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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 577 / 16.11.2012

Dynamische Sprache gegen Herrschaft und Diskriminierung

Gender Sprachpraxis ist politischer Bewegung nicht nachgeordnet

Interview: Ingo Stützle

Wikipedia behauptet, der Unterstrich, der mancherorten das Binnen-I abgelöst hat, sei in der Zeitschrift arranca! 2003 erfunden worden. Dass der Unterstrich Jahre zuvor Schreibpraxis und Debatten in Queer- und Trans-Zusammenhängen prägte, unterschlägt der Beitrag und verrät somit viel über vorherrschende Geschichtsschreibung.

Über das Verhältnis politischer Bewegungen und Sprache, Unterstrich und andere Formen feministischer Schreibpraxis sprach ak mit Lann Hornscheidt.

ak: Sprache strukturiert die Wahrnehmung und wirkt auf die gesellschaftliche Realität zurück. Ich frage mich, wie stark und was das treibende Moment ist. Das Binnen-I hat sich erst mit einer starken Frauenbewegung in den 1970er und 1980er durchsetzen können - nicht anders herum. Was ist denn das Verhältnis von Sprache und sozialen Veränderungen?

Lann Hornscheidt: Sie meinen, das Binnen-I hat sich durchgesetzt?

Zumindest ist es Dudenkonvention.

Seit drei Jahren! Das hat ja ewig gebraucht. Und: In welchen Medien taucht es denn auf? In keinen. Die taz rühmt sich damit und benutzt es nicht. Der Mythos, das Binnen-I habe sich durchgesetzt, ist echt ein Phänomen.

Zu Ihrer Frage: Ich mache keine Trennung zwischen einer gesellschaftlichen und einer sprachlichen Veränderung. Ich glaube, dass Sprachpolitik immer ein ganz wichtiger Teil von politischen Bewegungen ist und war. Immer wenn sich neue Bewegungen herausgebildet haben, waren zentrale Fragen: Wie benennen wir uns, wie reden wir über andere und welche Sprachformen benutzen wir?

Bis das Binnen-I im akademischen Betrieb Eingang gefunden hat und von der Feministin Luise Pusch in Publikationen eingeführt wurde, verwendeten es bereits über zehn Jahre Bewegungen in ihren politischen Arbeitszusammenhängen und in grauer Literatur. Strategische Sprachveränderungen markieren meist den Beginn einer politischen Bewegung und sind ihr nicht nachgeordnet. Wer darf wo wie sprechen? Wer hört zu? Wer wird wie benannt? Das gilt für unterschiedliche Transbegriffe ebenso wie für Fragen nach Sexismen, Ableismus (1)und Rassismus.

Das hört sich fast so an, als hätten wir keine gemeinsame Sprache.

Die traditionelle Linguistik geht davon aus, dass es ein Sprachsystem und die »gelebte« Sprache nur eine Realisation dieses Sprachsystem ist. In einer konstruktivistischen Sicht, wie ich sie vertrete, gibt es kein Sprachsystem hinter der Sprache.

Eine Analogie: Für Judith Butler ist Sex die Naturalisierung einer sozialen Ebene, Gender. Ich würde sagen, die Unterstellung eines Sprachsystems ist die Naturalisierung von Sprache. Dadurch werden herrschende Konventionen naturalisiert, also auch woran sich Menschen halten und was sie lernen müssen.

Also gibt es auch keine neutrale Sprache?

Genau. Vor dem Hintergrund meiner Forschung und Erfahrung macht es Sinn, möglichst spezifisch zu sein, und es gibt ganz wenige Kontexte, wo ich sagen würde, dass ich alle ansprechen will. Ich würde mir immer die Frage stellen, was ich zum Ausdruck bringen will und ob Gender eine Rolle spielt. Allgemeine Formulierungen, bei denen möglichst alle gemeint sein sollen, machen wenig Sinn, weil dann meist etwas schön geredet und verdeckt wird. Extrembeispiel: Wenn das Wort »Nazitäter« mit Unterstich geschrieben wird. Nazis nehmen Menschen, die sich nicht in Zweigeschlechtlichkeit wiederfinden weder war, noch akzeptieren sie sie.

Bedeutet es, dass es auch nicht eine richtige Sprachform gibt?

Ja, so würde ich das sehen. Spielt in einer verhandelten Diskussion oder Konstellation Gender eine Rolle, oder stelle ich es als relevant her, indem ich eine bestimmte Form benutzte? Wenn ich von »MusikerInnen« schreibe und es sind nur Männer, macht das keinen Sinn. Eine möglichst allgemeine Form ebensowenig. Ich glaube aber nicht, dass Gender in der Musik keine Rolle spielt, und es ist möglich, mit der Sprache darauf hinzuweisen.

