Wackelkandidaten
International In Ägypten festigen die Muslimbrüder ihre Macht. Doch zentrale Widersprüche sind ungelöst
Von Pedram Shahyar
Die politische Landschaft im postrevolutionären Ägypten ist instabil, doch seit einigen Monaten haben die Muslimbrüder Oberwasser. Den ersten großen Erfolg feierte die Organisation bei den Parlamentswahlen im November 2011. Ihre Partei für Freiheit und Gerechtigkeit gewann über 40 Prozent der Stimmen. Da auch die salafistische al-Nour-Partei mehr als 25 Prozent erreichte, hatten im ersten frei gewählten ägyptischen Parlament die IslamistInnen quasi eine Zweidrittelmehrheit. Allerdings war dieses Parlament als konstituierende Versammlung für eine neue Verfassung gewählt worden. Die Regierungsgeschäfte blieben in der Hand des Obersten Militärrats (SCAF, Supreme Council of the Armed Forces).
Erfolg bei Parlamentswahl, Dämpfer bei Präsidentenwahl
In der postrevolutionären Phase hatten die Muslimbrüder die Nähe zum Militärrat gesucht. Sie sind die Partei des gehobenen Mittelstands, viele ihrer Führer sind erfolgreiche Geschäftsleute. Gegenüber der revolutionären Bewegung zeigten sich die Muslimbrüder zurückhaltend. Das hat Teile der aktivistischen Jugend von der Organisation entfremdet. Symbolisch repräsentiert diese Spaltung Abdel Futuh, eine Führungsfigur der Muslimbrüder aus den 1970er Jahren, der bei der Präsidentschaftswahl im Mai als Unabhängiger kandidierte und daraufhin von der Bruderschaft ausgeschlossen wurde. Auch die Partei Ägyptische Strömung war eine Muslimbrüder-Abspaltung, auch sie kritisierte die konservative Haltung der Organisation - und schloss sich dem linken Wahlbündnis »Die Revolution geht weiter« an.
Der große Erfolg der Muslimbrüder bei den Parlamentswahlen im vergangenen November erklärte sich einerseits aus ihrer Infrastruktur. Die Organisation verfügt über einen großen Versorgungsapparat, eine Art privat betriebenen Sozialstaat. Mit ihrem moderaten Auftreten konnten die Brüder zudem bei der revolutionsmüden Bevölkerungsmehrheit punkten. Auch verstanden sie es, ihre Gegner zu integrieren und zu spalten. So nahmen sie den bekannten Liberalen Aiman Nour auf ihre Liste zu den Parlamentswahlen. Auch die SalafistInnen integrierten sie ein ums andere Mal in ihre Projekte. So verhinderten sie, dass sich eine große, einheitliche salafistische Bewegung formierte. Sogar die Partei des linken Nasseristen Hamdien Sabbahi war auf der Liste der Brüder angetreten. Dieser Schachzug entpuppte sich aber als Eigentor. Bei den Präsidentschaftswahlen im Mai wurde Sabbahi zum Star und errang knapp 20 Prozent der Stimmen.
Sabbahis gutes Abschneiden war nicht die einzige Überraschung bei den Präsidentschaftswahlen. Auch die Verteilung der Stimmen innerhalb des islamistischen Lagers war so nicht erwartet worden. Mohammed Mursi, der Kandidat der Muslimbrüder, erreichte im ersten Wahlgang gerade mal 25 Prozent, die SalafistInnen waren gar nicht erst angetreten. Deren Kandidat Hazem Salah Abu Ismail, der sich als einziger aussichtsreicher Kandidat scharf gegen den Militärrat äußerte, war aus formalen Gründen von der Wahl ausgeschlossen worden. Stattdessen konnte Abdel Futuh knapp 20 Prozent erzielen - ein Erfolg für die prorevolutionäre und linksliberale Strömung der islamistischen Bewegung.
Die vielleicht größte Überraschung war aber der 20-Prozent-Erfolg des linksgerichteten Hamdien Sabbahi. In den Großstädten Kairo und Alexandria erreichte er sogar knapp 35 Prozent - das beste Ergebnis aller KandidatInnen. Dieses Ergebnis zeigt, wie stark das säkular orientierte, prorevolutionäre Milieu noch ist. Daneben feierte übrigens auch der Kandidat der Radikalen Linken Khaled Ali quasi ohne relevante Infrastruktur mit 135.000 Stimmen (»Alles Aktivisten!«, wie die AktivistInnen sagen) einen Achtungserfolg.
Die Verteilung der Stimmen spiegelt die Enttäuschung der WählerInnen über die Ohnmacht des Parlaments wider. Trotz ihrer beherrschenden Stellung im Parlament hatten die IslamistInnen eigentlich nichts verändert. Die soziale Lage war schlecht wie eh und je, und die Militärs setzten weiter die Regierung ein.
In der zweiten Runde der Wahlen gewann der Muslimbruder Mursi äußerst knapp gegen den Kandidaten des Militärrats Ahmed Shafiq. Den knappen Wahlausgang deuteten viele dann auch als Hinweis auf einen schwachen Präsidenten. Doch es kam anders.
Bereits in den ersten Wochen seiner Präsidentschaft setzte Mursi die Generäle des SCAF ab. (Siehe ak 574) Dabei konnte er sich auf die Unzufriedenheit innerhalb des Generalstabs, insbesondere bei der jüngeren Generation, mit der neuen politischen Führungsrolle der Armee stützen. Die eineinhalb Jahre unter der Führung des Militärrats, ihr repressives Vorgehen bei Protesten, hatten dem Ruf der Armee massiv geschadet. Erstmals wurde auch Kritik an der beherrschenden ökonomischen Stellung des Militärs laut. Zudem war die Armee offensichtlich mit den politischen Forderungen der postrevolutionären Gesellschaft überfordert. Die zweite Reihe der Generäle verbündete sich folglich mit Mursi, übergab ihm die Regierungsgeschäfte und nahm wieder eine »Stellung im Schatten« ein. Dennoch ringen die Muslimbrüder mit dem alten Regime und der Armee weiter um die Verteilung der Macht im Staat.
