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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 577 / 16.11.2012

Inoffizieller Ausnahmezustand

International In Indien finden soziale und politische Auseinandersetzungen in einem zunehmend repressiven Klima statt

Von Jürgen Weber

Der auch als Zeit des Notstands bezeichnete Ausnahmezustand von Juni 1975 bis August 1977 markiert für viele das Ende der parlamentarischen Demokratie in Indien. Das Experiment der sogenannten »gemischten Ökonomie« (1) wurde in dieser Zeit aufgegeben und der indische Staat auf den kapitalistischen Weg geführt. Gesetze wurden illegal erlassen und die Verfassung geändert; eine parlamentarische Kontrolle gab es nicht. Nach Angaben von Amnesty International wurden damals 140.000 politische GegnerInnen verhaftet. Menschenrechte wurden außer Kraft gesetzt, Nachrichten zensiert und der Personenkult um die Premierministerin Indira Gandhi vorangetrieben. Indien verfehlte es nur knapp, »dauerhaft in die Reihe der Diktaturen dieser Welt aufgenommen zu werden.« (2)

Mit dem Ende des Ausnahmezustands und der Abwahl der regierenden Congress-Partei bei den Wahlen 1977 verbanden viele Linke die Hoffnung, dass die demokratischen Institutionen in Zukunft besser funktionieren würden. Parteien und Verbände, die den Ausnahmezustand verteidigt hatten, darunter die KP Indiens, waren für lange Zeit diskreditiert.

Kritik = Maoismus

Heute gibt es einen nicht offiziell verkündeten, einen stillschweigenden Ausnahmezustand, sagen indische AktivistInnen und sehen ähnlich repressive Zustände wie vor 35 Jahren in ganz Indien. Die politisch-ökonomische Klasse Indiens fordert immer noch mehr Liberalisierung. Auf Kritik reagiert sie gereizt und mit einem Arsenal an gesetzlichen, polizeilichen und militärischen Instrumenten.

In den Fokus des Sicherheitsapparates sind alle geraten, die brisante Themen aufgreifen und gegen Investitionsvorhaben und schnelle Genehmigungsverfahren für industrielle Großprojekte protestieren, die der offizielle Regierungsjargon als »Entwicklungsprojekte« bezeichnet: die Bewegungen der BäuerInnen, Dalits, Adivasis (3) und der FischerInnen, JournalistInnen, RechtsanwältInnen, KünstlerInnen, ÄrztInnen und viele mehr.

Sie werden mit sozialer Diskriminierung bedroht oder wegen erfundener Straftatbestände beschuldigt und angeklagt. Selbst pazifistisches Engagement wird in die Nähe des bewaffneten Aufstands der Naxaliten-Gruppen (4) gerückt, die Premierminister Manmohan Singh als die größte Bedrohung der indischen Demokratie bezeichnet.

Unterstützt wird die Regierungspropaganda durch eine Reihe spezieller Sicherheitsgesetze und Strafrechtsparagraphen. Einer davon ist der während der britischen Kolonialherrschaft ins indische Strafgesetzbuch aufgenommene Paragraph 124a (Volksverhetzung/ Aufwiegelung gegen den Staat). Er besagt, dass jeder, der »durch Worte, gesprochene oder geschriebene, oder durch Zeichen oder durch sichtbare Repräsentation oder anderweitig Hass oder Verachtung schürt oder zu schüren versucht oder Unzufriedenheit mit der rechtmäßigen Regierung in Indien anstiftet oder anzustiften versucht, mit lebenslanger Haft bestraft wird, zu der noch eine Geldstrafe hinzugefügt werden kann, oder mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren, zu denen noch eine Geldstrafe hinzugefügt werden kann, oder mit einer Geldstrafe.«

Die seit Jahren benutzte Rhetorik, politischen Dissens und militanten Widerstand mit Aktivitäten der Naxaliten gleichzusetzen, führt zu dem weitgehend akzeptierten Vorgehen von Polizei und Behörden, AktivistInnen als MaoistInnen zu verfolgen. Das diente beispielsweise als Rechtfertigung für die Inhaftierung von 200 Dalits und Adivasis, die im August 2007 in Chengara (Kerala) eine Plantage besetzt hatten, um ihrer Forderung nach Zuteilung von Land Nachdruck zu verleihen.

Schließlich muss auch die »Operation Green Hunt« - die Großoffensive, die die Ausbreitung der maoistischen Guerilla in Indien stoppen soll - als eine Form der Gewalt betrachtet werden, die sich direkt gegen BürgerInnen richtet. Fortgesetzte Angriffe auf nicht-militanten Widerstand, wie den der Antistaudammbewegung oder AktivistInnen vor Ort, sind Teil einer zutiefst besorgniserregenden Entwicklung.

