Geschichten von links unten
Nachruf Der marxistische Historiker Eric Hobsbawm ist im Alter von 95 Jahren verstorben
Zusammengestellt von der ak-Redaktion
»Dass ich Marxist geworden bin, liegt an meinen persönlichen Erfahrungen in den 1930er Jahren, in der Großen Depression«, erklärte im Mai 2009 der linke Historiker Eric Hobsbawm angesichts der großen Krise dem Magazin Stern. Anfang Oktober starb er im Alter von 95 Jahren. Wir baten Logie Barrow, Marcel van der Linden, Katja Kullmann und Anton Tantner, ihre Lieblingsbücher und Erinnerungen mit uns zu teilen.
Polyglott, cool und antifeministisch
»Nun bleibt nichts mehr zu tun, außer sich hinzulegen und zu sterben«, kündigte Eric Hobsbawm auf einer seiner Abschiedspartys 1982 an. Bis Mitte 2012 widerlegten seine hellsichtigen Analysen der heutigen Krise seinen Pessimismus 30 Jahre zuvor. 1964 machte sein Buch »Labouring Men« ihn für einen klassenbessenen Cambridgeabsolventen wie mich zu einem interessanteren Promotionsbetreuer als den mir politisch näher stehenden Edward P. Thompson - polyglott, cool und, durch seine Jazzreviews, großstädtisch.
Ich hatte gewusst, dass es mit ihm turbulent werden würde, schließlich hatte ich bereits erlebt, wie polemisch-verzerrt er als Gastredner im Cambridge Labour Club konkurrierende Linke wiedergeben konnte: »Sie wollen also, dass die Londoner Hafenarbeiter die Whitehall-Straße im Regierungsviertel mit Maschinengewehren hinunter marschieren.« Bei unserem ersten Treffen einigten wir uns darauf, spielerisch mit unseren politischen Meinungsverschiedenheiten umzugehen.
Hobsbawm leitete ein wöchentliches Seminar voller Forschungsstudierender und internationaler BesucherInnen. Dort und an der Labour History Society konnten wir unsere ersten Papers präsentieren und auch den Vorträgen von einigen seiner scheinbar unzähligen internationalen Kontakte lauschen.
Da keine der Lehrveranstaltungen an seinem Birkbeck College vor 19 Uhr begann, hatte er nach dem Seminar meistens noch Zeit für eine kompromisslose Diskussion in einem Pub. Bei einer dieser Diskussionen kritisierte ich ihn dafür, 1956 nicht gemeinsam mit den Thompsons und einem Drittel der Mitglieder aus der Partei ausgetreten zu sein. Seine Erklärung war eher persönlich als politisch und zeigte mir, wie lebenslang unsere Reifezeit ist.
Für manche von uns war Hobsbawms einzige wirkliche Schwäche seine Reaktion auf die Feministinnen meiner Generation. »Sie könnten eine gute Sozialhistorikerin sein, wenn Sie nicht eine solche Feministin wären«, war sein mürrischer Kommentar zu einer von ihnen. Erst heute wird mir bewusst, dass die Teilnehmerinnen seines Seminars sich tendenziell weniger wohlfühlten als die Teilnehmer, aber dass niemand die Worte fand, um das auszusprechen. Auf Ruth Richardsons Protest gegen seinen Artikel »Man and Woman in Socialist Iconography« in der Zeitschrift History Workshop antwortete er, indem er ihn Jahre später unverändert in eine Anthologie übernahm. Symbolisch für seine Isolation ist, dass zwischen seinem Artikel (1978) und ihrem Protest (1982) der Untertitel des Journals - »A Journal of Socialist Historians« - geändert wurde in »A Journal of Socialist and Feminist Historians«.
Logie Barrow promovierte bei Hobsbawm mit »The Socialism of Robert Blatchford and the Clarion Newspaper, 1889-1918«. Er lehrte bis 2008 Sozialgeschichte an der Universität Bremen.
Realismus schlägt Internationalismus
Eric Hobsbawm traf ich zum ersten Mal im Jahre 1985, als das Internationale Institut für Sozialgeschichte im Amsterdamer Hotel Krasnapolsky sein fünfzigjähriges Bestehen feierte. Eric eröffnete die Jubiläumskonferenz mit einem Vortrag über »Working-Class Internationalism«. Mit großer Eloquenz verteidigte er seine Auffassung, dass »Es kann keinen echten Internationalismus jedweder Art geben, ohne den Glauben nicht nur an die Gleichheit von Nationen und Rassen im abstrakten, sondern auch an die Gleichheit der westindischen, pakistanischen, bangladeschische Arbeitenden in den Fabriken und Büros mit den englischen, schottischen, walisischen und irischen.« Damit gab er den Ton an, der den Rest der Tagung beherrschte.
