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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 576 / 19.10.2012

Das stille Vordringen der Revolution

Kultur Asef Bayats Standardwerk zur Vorgeschichte der arabischen Revolten ist auf Deutsch erschienen

Von Christian Frings

James M. Dorsey veröffentlichte im August auf der Webseite eurasiareview einen lesenswerten Beitrag über den Fortgang des arabischen Frühlings (»The Arab Spring Revisited: From Mass Protest To Local Revolts«).Die Fernsehbilder, schreibt er darin, vermittelten uns zwar den Eindruck, die Welle der sozialen Proteste, die in Tunesien, Ägypten und im Jemen zum Sturz von Regierungen geführt hatte, sei von den brutalen militärischen Kämpfen in Syrien abgelöst worden. Aber im ganzen arabischen Raum, so seine These, entwickelten sich nun viele kleinere Proteste in teils abgelegenen Ortschaften, in denen Menschen mit neuem Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen auf tatsächliche soziale Reformen und Veränderungen drängen. (1)

Eben diese kleinen, oft unscheinbaren und in den Medien kaum wahrgenommenen Widerstandsformen und Veränderungen in der alltäglichen Lebenspraxis stehen im Mittelpunkt des nun auf Deutsch erschienenen Buchs von Asef Bayat »Leben als Politik«, das er 2010, also noch vor den arabischen Revolten, unter dem Titel »Life as Politics« veröffentlicht hatte.

In kritischer Auseinandersetzung mit den - auch in der Linken noch verbreiteten - orientalistischen Klischees von den statischen und zur Veränderung unfähigen islamischen Gesellschaften zeigt er, wie auch dort einfache Menschen in ihrer alltäglichen Lebensweise die Welt verändert haben. In diesen Veränderungen der letzten zwanzig Jahre kündigten sich die Eruptionen von 2011 bereits an. Mit dieser Betrachtung öffnet Asef Bayat zugleich den Blick auf die eher unscheinbaren Kämpfe und Entwicklungen nach den großen Demonstrationen, von denen Dorsey spricht und in denen sich die Revolte heute fortsetzt.

»Leben als Politik« enthält Aufsätze, die Bayat zwischen 2000 und 2009 zu diesen Veränderungen und ihren theoretischen Implikationen geschrieben hat - ergänzt um ein längeres Nachwort für die deutsche Ausgabe, in dem er den aktuellen Stand der Revolution reflektiert. Auch wenn einige Kapitel etwas trocken und akademisch daherkommen, ist das Buch kein neutraler soziologischer Bericht, sondern zeigt einen Forscher, der die »kleinen Leute« in ihrem Handeln ernst nimmt, auf ihrer Seite steht und sie als Subjekte ihrer Geschichte auftreten lässt.

Bayat ist geprägt durch die Revolution im Iran

Asef (in seinen ersten Publikationen »Assef«) Bayat wurde 1954 in einem kleinen Dorf im Zentraliran als Sohn eines LKW-Fahrers geboren, der dort aufgrund seiner Schreibkenntnisse allerdings schon zur »intellektuellen Elite« zählte. In den 1970er Jahren kam Bayat mit seinem Vater nach Teheran und geriet dort in die vorrevolutionäre Aufbruchsstimmung und wurde politisch aktiv. Wie viele andere Jugendliche wurde er von den Schriften des islamischen Theologen Ali Schariati inspiriert, den manche als den Architekten der iranischen Revolution von 1979 bezeichnen und der damals auch hier bei vielen Linken als islamische Variante der Befreiungstheologie betrachtet wurde. Im Unterschied zu diesen, die später von ihrem Bezug auf Schariati nichts mehr wissen wollten, gehört Asef Bayat zu den wenigen, die sich im Nachhinein kritisch mit seiner Theorie auseinandersetzten. (2)

Noch vor dem Beginn der Revolution ging Bayat nach England, um Soziologie zu studieren. Er plante eine Dissertation zur Geschichte der iranischen Arbeiterbewegung. Als er nach der Revolution für einige Monate in den Iran zurückkehrte, stieß er auf das Phänomen der Shuras (Räte). Eine breite Bewegung von Arbeiterräten hatte sich in vielen Fabriken gebildet. Sie strebte teilweise die Kontrolle und Übernahme der Produktion durch die ArbeiterInnen an. Die alten, verhassten Bosse wurden rausgeschmissen, die Produktion sollte auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ausgerichtet werden.

