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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 578 / 21.12.2012

Wir brauchen keine linken Mythen

Deutschland Perspektiven einer kritischen Gedächtnispolitik. Ein Gespräch mit dem AutorInnenkollektiv Loukanikos

Von Cornelia Siebeck

»Grabe, wo du stehst!«, lautete der Schlachtruf der Neuen Geschichtsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre. Der akademischen Geschichtsschreibung und dem Vorhaben der Regierung Kohl, deutsche Identität und Geschichte zu »normalisieren«, setzte sie eine kämpferische »Geschichte von unten« entgegen.

Als viele BürgerInnen sich eben anschickten, in gut besuchten Staufer-, Wittelsbacher- oder Preußenausstellungen ihre regionale Identität aufzumöbeln, entstanden andererorts Graswurzelinitiativen, die lokale Arbeiter-, Frauen- oder Umweltgeschichte recherchierten und in Ausstellungen, Stadtrundgängen und Publikationen öffentlich machten.

Im Modus der »Spurensuche« erforschten und skandalisierten AktivistInnen damals auch beschwiegene lokale NS-Vergangenheiten. Sie kämpften für den Erhalt materieller Überreste als Lernorte und forderten Entschädigungen für sogenannte vergessene Opfergruppen wie Homosexuelle oder Sinti und Roma.

Die AktivistInnen fanden breite Unterstützung einer linksliberalen Öffentlichkeit, die sich gegen die damalige konservative Kulturkampfrhetorik wandte. Dem Traum von der normalisierten nationalen Identität setzte Jürgen Habermas schließlich das Konzept eines postnationalen Verfassungspatriotismus entgegen, der Auschwitz als fundamentalen Bruch in der deutschen Geschichte akzeptierte.

Während die nationale Identitätsfrage im bundesdeutschen Mainstream nicht zuletzt dank des linken Gedächtnisaktivismus vorerst ungelöst blieb, hatten die AktivistInnen selbst offenbar keinerlei Probleme mit ihrer Selbstverortung: Man deklarierte eine »neue linke Identität« in der Tradition der »Abhängigen und Unterdrückten« und ihrer Kämpfe.

Deren Geschichte gelte es anzueignen, um »rebellisches Potenzial« gegen eine »menschenverachtende, profitorientierte Moderne« zu stärken und schließlich dem »Lebenszusammenhang für den man sich entschieden hatte, einen alten, durch den Missbrauch der Nazis unbrauchbar gemachten Namen zu geben: Heimat«. (1)

Rückblickend wirkt das bizarr: Da hatte man gerade begonnen, der bundesrepublikanischen Gesellschaft ihren postnazistischen Zustand vor Augen zu führen, und schon wollte man es sich auf der »richtigen Seite« gemütlich machen. Ihre Sehnsucht nach einer ambivalenzfreien »Heimat« teilten die AktivistInnen dabei nicht nur mit dem politischen Feind; sie lag auch voll im Trend eines beginnenden Zeitalters der Identitätspolitik nach dem »Ende der großen Erzählungen«.

Nichtsdestotrotz: Die Neue Geschichtsbewegung war in mancher Hinsicht erfolgreich, ihre gegenwartskritischen Perspektiven auf deutsche Geschichte prägen viele von uns bis heute. Von einer ähnlich engagierten linken Gedächtnispolitik sind wir derzeit allerdings weit entfernt - obgleich wir mit einem wesentlich gefestigteren hegemonialen Gedächtnisdiskurs konfrontiert sind als noch vor 30 Jahren.

Warum ist das so? Und wie müsste eine kritisch-emanzipatorische Gedächtnispolitik heute überhaupt aussehen? Das AutorInnenkollektiv Loukanikos hat dazu kürzlich den Text »Im Zweifel für den Zweifel? Eine Montage zu den Möglichkeiten linker Geschichtspolitik« publiziert. (ak 507) Gemeinsam haben wir einen Blick zurück geworfen, um von dort aus über Strategien für Gegenwart und Zukunft nachzudenken.

Hier die Geschichte der »herrschenden Klassen«, dort »wir« in der Tradition der »Abhängigen und Unterdrückten« ... Können wir damit noch irgendwas anfangen?

AutorInnenkollektiv Loukanikos: Was für uns definitiv nicht mehr funktioniert, ist dieser schlichte Antagonismus: Einerseits die Herrschenden, andererseits »wir« als deren Gegenteil; und weil die Herrschenden im Unrecht sind, sind wir im Recht. Von da aus schreiben wir »unsere« Geschichte und finden darin nur Gutes, weil wir nur danach suchen.

Was aber sicher noch funktioniert ist diese Operation einer Herstellung oder Verstärkung einer kämpferischen Identität mittels passender Vergangenheitsbezüge. Allerdings birgt das immer die Gefahr, dass Ambivalenzen, Widersprüche und Brüche geglättet oder eliminiert werden: »Wo gehobelt wird, da fallen Späne«. Die Späne sind dann all die Geschehnisse, Dynamiken und Personen, die einem nicht in den Kram passen. Die Vergangenheit kann sich ja nicht wehren.

Brauchen macht- und ideologiekritische Diskurse aller Art nicht auch affirmative Traditionen?

Natürlich ist die Artikulation von Forderungen immer mit Sinnstiftung verbunden. Zunächst geht es um Aktuelles: rassistische Diskriminierung, Räumung eines Bauwagenplatzes, Kürzung von Sozialleistungen, Krieg usw. Erstmal wird das in gegenwärtige Zusammenhänge eingeordnet, zusätzlich dann aber oft auch in einen historischen Erfahrungshorizont eingeschrieben, wodurch es an Bedeutung gewinnt.