Stärkere Repression als im Ausnahmezustand der 1970er

Ereignisse in den letzten Monaten, die auch außerhalb Indiens Beachtung fanden, unterstreichen diese Sorge. Dazu zählen die Festnahme von 100 ArbeiterInnen der Maruti-Suzuki-India-Werke in Manesar (im Bundesstaat Haryana), die verdächtigt werden, einen Manager ermordet zu haben; die Anzeige wegen Volksverhetzung gegen den Karikaturisten Aseem Trived, der eine regierungskritische Karikatur veröffentlicht hatte; die Erschießung friedlicher Demonstranten durch eine Sondereinheit der Polizei während einer Protestaktion gegen das AKW in Koodankulam (Tamil Nadu); die illegale Flutung von 30 Dörfern am Omkareshwar-Staudamm in Madhya Pradesh; die Behinderung nationaler und internationaler MedienvertreterInnen (darunter die Washington Post, die der Regierung Untätigkeit gegen die Korruption vorgeworfen hatte), sowie die Sperrung mehrerer hundert Websites durch die Regierung und vieles mehr.

»Der staatliche Terrorismus im heutigen Indien geht weit über das hinaus, was sich die Verantwortlichen des Ausnahmezustandes in den 1970er Jahren hatten vorstellen können«, schreibt die National Campaign against Fabrication of False Cases, ein Netzwerk von AktivistInnen aus unterschiedlichen Spektren der sozialen Bewegungen.

Fiktive Straftatbestände stellen mittlerweile ein probates Mittel dar, um politische Oppositionelle einzuschüchtern. Im September 2012 berichteten bei einer Veranstaltung in Delhi die VertreterInnen der Anti-AKW-Bewegung von Koodankulam, dass 55.795 Anzeigen gegen DemonstrantInnen von der Polizei entgegengenommen wurden. 3.600 werden beschuldigt, einen Krieg gegen den Staat zu führen, gegen weitere 3.200 wird wegen Volksverhetzung ermittelt.

Das Fraueninformationszentrum SAHELI (»Freundin«) aus Delhi hatte bei dieser Veranstaltung über die Adivasi-Aktivistin und Sozialarbeiterin Soni Sori informiert, die unter der nur als absurd zu bezeichnenden Beschuldigung, Häuser und Lastwagen angezündet zu haben, verhaftet und gefoltert wurde. Als angebliche Maoistin wird sie nun nach Paragraph 124a angeklagt.

Die Anti-POSCO-Bewegung, seit 2005 aktiv gegen die Errichtung eines Stahlwerks der POHANG Steel Company (POSCO) im Bundesstaat Odisha, berichtete von zahlreichen fiktiven Beschuldigungen und 2.000 Haftbefehlen gegen DorfbewohnerInnen. POSCO ist der weltweit drittgrößte Stahlproduzent; das POSCO-Projekt stellt mit zwölf Milliarden US-Dollar die größte ausländische Direktinvestition in der Geschichte Indiens dar. Weil POSCO und das AKW in Koodankulam Prestigeprojekte der Regierung von Manmohan Singh sind, könnten Repressionen und fabrizierte Fälle in der nächsten Zeit weiter zunehmen.

In Manipur kämpfen Sezessionsbewegungen gegen die Aufhebung des »Armed Forces Special Powers Act« (AFSPA), der den Streitkräften Sonderrechte in sogenannten unruhigen Gebieten zugesteht. Hier werden jährlich rund 500 Menschen ermordet, die zuvor zu Aufständischen erklärt wurden. Die Situation in Nagaland und anderen nordöstlichen indischen Bundesstaaten ist ähnlich. In Kashmir, wo die indische Armee durch den AFSPA das gesamte gesellschaftliche Leben kontrolliert, wird laut indischen Menschenrechtsvereinigungen das Ausmaß der Exzesse unter dem Ausnahmezustand der 1970er heute längst überschritten.

Seit 2002 werden in Gujarat, regiert von der rechtsgerichteten indischen Volkspartei BJP unter Narendra Modi, Angehörige der muslimischen Minderheit mit fadenscheinigen Begründungen gefangen gehalten, obwohl sich die dortigen Pogrome vom Februar bis April 2002 gegen die muslimische Minderheit selbst richteten.