Trotz des Deals markiert die Absetzung der Generäle einen institutionellen Erfolg der Revolution. Endlich hat in Ägypten eine formal legitimierte Instanz die Regierungsgeschäfte übernommen. Kurz darauf verkündete Mursi eine Amnestie für alle politischen Gefangenen der Revolution. Indem er institutionell und symbolisch Forderungen der Revolution erfüllte, konnte Mursi sein Ansehen deutlich steigern.
Viel Bewegung in der Opposition
Doch in anderen Feldern toben weiterhin Konflikte zwischen den Muslimbrüdern und den revolutionären Kräften. Die nächsten Meilensteine werden das Verfassungsreferendum und die Neuwahlen des Parlaments sein.
Der Verfassungsprozess ist wie erwartet schwer umstritten. Heftig umkämpft ist der 2. Paragraf, der die Rolle der Scharia in der Verfassung klären soll. Die wichtigste islamische Institution, die Führung des islamischen Klerus der Al-Azhar-Moschee, will keine großen Änderungen und ist mit der geltenden Beschreibung der Scharia als »eine Quelle der Verfassung« zufrieden. Allerdings machen die SalafistInnen und Teile der Bruderschaft Druck für eine Aufwertung der Scharia und ein Veto-Recht für die Al-Azhar. Auch die Rolle der Frau und der religiösen Minderheiten sind im Verfassungsentwurf alles andere als gut beschrieben. Allerdings können die Progressiven zurzeit davon ausgehen, jede Volksabstimmung über diese Fragen zu verlieren.
Auch die sozialen Probleme kochen hoch. Vor allem die Energiekrise und Verteuerungen setzen den Armen zu. Die Regierung Mursi steht kurz vor dem Abschluss von Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über Kredite von mehr als vier Milliarden US-Dollar. Wie üblich sind diese an den Abbau von Subventionen gekoppelt. Doch bereits die Ankündigung, eventuell Subventionen abzubauen, hat zu Verteuerungen bei Transport und Grundnahrungsmitteln geführt. Aber die Menschen, die die Revolution gemacht haben, haben große soziale Erwartungen, die durch die Versprechungen der KandidatInnen im Wahlkampf noch angeheizt wurden. Die Unzufriedenheit entlädt sich immer häufiger in Streiks. Der größte Streik ist derzeit der von ÄrztInnen, die sich seit Anfang Oktober im Ausstand befinden.
Innerhalb der islamistischen Strömungen werden die Muslimbrüder links von Abdel Futuh und seine AnhängerInnen und rechts von den SalafistInnen unter Druck gesetzt. Abdel Futuh gibt vor allem denjenigen eine Stimme, die mit der islamischen Tradition des Landes nicht brechen wollen, aber sich seit der Revolution vor allem freiheitsorientierten und sozialen Forderungen verbunden fühlen. Die SalafistInnen wiederum bilden eine soziale Opposition von rechts. Sie sind besonders auf dem Land und bei den Marginalisierten stark. Ihre große Partei Al-Nour steckt aber nach Skandalen in einer tiefen Führungskrise. Es ist unklar, ob sie in alter Stärke zurückkommen kann.
Auch im dritten Block neben dem alten Regime und den IslamistInnen gibt es große Verschiebungen. Am 19. Oktober gelang es einem progressiven linksliberalen Bündnis, den Tahrirplatz mit 30.-50.000 Menschen gegen die Mursi-Regierung zu füllen. Sollten sich Sabbahi, ElBaradei und die linksliberalen und sozialistischen Parteien für die kommende Wahl zusammenschließen, könnten sie bis zu 20 Prozent erreichen und mit Abdel Futuh eine starke Opposition im kommenden Parlament bilden. Dieser dritte Block steht nun viel weiter links und verfügt über ein klareres soziales Profil als bei den letzten Parlamentswahlen.
Der kommende Aufstand?
Die Muslimbrüder haben es durch ihr moderierendes Vorgehen und eine Strategie des Integrierens und Spaltens geschafft, ihre Position an der Macht zu sichern. Aber diese Stabilität ist angesichts der postrevolutionären Erwartungen und der sozialen Misere relativ. Als eine bürgerliche und kapitalistische Partei werden die Muslimbrüder keine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik einleiten. Sie setzen auf ausländische Investitionen und Marktintegration. Doch damit sind kommende Unruhen eigentlich vorprogrammiert. Nur wann sie kommen und welche Formen sie annehmen, ist ungewiss. Anders als während der Revolution, als sich die Wut angeführt von der progressiven urbanen Jugend gegen einen gemeinsamen Hauptfeind richtete, kann es auch zu blinden Entladungen der Unzufriedenheit kommen, also einem Anstieg der Kriminalität, ethnischer und sexueller Gewalt.
Die Menschen in Ägypten wollen nach wie vor viel, sind aber auch erschöpft. Sollten die Muslimbrüder zumindest punktuell gegen die Korruption vorgehen und eine Umverteilungspolitik einleiten, könnten sie Zeit gewinnen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Mursi einen solchen kontrollierten Konflikt mit Teilen der alten Elite sucht.
Pedram Shahyar ist Aktivist und betreibt den Blog pedram-shahyar.org. Er war im Oktober und November in Kairo.