Anderes Beispiel: Wenn jemand im Bereich »Genderstudies« in eine Funktion gewählt wird und diese dann als »Sprecher_in« auszeichnet, obwohl sich die Person als Frau versteht, dann finde ich das problematisch. Ich finde es wichtig, dass Formen wie der Unterstrich nicht vereinnahmt werden von Menschen, die sich als »Frau« oder »Mann« verstehen.

Wenn möglichst alle angesprochen werden sollen, ist Binnen-I nicht mehr zeitgemäß. Der dynamische Unterstrich ist eine mögliche Form, mit der sich momentan mehr Personen angesprochen fühlen. Mit dem Binnen-I fühlen sich nicht alle angesprochen - ich zum Beispiel.

Mit dynamischen Unterstrichformen werden auch diejenigen angesprochen, die sich nicht in der Zweigenderung wiederfinden. Einige verwenden ihn aber auch, um zu zeigen, dass sie zeitgemäß sind. Aber Sprache ist ja mehr als Fassade. Mit jeder Äußerung sollte Gesellschaft verändert werden. Wichtig ist, sich die Frage zu stellen, um welche Form von Sexismus es geht.

Ich stelle immer die Frage in den Vordergrund, für wen ein Text geschrieben wird. Ein Text wird anders geschrieben, wenn danach gefragt wird, für wen wir einen Text eigentlich schreiben, wer wie angesprochen wird und wem wir die Möglichkeit geben, sich mit dem Text zu identifizieren. Ich habe meine eigene Sprachpraxis über die Fragen sehr stark verändert.

Was ist mit Varianten wie »Studierende«?

Bei dieser Form ist ja die spannende Frage, warum sie sich so schnell durchsetzen konnte. Studien haben gezeigt, dass bei der scheinbar neutralen Formulierung weiterhin die gängigen sexistischen Vorstellungen abgerufen werden. Das Wort »Studierende« ruft die Assoziation »Studenten« ab - ein Grund, warum es sich sich so schnell durchgesetzt hat. Die Konzeptionen, die wir im Kopf haben, sind prototypisch so stark, dass wir eben doch nicht alle ansprechen, auch wenn wir glauben, mit einer bestimmten Sprachform alle anzusprechen.

Umgekehrt glaube ich, dass eine Entwicklung von »oben« keinen Sinn macht. Eine Verpflichtung auf eine Sprachpraxis verändert die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht, auch wenn sie das Leben leichter macht, da ich nicht immer mit diskriminierenden Sprachhandlungen konfrontiert bin.

Es gibt auch identitäre Debatten, die eine andere Sprachpraxis einklagen ...

Das bringt gar nichts. Es ist wichtig, Angebote zu machen und Reflexion anzustoßen. Sonst werden nur Abwehrreflexe aktiviert.

Aber wie soll Schreiben »ohne Regeln« möglich sein?

Dabei ist meist vor allem eines wichtig: Hinhören. Denjenigen, denen das wichtig ist, wie über sie gesprochen wird und wie sie angesprochen werden möchten, sagen das meist auch. Ich würde Leute jedoch nicht in die Position bringen, sich outen zu müssen, indem man ihnen zum Beispiel eine Frage stellt. Es ist wichtig, dass sie sich selbst entscheiden können. Für diejenigen, die schreiben, ist es wichtig, Verantwortung für das zu übernehmen, was sie wie schreiben.

Das vielleicht nochmals zum Verhältnis von Sprache und gesellschaftlicher Veränderung: Es muss immer eine gesellschaftliche Reflexion mit einhergehen. Wenn Menschen etwas reflektieren und etwas verändern wollen, dann wollen sie auch ihre Sprache verändern.

Wie ist denn das Verhältnis von Form und Inhalt? Gebrauchsanweisungen, politische Texte oder Romane sind ja recht unterschiedlich. Bei Romanen hat es sich kaum durchgesetzt, obwohl hier viel Spielraum wäre. So liegen andere Schreibweisen bei Sibylle Bergs neuem Buch »Danke für das Leben« nahe, weil die Hauptfigur Toto intersexuell ist. Oder lenkt die Sprache vom Inhalt ab?

Auch hier würde ich die Unterscheidung nicht machen. Was ist der Inhalt jenseits der Form? Was soll der Inhalt jenseits der Form sein? Form und Inhalt gehören zusammen. Eine Form, die scheinbar nicht vom Inhalt ablenkt, ist ja auch eine Form, eine die - bestimmten, zumeist privilegierten Personen - eben bekannt ist, nicht irritiert und nicht herausfordert. Damit werden aber auch gegenderte Vorstellungen bestätigt. Das spricht für einen kreativeren Umgang mit Texten.

Haben Sie den Roman von Berg gelesen?