Bayat änderte daher seinen Plan und betrieb vom Oktober 1980 bis Juni 1981 intensive Feldforschung vor Ort, aus der schließlich seine, 1987 als Buch veröffentlichte, Dissertation entstand: »Workers and Revolution in Iran. A Third World Experience of Workers' Control«. Es ist die einzige in einer westlichen Sprache verfasste umfassende Darstellung dieser hier wenig wahrgenommenen Rätebewegung. (3)

Auch nach seinem Wechsel an die amerikanische Universität in Kairo 1986 beschäftigte er sich weiter mit den Fragen der Arbeiterkontrolle und veröffentlichte 1991 »Work, Politics, and Power. An International Perspective on Workers' Control and Self-Management« um zu dokumentieren, dass Arbeiterräte und Arbeiterselbstverwaltung auch in der sogenannten Dritten Welt eine wichtige Bedeutung in den Klassenkämpfen hatten.

Das tägliche Handeln hinter den großen Ereignissen

Zugleich erweiterte er seinen Blick auf die globale Klassenzusammensetzung und beschäftigte sich stärker mit den neuen proletarischen Schichten, die im Zuge der gigantischen Urbanisierungsschübe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden waren. Aus dieser Perspektive erforschte er noch einmal die iranische Revolution von 1979, um hinter den großen politischen Ereignissen und staatlichen Manövern die Bedeutung des alltäglichen Handelns der einfachen und armen Menschen in dieser Revolution aufzudecken - ihre Proteste auf der Straße, ihre Aneignungsaktionen, ihre Kämpfe gegen den Abriss illegaler Siedlungen oder die Besetzungen leer stehender Gebäude. Auch diesmal stütze er sich vor allem auf eigene Feldforschungen und befragte viele Beteiligte.

1997 veröffentlichte er seine Untersuchung unter dem Titel »Street politics. Poor People's Movements in Iran«, der eine unmissverständliche Anspielung auf den Klassiker zur Bewegungsforschung »Poor People's Movements« (deutsch: »Aufstand der Armen«) von Frances Fox Piven und Richard A. Cloward aus dem Jahr 1977 enthält. Wie sie stand er vor dem Problem, dass mit einer herkömmlichen Definition sozialer Bewegungen als organisatorisch fest gefügten und programmatisch artikulierten politischen Gebilden ein ganzes Spektrum neuer untergründiger Verhaltens- und Lebensweisen ausgeblendet wird, das einen großen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte nehmen kann.

Wie werden Menschen zu kollektiven Subjekten?

Um dies zu unterstreichen benutzt Bayat in »Street Politics« den Begriff des »stillen Vordringens des Alltäglichen«, den er in »Leben als Politik« ausführlich erläutert. Dort greift er sogar zu dem paradox klingenden Begriff der »Nicht-Bewegung«, um seine methodische Herangehensweise von der im Westen vorherrschenden Begrifflichkeit der sozialen Bewegungen abzugrenzen. Ähnlich wie es Raúl Zibechi in »Territorien des Widerstands« für Lateinamerika unternimmt (siehe ak 567), muss Bayat zunächst in einem kritischen Gang durch verschiedene westliche Theorien der Armenproteste einen analytischen Zugang freischaufeln, der den Bedingungen sozialer Proteste in den islamisch geprägten Gesellschaften gerecht wird. Daher lohnen sich auch diese streckenweise etwas akademischen Passagen, die erst einen wirklich globalen Blick auf die Perspektiven einer globalen Revolution ermöglichen.

