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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 576 / 19.10.2012

Ein großes Missverständnis

Kultur Vor 25 Jahren kam »Dirty Dancing« in die Kinos und erscheint heute aktueller denn je

Von Hannah Pilarczyk

Wie nennt man einen Film, in dem der Bösewicht der Hauptfigur seine politischen Überzeugungen näherbringen will und ihr zu diesem Zweck Ayn Rands turbokapitalistisches Manifest »The Fountainhead« mit den Worten »Some people count, some people don't« rüberschiebt? Einen »weiblichen feuchten Traum«.

Gemeint ist »Dirty Dancing«, und der Kritiker, der die vernichtenden Worte zum Kinostart 1987 geschrieben hat, ist David Denby vom New York Magazine. Eine Ausnahme bildet diese Konstellation nicht: Weder ist die soeben geschilderte Szene die einzige, in der »Dirty Dancing« seine politischen Sympathien unmittelbar offen legt, noch ist Denby allein gewesen mit seinem Versuch, den Film mit allen Mitteln zu einer nicht weiter ernst zu nehmenden Schnulze herabzuwürdigen. »Das hätte ein anständiger Film werden können, wenn er sich selbst erlaubt hätte, irgendein echtes Thema zu haben«, zeterte auch der einflussreiche US-Kritiker Roger Ebert.

25 Jahre später kann dieses Urteil nur noch verblüffen. Wer genau hinsieht, erkennt: »Dirty Dancing« hat fast zu viele echte Themen für seine knappen 100 Minuten. Da ist das starre Klassensystem in Kellermans Ferienresort, das eine Liebe zwischen der gut situierten Tochter Baby (Jennifer Grey) und dem ärmlichen, sich prostituierenden Tänzer Johnny (Patrick Swayze) nicht duldet. Da ist die verpfuschte illegale Abtreibung, zu der sich die Tänzerin Penny (Cynthia Rhodes) gezwungen sieht, weil der Eingriff 1963, als der Film spielt, noch unter Strafe steht. Da ist der Untergang des Borscht Belt, der Region in den New Yorker Catskill Mountains, in der jüdische Einwandererfamilien so lange ihre Ferien verbracht und darauf gehofft haben, dass ihre Kinder untereinander wieder neue Familien gründen würden. Und nicht zuletzt ist da diese Hauptfigur, die nicht von der Kamera begafft wird, sondern selbst schaut, begehrt, tanzt, anfasst, liebt, streitet.

Dennoch: 43 Absagen erhalten Drehbuchautorin Eleanor Bergstein und ihre Co-Produzentin Linda Gottlieb, bevor sich Vestron, ein VHS-Hersteller mit neu erweckten Kinoambitionen, entschließt, den Film zu machen. Sechs Millionen US-Dollar müssen für die Produktion reichen, doch das knappe Budget sieht man dem Film an. Mal regnet es nur im Vordergrund, während wenige Meter weiter das Gras in Sonnenlicht getaucht ist, mal rieseln schon die Blätter von den Bäumen, weil man erst im Herbst drehen konnte, obwohl die Geschichte im Hochsommer spielt. »Verbrennt die Negative und kassiert die Versicherungssumme«, soll Produzent Aaron Russo gesagt haben, als er den fertigen Film schließlich zu Gesicht bekommt.

Natürlich hält sich bei Vestron niemand an diese Vorgabe, doch die Verunsicherung ist so groß, dass schließlich ein stark begrenztes Release angesetzt wird. Der Film soll eine knappe Woche lang in den Kinos laufen und im Anschluss schnell auf Video erscheinen. Aber dann kommen die ersten Zahlen von den Kinokassen.

»Dirty Dancing« spielt am ersten Wochenende rund 3,9 Millionen US-Dollar ein, also knapp zwei Drittel seines Budgets. Der Erfolg reißt von da an nicht mehr ab: Insgesamt wird der Film zwanzig Wochen lang in den US-Kinos zu sehen sein. Ende 1987 wird er Platz 11 der erfolgreichsten Filme des Jahres in den USA belegen. Der Soundtrack wird sich besser als Michael Jacksons »Bad« verkaufen und sich mit über 42 Millionen verkauften Exemplaren zu einem der erfolgreichsten Alben aller Zeiten entwickeln. Der Titelsong »(I've Had) The Time of My Life« gewinnt sowohl einen Grammy als auch einen Golden Globe und den Oscar. International wird der Film über 200 Millionen US-Dollar einspielen, allein in Westdeutschland werden ihn rund 8,5 Millionen Menschen im Kino sehen.

Beeindruckende Zahlen, doch eins bleibt »Dirty Dancing« verwehrt: die Anerkennung der KritikerInnen.Die Begeisterung der Fans, die den Film lieben und ihn immer wieder sehen wollen, gibt ihnen nicht zu denken, im Gegenteil: Sie sehen sich in ihrer Ablehnung eher noch bestätigt.