In seinen vielen historischen Schriften zur Geschichte der Arbeiterklasse und des Arbeiterwiderstandes hat er meistens einen radikal-sozialistischen Standpunkt eingenommen; und es ist wohl auch deshalb, dass er bei Linken der verschiedensten Tendenzen großes Ansehen genießt.
Für mich persönlich sind vor allem einige seiner Aufsatzsammlungen bis heute wichtige Inspirationsquellen geblieben: »Primitive Rebels« (1959), »Labouring Men« (1964) und »Worlds of Labour« (1984). Natürlich ist die Forschung inzwischen weiter fortgeschritten und wir kennen wichtige Schwachstellen dieser Bände - insbesondere die Vernachlässigung der Geschlechterfrage. Trotzdem ist es auch jetzt noch ein Vergnügen Hobsbawms Texte zu lesen; ihr Weitblick mit seinen unerwarteten aber erhellenden Vergleichen, und der großartige Schreibstil sind nach wie vor anregend.
Es hat jedoch einen bedeutenden Widerspruch in Hobsbawms politischer Haltung gegeben. Als ehemaliger Stalinist der (anders als John Saville oder E.P. Thompson und andere Mitstreiter) bis zur Auflösung der britischen Kommunistischen Partei 1991 Mitglied geblieben war, war er in den 1980er Jahren die vielleicht einflussreichste intellektuelle Stütze des jetzigen Eurokommissars Neil Kinnock der die britische Labour Party erfolgreich nach rechts drängte und so den Antritt Tony Blairs vorbereitete. Immer wieder kam Hobsbawm reformistischer »Realismus« seinem Internationalismus in die Quere.
Marcel van der Linden ist Forschungsdirektor am Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam.
Das Pseudonym Francis Newton
Zu den vielfältigen Themen, mit denen sich Eric Hobsbawm beschäftigte, zählten auch der Jazz und seine Geschichte. Bereits 1959 publizierte er in London »The Jazz Scene«, ein Buch, das unter dem Pseudonym Francis Newton erschien, weil Hobsbawm seine historische von der jazzjournalistischen Arbeit trennen wollte. »The Jazz Scene« weist alle Stärken auf, die Hobsbawms sonstige wissenschaftliche Veröffentlichungen charakterisieren; er verwahrte sich darin gegen jegliche Biologismen, die Jazz als Ausdruck einer »Rasse« oder als typisch afrikanische Musik betrachten wollten, mokierte sich über jazzaffine Eliten, die ob des vermeintlichen Exotismus verzückt waren und betonte stattdessen die vielfältigen hybriden Einflüsse, die den spätestens ab den 1920er Jahren in Europa populär gewordenen Jazz kennzeichneten.
Besonders bedeutsam war für mich, als ich das Buch im Zuge der Arbeit an meiner Diplomarbeit zu den »Schlurfs« - einer um den Swing entstandenen Arbeiterjugendsubkultur im Wien während der NS-Herrschaft - las und zu meiner Freude entdeckte, dass Hobsbawm darin jenen Jugendlichen Aufmerksamkeit entgegenbrachte, die im NS-beherrschten Europa Jazz hörten und dadurch in eine Distanz zum Faschismus gerieten, die auch zu Protest- und Widerstandsaktionen führen konnte. Namentlich erwähnt er die Zazous, die sich im deutsch besetzten Paris an Johnny Hess, Charles Trenet und Django Reinhardt begeisterten und wegen ihrer Frisur zuweilen Opfer von Haarschneideaktionen wurden; manche von ihnen trugen öffentlich einen Judenstern mit dem Schriftzug »Swing«, nahmen an Demonstrationen teil und kamen deswegen in Arbeitslager.
Es spricht für Hobsbawm, dass er sich im Kalten Krieg weder von den Kampagnen gegen den Jazz in den realsozialistischen Ländern noch von dessen Instrumentalisierung durch die US-Propaganda von seiner Liebe zu dieser Musik abbringen ließ und gleichzeitig einen nüchternen, analytischen Blick auf diese erste Massenkultur des 20. Jahrhunderts beibehielt.
