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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 578 / 21.12.2012

Die Zumutung des Begriffs Führerschein

Kultur Sarah Diehl begleitet in ihrem Roman »Eskimo Limon 9« eine israelische Familie in die deutsche Provinz

Von Atlanta Athens

Ausgerechnet in die hessische Provinz verschlägt es die Familie Allon aus Tel Aviv, als Ehemann Chen in Frankfurt am Main eine gut bezahlte Stelle als Informationstechniker annimmt. Bessere Karriereperspektiven sind der Auslöser für die problematische Entscheidung. Chens Frau Ziggy stimmt dem Umzug auch deshalb zu, weil sie sich erhofft, den gemeinsamen Sohn Eran vor den Psychostrapazen schützen zu können, die das Aufwachsen in der Dauerkonfliktzone Israel/Palästina mit sich bringt.

Um Eran, der gerade in die Pubertät kommt, den Übergang in das neue Leben zu erleichtern, haben sie sich dafür entschieden, nicht in die Stadt, sondern in den beschaulichen Kurort Niederbrechen - in der Nähe von Oberbrechen - zu ziehen. Dort sind sie die ersten JüdInnen, die sich nach dem Holocaust niederlassen. Die Allons erwarten dies nicht anders, während den DorfbewohnerInnen die vorherige Leerstelle offenbar erst mit ihrer Ankunft wirklich bewusst wird. Ein spiegelverkehrtes Hakenkreuz, das wahrscheinlich auf die Kappe des depperten Dorfnazis Florian geht, wird schnell noch von einer Hauswand entfernt, bevor die »Neuen« kommen. Die sieben Monate davor, in denen es dort prangte, hatte sich niemand weiter daran gestört.

Für den Lehrer Ignatzius Renner kommen plötzlich Fragen auf, die er sich bislang nicht gestellt hat. Wie soll er der Klasse erklären, dass Erans Familie jüdisch, aber nicht religiös ist? Eine Recherche nach Exkursionsmöglichkeiten zur jüdischen Geschichte im Ort, anhand er den anderen in der Klasse vermitteln will, wer ihr neuer Mitschüler ist, führt zu einer einzelnen Gedenktafel an den Holocaust. Es sei, als ob, so sinniert Renner, Deportation und Vernichtung das Einzige wäre, was es über JüdInnen zu erzählen gebe.

Kurz nach dem Umzug lernt Eran während eines Videothekbesuchs, bei dem er sich in die Pornoabteilung verirrt, dass die Filmreihe »Eis am Stiel« aus Israel kommt. Dort heißt sie »Eskimo Limon«, wie auch ein seinerzeit populäres israelisches Wassereis. Fortan hofft der Elfjährige, die Serie irgendwie in die Finger zu bekommen, um seinen neuen Freunden ein Bild von Israel vermitteln zu können. Seine Mutter soll davon natürlich nichts wissen.

Ziggy wiederum ist mit ihrer Hausfrauenrolle in dem stinklangweiligen Ort völlig unterfordert. Sie freundet sich mit dem bärtigen altlinken Dorfkauz Rainer Koffel an, einem Rentner, der gerne über Politik diskutiert und sie bereits bei ihrem ersten Treffen mit Fragen überschüttet. Koffel ist geschieden, züchtet Bienen und hat den Absprung aus der Provinz nie geschafft. Vielleicht auch deshalb ist er so fasziniert von Ziggy, die quasi die weite Welt in sein Wohnzimmer bringt. In ihrem Außenseitertum freunden sich die beiden an und treffen sich fortan häufig abwechselnd in der Dorfkneipe oder bei Koffel zuhause.

In jedem Stück Lebensgeschichte, das sie voreinander ausrollen, wird eine Fülle von Themen mitverhandelt, die langsam Verbindungslinien knüpfen in dem komplizierten Diskursvakuum zwischen jüdisch-israelischer und nichtjüdisch-deutscher Perspektive. Um Geschichtsbewusstsein und politische Perspektiven geht es da. Der Realitätsabgleich führt aber auch dazu, dass so manches Alltägliche in einem neuen Licht erscheint, die Zumutung des Begriffes »Führerschein« zum Beispiel oder israelische und deutsche Fernsehserien.

Mit den Freunden in Israel hält Ziggy über Email Kontakt und überrascht sich selbst dabei, wie sich aus der Diaspora heraus ihre Haltungen zu diesem Staat zu relativieren beginnen. Zunehmend entwickelt sie ein Heimweh, das sich auf mehr bezieht als auf unmittelbar persönliche Verbindungen.

»Eskimo Limon 9«, Sarah Diehls Romandebüt, funktioniert vor allem über die verschiedenen Auseinandersetzungsebenen, die darin aufgemacht werden. In den zahlreichen, klug konstruierten Dialogen, die das Buch wie einen roten Faden durchziehen, geht es um deutsche Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur, um Identitätszuschreibungen, Zionismus und das alltägliche Leben in Israel und Deutschland. Spannend macht, dass es sich bei der jüdischen Perspektive, die in dem Buch großartigerweise so explizit einbezogen wird, um keine zionistische handelt. In den Text eingewebt finden sich zudem unzählige Referenzen an die Populärkultur. Kiss, Crass, Yentl, Schindlers Liste, The Clash - sie alle haben es irgendwie in diese Geschichte geschafft. Das macht das Buch noch toller, als es ohnehin schon ist. Geschrieben ist »Eskimo Limon 9« mit viel augenzwinkerndem Humor, der dann auch noch das deutsche Kleinstadtleben aufs Korn nimmt. Rundum ein sehr lesenswertes Buch.

Den Titel des Romans (dessen rassistische Konnotationen Diehl in einem kurzen Nachwort reflektiert) sieht die Autorin als eine Position in der deutsch-jüdischen Vermittlungsgeschichte. Obwohl die Serie »Eis am Stiel« bzw. eben »Eskimo Limon« in den 1980er Jahren in Deutschland sehr populär war, sei den wenigsten, auch ihr, bewusst gewesen, dass die Filme aus Israel kamen. Der Titel reflektiere somit das bruchstückhafte Wissen der Deutschen darüber, was als jüdisch vorgestellt wird. Weil dies zumeist auf den Holocaust und den Nahostkonflikt beschränkt bleibt, propagiert Diehl einen Realitätscheck, der »das Jüdische« von der symbolhaft versteinerten Ebene in den Alltag der Deutschen verschiebt.

Atlanta Athens ist Journalistin, lebt in Berlin und schrieb in ak 575 über die queere Singer-Songwriterin Chris Pureka.

Eskimo Limon 9

Willkommen in Niederbrechen: Eine jüdische Familie zieht in die hessische Provinz. »Eskimo Limon 9« ist ein Cultureclash der besonderen Art, bei dem die eine Seite eigentlich nur in Ruhe arbeiten, die andere jedoch um jeden Preis aufarbeiten will.

Sarah Diehl: Eskimo Limon 9. Atrium Verlag, Zürich 2012. 320 Seiten, 19,95 EUR.