großteils mit der Handytechnik nicht aus und müssen zum anderen zusehen, wie sich ihre Sprösslinge mit dem Mobiltelefon neue Freiräume erobern.
Mittel zur Massenmobilisierung
Niklas Luhmann hat die These aufgestellt, dass jedes neue Medium etwas möglich macht, was vorher nicht möglich war. Bezogen auf das Medienformat SMS trifft dies im Rahmen der alltäglichen privaten Kommunikation ebenso zu wie in Bezug auf die Rolle der Neuen Medien in sozialen Bewegungen. In Serbien fungierten 2008 SMS als Mittel zur Massenmobilisierung. Im Arabischen Frühling spielten Mobiltelefone neben Facebook, Twitter und Youtube ebenfalls eine entscheidende Rolle. Sammel-SMS erreichen Akteure auch in weit abgelegenen Regionen. Und in armen Ländern, in denen vergleichsweise wenige Haushalte über einen Internetanschluss, aber ein Großteil über Mobiltelefone verfügt, sind Textnachrichten ein wirkmächtiges Instrument.
In den letzten Jahren konnten in Afrika Ansätze für einen SMS-unterstützten politischen Aktivismus beobachtet werden, der sein Potenzial insbesondere aus der Koppelung des Mobiltelefons mit dem Internet bezog. (2) Die Vernetzung verschiedener Medien schafft neue Räume, die sowohl virtuell als auch real bespielt werden können. Dabei strukturiert die Nutzung von SMS Gruppenprozesse. In welcher Weise diese Ein- und Ausschlüsse begünstigt oder Hierarchien bzw. basisdemokratische Prozesse ermöglicht, lässt sich momentan nur von Fall zu Fall beurteilen. Mit Medienformaten wie SMS oder E-Mail mag ein Enablingpotenzial für soziale Prozesse verbunden sein, ein Automatismus besteht jedoch nicht.
Mit der technischen Weiterentwicklung vom reinen Telefon zum medienkonvergenten Smartphone entstehen wiederum neue Möglichkeiten. Mittlerweile ist das SMS-Format in die Jahre gekommen und wird - zumindest in den Industrienationen - zunehmend von Twitter, Facebook, Whatsapp abgelöst. Ob das Rieplsche Gesetz, das behauptet, kein Kommunikationsmedium, das sich einmal eingebürgert habe, könne wieder verdrängt werden, auch auf die SMS zutrifft? Dies wird die Zukunft weisen.
Ute Holfelder ist empirische Kulturwissenschaftlerin und zurzeit an der Universität Zürich wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Projekt zu Handyfilmen.
Anmerkungen:
1) Nicola Döring: Handy und SMS im Alltag. Ergebnisse einer Befragungsstudie. In: merz. medien und erziehung. zeitschrift für medienpädagogik 3/2005.
2) Siehe Christopher Coenen, Ulrich Riehm: Internetkommunikation in und mit Entwicklungsländern - Chancen für die Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel Afrika, TAB-Arbeitsbericht Nr. 118, Juni 2007.