Anton Tantner ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Mehr unter www.tantner.net.
Menschen im Kampf um die Existenz
Keines von Hobsbawms großen Büchern, eher eines seiner Nebenwerke hat mich geprägt. Es trägt den bescheidenen, fast schon zärtlichen Titel »Ungewöhnliche Menschen«. Zwei Dutzend Aufsätze aus den Jahren 1950 bis 1995 sind darin enthalten, und in all jenen Texten geht es um das Bodenpersonal der Gesellschaft -um diejenigen, die umgangssprachlich oft als »kleine Leute« bezeichnet werden. Handwerker, Arbeiter, Bauern, Gangster und die prekären Pioniere des Jazz sind Hobsbawms Protagonisten. Er zeichnet deren Alltag und Überlebensstrategien nach und zeigt auf, wie der - vermeintlich banale - Kampf um die Existenz schon ein politischer Akt sein kann und warum das Ringen ums schiere Durchkommen oft einen widerständigen Kern enthält.
Für eine Schriftstellerin sind Hobsbawms »Ungewöhnliche Menschen« ein wunderbares Lehrstück dafür, wie man jeden Sozialkitsch vermeiden und dennoch detailliert über diejenigen schreiben kann, die in den Feuilletons meist nur als bemitleidenswerte »Fallbeispiele« oder schrille »Unterschichtsexoten« vorkommen. Eigensinnig, mutig und stolz sind die Menschen, von denen Hobsbawm erzählt. Er zeichnet Porträts der Würde und der saftigen Daseinskraft, und schon im Vorwort reibt er sich an der Begrifflichkeit »kleine Leute«. Er schreibt: »Es geht mir darum zu verdeutlichen, daß diese Frauen und Männer, wenn nicht als einzelne, so doch in ihrer Gesamtheit bedeutende Akteure der Geschichte sind.« Von der ersten Zeile an weht hier ein emanzipatorischer Wind.
»Uncommon people« heißt das Buch im Original. Als ich den Band Anfang der 2000er Jahre in die Finger bekam, musste ich sofort an das Pop-Album »Different Class« der britischen Band Pulp denken, das einige Jahre zuvor, in den eiskalt ehrgeizigen 1990er Jahren, erschienen war. Das bekannteste Stück darauf heißt »Common People«, und fast klingt es, als habe Pulp-Sänger Jarvis Cocker Hobsbawms »Uncommon People« gelesen. Im Song geht es um eine Kunststudentin, eine Tochter des Großbürgertums, die sich nach dem »authentischen« Leben der »gewöhnlichen Leute« sehnt. Cocker singt: »Laugh along with the common people. Laugh along even though they're laughing at you and the stupid things that you do. Because you think that poor is cool.« Der Pulp-Song kam 1995 heraus, Hobsbawms Aufsatzsammlung 1998. Beide Werke haben Streulichter vorausgeworfen auf die Verteilungskämpfe, die kurz darauf neu aufgebrandet sind und bis heute an Heftigkeit zugenommen haben.
Für mich als Schreibende ist Hobsbawm ein Vorbild wie Siegfried Kracauer oder Upton Sinclair. Auch deshalb arbeiten die ProtagonistInnen in meinen Geschichten in Call Centern, Kosmetikstudios und angeberischen Sperrholzbüros, in der Prostitution und anderen Schattenwirtschaften. Es sind Menschen, die sich als »AufsteigerIn« und »HerrIn« ihrer selbst versuchen - wie die meisten von uns, immer und überall.
Katja Kullmann schreibt u.a. über die wundersame Welt der Arbeit. Zuletzt erschien »Echtleben« und die US-Reportage »Rasende Ruinen«.
Eric Hobsbawm
wurde am 9. Juni 1917 in Alexandria (Ägypten) geboren und starb im Alter von 95 Jahren am 1. Oktober 2012. Sein wohl bekanntestes Buch ist »Das Zeitalter der Extreme«, das den Zeitraum zwischen Erstem Weltkrieg und dem Ende der Blockkonfrontation umfasst. Dieses von Hobsbawm sogenannte kurze 20. Jahrhundert schließt an das lange 19. Jahrhundert an, worunter er die Phase von 1789 bis 1914 versteht.