Auch in den 16 Jahren, die er in Kairo verbrachte, setzte Bayat seine empirischen Forschungen und Beobachtungen auf der Straße fort, auf denen viele seiner Einschätzungen in »Leben als Politik« beruhen, auch wenn dies nicht immer hervorgehoben wird. Im Mittelpunkt steht dabei stets die Frage, wie die Menschen in ihrem alltäglichen Leben zu kollektiven Subjekten werden können und wie aus dem »stillen Vordringen« manchmal handfeste Revolutionen entstehen. Daher bezieht er dieses alltägliche Verhalten immer auf das Handeln des Staats oder anderer, im Westen eher wahrgenommener Akteure wie Nichtregierungsorganisationen. Letztere unterzieht er einer sehr differenzierten und keineswegs pauschalen Kritik, womit er sich gegen die vom Westen übertriebenen Hoffnungen auf diese Form von Zivilgesellschaft wendet.

Zusammen mit seiner Frau Linda Herrera, die sich intensiv mit der Bedeutung der neuen sozialen Medien wie Facebook in den arabischen Ländern beschäftigt hat, rückte Bayat in den letzten Jahren vor allem den globalen und modernen Charakter islamischer Jugendkulturen in den Mittelpunkt. Gemeinsam gaben beide 2010 den Sammelband »Being Young and Muslim. New Cultural Politics in the Global South and North« heraus, der den Bogen von salafistischen Jugendlichen in Indonesien über den Cyber-Widerstand palästinensischer Jugendlicher und den Umgang junger Iranerinnen mit Sexualität bis zur Heavy-Metal-Szene im Nahen Osten spannt. Auf dieser Basis kann Bayat genauer bestimmen, welcher Stellenwert den neuen Medien bei Veränderungen zukommt, die aber nach wie vor von der Straße und den neuen urbanen Räumen und Plätzen ausgehen.

Hier liegt daher auch der Schwerpunkt der Analysen in »Leben als Politik«: In den einzelnen Kapiteln geht es um die »Kunst der Präsenz« der Armen im öffentlichen Raum, um die Beziehungen zwischen urbanen Massenprotesten, Gewerkschaftsbewegungen, Stadtteilaktivismus und islamistischen Bewegungen, auf deren begrenzte und abnehmende Bedeutung Bayat hinweist; um den »Feminismus des Alltagslebens« und immer wieder um die »arabische Straße« und die neue Urbanität als der »Räumlichkeit des Unmuts«.

»Leben als Politik« erschien in Deutschland an eben dem Tag, an dem der englische Historiker Eric Hobsbawm im Alter von 95 Jahren verstarb. Ihm, dem »Historiker par excellence«, hatte Asef Bayat sein Buch 2010 gewidmet.

Christian Frings rezensierte in ak 567 das Buch »Territorien des Widerstands« von Raúl Zibechi.

Asef Bayat: Leben als Politik. Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern. Assoziation A, Hamburg/Berlin 2012. 256 Seiten, 18 EUR.

Anmerkungen:

1) Dorsey betreibt den Blog The Turbulent World of Middle East Soccer (mideastsoccer.blogspot.de), auf dem er der Bedeutung der Fußballstadien als unabhängigen politischen Orten nachspürt, die sich sowohl der staatlichen Kontrolle wie islamistischen Einflüssen entziehen. Auf Deutsch ist von ihm der Beitrag »Ultras gegen Kamelreiter« im Sonderheft Arabische Welt von Le Monde diplomatique erschienen.

2) Nachzulesen in seinem Aufsatz »Shariati and Marx: A Critique of an Islamic Critique of Marxism« von 1990.

3) Siehe das Gespräch mit Karl Heinz Roth in wildcat Nr. 85.