Unterstützung durch die Justiz? Fehlanzeige

BürgerrechtsanwältInnen und Menschenrechtsorganisationen werden in dieser Situation selbst zu Staatsfeinden erklärt. So wird das Gesetz zur öffentlichen Sicherheit von 2005 im Bundesstaat Chhattisgarh (Chhattisgarh Special Public Security Act 2005, CSPSA) regelmäßig gegen MenschenrechtsvertreterInnen verwendet. Nach dem CSPSA ist die Polizei berechtigt, eine Person aufgrund von Handlungen festzunehmen, die u.a. »eine Tendenz zur Behinderung der Anwendung des Gesetzes« aufzeigen, oder wenn diese Person »zum Ungehorsam gegenüber einem bestehenden Gesetz auffordert«.

Das Gesetz schränkt darüber hinaus das Abhalten öffentlicher Versammlungen sowie die Organisierung öffentlichen Protests und Widerstands gegen die Regierungspolitik ein. Andere indische Bundesstaaten haben entsprechende Gesetze eingeführt. Ähnlich drakonische Einschränkungen finden sich in dem Gesetz »Unlawful Activities Prevention Amendment Act« von 2004, das Terrorismus neu definiert, strengere Strafen bis hin zu Lebenslänglich oder der Todesstrafe enthält und in vielen Fällen eine lange Haftdauer und Schuldvermutungen festlegt.

Als rechtswidrig gelten demnach auch schon Handlungen, die Indiens Einheit, Integrität und Souveränität bedrohen »könnten«. Mit diesem Gesetz wird sich das Land »in einen virtuellen Polizeistaat verwandeln«, befürchtete der politische Kolumnist Praful Bidwai in der Zeitschrift Frontline im Juni 2009.

In diesem ganzen Szenario spielt die indische Justiz eine klägliche Rolle. Für die Betroffenen bietet das kostspielige Rechtssystem keine große Unterstützung. Akten im Zusammenhang mit der Entschädigung bei Vertreibungen durch Industrieprojekte bleiben oftmals viele Jahre unbearbeitet liegen. Wenn es zu Anklagen wegen »Volksverhetzung« oder »Kriegsführung gegen den Staat« kommt, scheint es, dass besonders die unteren Gerichtsinstanzen der Bundesstaaten ihre Entscheidungen nicht wirklich eigenständig treffen können.

Bürgerrechts- und Menschenrechtsvereinigungen befinden sich heute stärker als zuvor in einer Diskussion über gemeinsame Ziele und Handlungsräume mit den sozialen Bewegungen, unabhängigen Gewerkschaften und städtischen Initiativen. Nach 40 Jahren des Aufstands der Naxalitenbewegung und der Bewegung des zivilen Ungehorsams scheinen es die neuen sozialen Bewegungen zu sein, die die Stärke haben, die strukturellen Entwicklungen zurückzuweisen.

Insbesondere die Durchsetzung von basisdemokratischen Formen wie dem Dorfgemeinderat (Panchyati Raj) und die Bewusstwerdung über das Recht, eigene Forderungen zu stellen, hat den Blick auf Machtstrukturen und politische Entscheidungsprozesse verändert.

Es ist die indische Mittelklasse, die bereits vor dem erklärten Ausnahmezustand 1975 am meisten von der Demokratisierung profitierte und die die politische Demokratie in Indien nun als Hemmnis für ihre eigene wirtschaftliche Perspektive in Frage stellt. Zumindest die sozialen Bewegungen und die Bürgervereinigungen scheinen dazu bereit, eine stärkere Beteiligung an der Demokratie zu diskutieren und einzufordern.

Jürgen Weber lebt in Berlin und Frankfurt a.M., ist unabhängiger Journalist und in der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) aktiv.

Anmerkungen:

1) Diese »gemischte« Wirtschaftsweise bestand darin, dass Schlüsselindustrien wie Schwerindustrie, Bergbau, Transport, Kommunikation und Energie verstaatlicht wurden. Andere Wirtschaftsbereiche wie Konsumgüterindustrie und Landwirtschaft waren dagegen in privater Hand.

2) Ramachandra Guha: India was Indira, Indira was India. Juli 2000, www.himalmag.com.

3) Dalit bedeutet im Sanskrit in etwa »zerbrochen« und »unterdrückt«. Der Begriff wird heute von Angehörigen der politischen und sozialen Emanzipationskämpfe der rituell als unrein geltenden »Unberührbaren« und ihren UnterstützerInnen verwendet. Adivasi ist Sanskrit für »erste BewohnerInnen«. Der Begriff wird als Sammelbegriff für die so genannten UreinwohnerInnen bzw. die indigene Bevölkerung (700 verschiedene indigene Gruppen) im Gebiet des heutigen Indien verwendet.

4) Die Naxaliten sind bewaffnete kommunistisch-maoistische Bewegungen, die für eine »volksdemokratische Revolution« kämpfen. Der Name leitet sich ab von dem Aufstand verarmter LandarbeiterInnen im Dorf Naxalbari in Westbengalen im Jahr 1967.