Ich habe angefangen, habe dann aber abgebrochen. Er war mir zu krass. Er war mir zu schnoddrig geschrieben. Ich mag eigentlich ihre Sachen, aber ich fand es zu heteronormativ und zu zweigegendert. Es ist nicht respektvoll. Wenn es ein Intersex-Buch sein soll, dann heißt es eben auch, dass niemand falsch zugeordnet werden sollte. Das passiert aber ständig.

Dann ist das Buch also eher konservativ, weil sie sich nicht getraut hat, eine neue Form zu entwickeln, obwohl es die Hauptfigur gebraucht hätte. Vielleicht ist es auch den Konventionen des Verlags geschuldet.

Auf jeden Fall greifen Verlage oft stark ein. Katharina Hacker wollte in ihrem Roman »Alix, Anton und die anderen« zwei parallele Spalten, mit denen sich die Geschichten gegenseitig ergänzen. Der Verlag wollte das nicht. Das würde zu arg verwirren. Der Verlag hat dann einfach eigenmächtig eine Spalte schmaler gemacht, das Buch in geringer Auflage gedruckt und nicht wieder aufgelegt. Sie hat daraufhin Suhrkamp verlassen, weil die Form der Geschichte wichtig war und der Verlag sie de facto zerstörte.

Ist Literatur für Sprachpraxis wichtig?

Sprachliche Veränderungen fangen ganz häufig in der Literatur an. In Schweden ist gerade eine neue Pronominalform eingeführt worden: »hen«. Neben der männlichen Form »han« und der weiblichen »hon«. Hintergrund ist, dass es in einem Kinderbuch und einem Roman benutzt worden ist, als neutrale, dritte Form Singular, um nicht »er« oder »sie« sagen zu müssen.

Diese Entwicklung macht mich aber eher skeptisch als froh, weil ich glaube, dass die Form von den staatlichen Institutionen hegemonial vereinnahmt wurde. Wenn die Leute jetzt »hen« verwenden, machen sie sich wahrscheinlich keine Gedanken mehr darüber, was damit verbunden ist. Die Gesellschaft ist deshalb nicht weniger sexistisch, und es ist eben nach wie vor wichtig, dass es in einer bestimmen Frage um Frauen geht und eben nicht um eine nichtgegenderte Norm.

Heute sind vielleicht eher Spoken-Word-Performances oder Websites für die Auseinandersetzung mit den Wirkungen von gegenderten Appellationsformen wichtiger.

Was ist, wenn kommendes Jahr DIE WELT den Unterstrich verwendet?

Dann ist sicher irgendwas falsch gelaufen. Dann ist der Unterstrich entweder vereinnahmt, verunglimpft oder humoristisch aufbereitet. Aber es hat sich gesellschaftlich sicherlich nichts verändert. Es ist jedoch schwer zu sagen, wann das kritische Potenzial einer Form weg oder vereinnahmt ist. Es wird wohl immer eine Gratwanderung sein und eine ständige Auseinandersetzung bleiben.

Anmerkung:

1) Behindertenfeindlichkeit, Diskriminierung von Menschen mit eingeschränkten körperlichen oder geistigen Funktionen (science-at-home.de).

Lann Hornscheidt

lehrt Gender Studies und Sprachanalyse am Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien der HU Berlin. Mehr unter lannhornscheidt.com

Gerade erschienen: feministische w_orte. ein lern-, denk- und handlungsbuch zu sprache und diskriminierung, gender studies und feministischer linguistik. Brandes & Apsel, Franfurt am Main 2012. 252 Seiten, 24,90 EUR.

Das Gender Gap

bezeichnet die folgende gegenderte Schreibweise mit Unterstrich, etwa Feminist_innen. Das Gender Gap ersetzt bei dieser Schreibweise das Binnen-I, soll das binäre System von Mann/Frau aufbrechen und Raum für weitere Identifikationen ermöglichen. Der dynamische Unterstich, der nicht immer an der gleichen Stelle ist (Beispiel: Fem_inistinnen), soll verhindern, dass der Unterstrich weiterhin die maskuline Form hervorhebt und soll verdeutlichen, dass es nicht einen festen Ort gibt, an dem ein Bruch in Zweigenderung stattfindet, etwa zwischen Mann/Frau. Statt des Unterstrichs wird oft auch das Gender-Sternchen benutzt (Bsp.: Feminist*innen). Die x-Form, stark verbreitet in lateinamerikanischen Ländern, versucht durch das Voranstellen oder die Einfügung eines x als Durchkreuzungssymbol verschränkte Diskriminierungsformen und etwas Unbestimmtes deutlich machen. Auch kann etwa die Form sein/ihr in Form von xsens ersetzen. x ist antigenderistisch und fordert jegliche Formen von Genderungen heraus.