Ein Film, der sein Publikum so berührt, ist in ihren Augen kein besonders kraftvoller Film - sondern einfach einer mit leicht zu beeindruckenden Fans. Die Herabsetzung von »Dirty Dancing« ist damit immer auch eine Herabsetzung seiner zumeist, aber nicht ausschließlich, weiblichen Fans.»Während ich im Kinosaal saß und vor mich hin grummelte, was für ein Quark der Film doch sei, lächelten um mich herum die Frauen die Leinwand an«, schreibt David Denby über »Dirty Dancing«. »Vielleicht hielten sie den Film auch für Müll, aber sie hatten Spaß dabei.«

Eine Analyse der Rezensionen zeigt, dass es die KritikerInnen - und besonders die westdeutschen - sind, die weder den zeithistorischen Kontext noch die zahlreichen politischen Implikationen des Plots erkennen. Allein Birgit Galle thematisiert in ihrer Rezension im Neuen Deutschland 1988 den politischen Hintergrund von »Dirty Dancing«: Der Film gebe vor, nicht nur von einer Liebe mit Hindernissen zu erzählen, »sondern auch vom Aufbegehren junger Leute gegen die kapitalistische Gesellschaft in den sechziger Jahren.«

»Der Film hätte nicht ein paar Monate früher oder später spielen können«, hat Drehbuchautorin und Co-Produzentin Bergstein über das Setting von »Dirty Dancing« gesagt. »Der Sommer 1963 war der erste nach der Kuba-Krise, die wir alle am Fernseher verfolgt haben. Den Jüngeren hat das große Angst eingejagt - und zum ersten Mal großes Misstrauen gegenüber den Älteren aufkommen lassen. Vielleicht würden die es ja doch nicht hinkriegen.« Was die jungen Leute dennoch optimistisch in die Zukunft hätte schauen lassen, sei Präsident John F. Kennedy gewesen. »Es war der Sommer des Peace Corps und der Sommer der I Have a Dream-Rede. Es war so etwas wie der letzte Sommer des freiheitlichen Denkens. Denn zwei Monate, nachdem der Film endet, wird JFK erschossen. Und zwei Monate danach treten die Beatles in der Ed Sullivan-Show auf. Und dann kommt nur noch radical action.«

Auch wenn Bergstein und Gottlieb sich später kompromisslos geben: Wie der englische Filmwissenschaftler Oliver Gruner anhand eines Vergleichs einer Drehbuchfassung von 1985 und dem letztlich verfilmten Skript herausarbeitet, hat Bergstein mehrere Szenen so verändert, dass sie der Geschichte ihre eindeutige politische Positionierung als liberal im US-amerikanischen Sinne nehmen und ihr mehr Ambivalenz verleihen. So sind im fertigen Film mehrere ursprünglich geplante Szenen, in denen die Bürgerrechtsbewegung direkt thematisiert wird und die Südstaaten als Hochburg des Rassismus gekennzeichnet werden (»It's bad down there, more bad than you know«), nicht mehr enthalten.

Bergsteins Öffnung des Skripts hin zu mehr Ambivalenz ist kein Einzelfall. Auch die Drehbücher von anderen US-Filmen, die in den 1980er Jahren das politische und kulturelle Erbe der 1960er Jahre verhandeln, sind stark bearbeitet worden. Was zu links oder libertär erscheinen konnte, wurde umgeschrieben oder ganz gestrichen. »So wurden Platoon, Dirty Dancing, JFK, Malcolm X und Forrest Gump alle als politisch breitgefächerte Texte angelegt«, schreibt Gruner. »Ziel war es, ein größeres Publikum ansprechen zu können, da Themen wie der Vietnamkrieg und die Frauenbewegung in der Öffentlichkeit als konfliktbehaftet galten.«

So zeichnet »Dirty Dancing« letztlich nicht nur ein Bild der 1960er Jahre, sondern indirekt auch der 1980er Jahre und dem sogenannten culture war, der unter Präsident Ronald Reagan tobte. Die weltanschauliche Spaltung, die die US-Gesellschaft damals so prägte, hat sich in den vergangenen Jahren fast noch stärker wieder aufgetan - nicht zufällig hat der Vize-Präsidentenkandidat der Republikaner, Paul Ryan, Ayn Rand als seine Lieblingsautorin bezeichnet. Und ist nicht auch Mitt Romneys Rede von den »47 Prozent« der US-AmerikanerInnen, die er mit seiner Politik eh nicht würde überzeugen können, eine Variation von Robbies »Some people count, some people don't«?

»Dirty Dancing« erscheint damit aktueller, als man es von einem Film im 25. Entstehungsjahr - und einem »weiblichen feuchten Traum« - für möglich hielte. Sein gut gelaunter Liberalismus, der glauben machen will, dass es nur eines heißen Tanzes und ein bisschen mehr Selbstbewusstsein bedarf, um Klassenunterschiede wegzuwischen, mag naiv bis grundlegend dämlich wirken. Doch als Film, der überhaupt Klasse denkt, sucht »Dirty Dancing« im US-Mainstream damals wie heute seinesgleichen.

In dieser Perspektive gilt es, »Dirty Dancing« neu zu entdecken. Ohne von Sexismus verschleierten Blick, der im Privaten beim besten Willen nichts Politisches entdecken kann, bietet er Anschlussmöglichkeiten für ein politisches Hollywood-Kino, das sich Empathie, Solidarität und Sinnlichkeit nicht verschließt - und das sich traut, seine Geschichte mit einer weiblichen Hauptfigur zu erzählen, die zwar Baby genannt wird, aber eigentlich Frances heißt. Nach wem sie benannt ist, klärt sie übrigens im Film selbst auf: »Nach der ersten Frau im Kabinett.«

Hannah Pilarczyk ist Redakteurin im Kulturressort von SPIEGEL ONLINE und Herausgeberin von »Ich hatte die Zeit meines Lebens«.

Zeit meines Lebens

Hannah Pilarczyk (Hg.): Ich hatte die Zeit meines Lebens. Über den Film »Dirty Dancing« und seine Bedeutung. Verbrecher Verlag, Berlin 2012. 192 Seiten, 15 EUR. Mit Beiträgen von Birgit Glombitza, David Kleingers, Caspar Battegay, Astrid Kusser, Kirsten Rießelmann, Christoph Twickel, Jan Kedves und Christine Kirchhoff.