Das heißt aber nicht, dass solche Geschichten wie Märchen funktionieren müssen: Die immer gleichen Helden und Schurken, die sich auf immer neuen Schauplätzen begegnen. Erstmal mag das zweckmäßig erscheinen. Aber letztlich stellt sich die Frage, ob man damit nicht seine politischen Ziele unterminiert, die ja auf Emanzipation von herrschenden Verhältnissen zielen.

Könnt ihr das genauer erklären?

Die Frage ist, ob man die grundlegenden Strukturen hegemonialer Gedächtnis- und Identitätspolitik so nicht einfach nur reproduziert, auch wenn man sie mit anderen Inhalten füllt: Es bleiben vergemeinschaftende Rhetoriken, die aus entsprechend zurechtgestutzten historischen Erzählungen exklusiv abgeleitet werden.

Der herrschende Diskurs produziert dauernd irgendwelche Identitäten, nicht zuletzt über eine institutionell abgesicherte Gedächtnispolitik. Die Kehrseite von Inklusion ist aber Exklusion: der Ausschluss von Menschen, und von tatsächlichen oder möglichen Realitäten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn der politische Gegner das tut, kritisieren und dekonstruieren wir das. Warum nach den gleichen Spielregeln spielen?

Also gar keine Traditionen mehr? Droht da nicht Orientierungsverlust?

Ob wir darauf ganz verzichten können, sei dahingestellt. Die Frage ist aber, wie offen oder geschlossen solche Traditionen formuliert sind. Und wäre es nicht möglich, sich der Vergangenheit anders anzunähern: mit einer kritisch-solidarischen Haltung gegenüber vergangenen Kämpfen? Da wäre erstmal nur emphatisch festzustellen: Es gab immer Kämpfe für eine »bessere Welt«, um das dann für Gegenwart und Zukunft zu aktualisieren: Es gibt Kämpfe, und es wird sie immer geben.

Jenseits davon würden wir dieser kämpferischen Vergangenheit fragend begegnen. Solidarisch, aber ohne alle Praktiken und Ziele einstiger Kämpfe teilen oder darüber hinwegsehen zu müssen, dass diese oft gescheitert sind oder sich in ihr Gegenteil verkehrt haben. Und ohne sie unseren Anliegen im Heute komplett zu unterwerfen. Vergangenheit und Gegenwart würden in ein Spannungsverhältnis gebracht, anstatt sie aus einem Identitäts- und Traditionsbegehren heraus in Einklang zu zwingen.

Das wäre einerseits eine politisch standortgebundene Perspektive, die wir auch brauchen. Andererseits entstünde Raum für Auseinandersetzung, Kritik und Zweifel. Wir wären diese gefährlichen Selbstverständlichkeiten los, die herkömmliche Identitätspolitiken und Traditionsbildungen vor sich hertragen.

Ob man sich mit so einem Meta-Selbstverständnis in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner nicht eher schwächt?

Klar, damit macht man sich angreifbar. Aber wir sind ja auch angreifbar, warum sollte man dazu nicht stehen? Vielleicht könnte sich dieses Eingeständnis als Stärke erweisen und einen Raum für Allianzen und Solidaritäten öffnen, die durch homogenisierende Traditionsstiftungen sonst eher verhindert werden.

Und wenn man eine gesellschaftliche Gegenhegemonie organisieren will, ist es natürlich notwendig, nach einem übergreifenden Narrativ zu suchen. Allerdings vielleicht eher im Sinne eines gemeinsames Backblechs für viele linke Törtchen, in dem auch Dissens und Fraktionierung Platz haben. Denn die hat es neben den gemeinsamen Interessen immer gegeben und wird es auch weiter geben.

Sind wir dann nicht nur noch damit beschäftigt, Törtchen anzuordnen, uns also primär mit uns selbst zu beschäftigen?

Natürlich braucht es nach wie vor auch die konkrete Gegenarbeit. Wenn in Dresden nur von alliierten Bomben die Rede ist und nicht vom dortigen »Durchgangslager« nach Auschwitz, muss letzteres in Erinnerung gerufen werden. Und natürlich sollen wir weiter eine »Geschichte der Unterdrückten« erforschen und erzählen! Aber wir müssen uns bewusst bleiben, dass es auch Geschichten gibt, die von den Unterdrückten unterdrückt werden; dass Unterdrückte auch zu Unterdrückenden werden können. Es gilt, den Moment nicht zu verpassen, an dem ein kämpferischer Vergangenheitsbezug in Mythenproduktion umschlägt. Wir brauchen keine linken Mythen.

De facto scheint sich die Linke hierzulande derzeit kaum für gedächtnispolitische Fragen zu interessieren: In Berlin soll ein nationales Freiheits- und Einheitsdenkmal entstehen. Erklärte Absicht ist, einen positiven Kontrapunkt zur Gedenkkultur an die negative Nationalgeschichte zu setzen. Warum sehen wir dagegen keinerlei Protest? Als Kohl 1993 die Neue Wache zur Gedenkstätte für alle erdenklichen »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« umwidmete, gab es Gegendemos und breite öffentliche Kritik. Was ist seither passiert?

Eine These von uns wäre, dass eine erfolgreiche Integration einst kritischer gedächtnispolitischer Ansätze in den hegemonialen Diskurs stattgefunden hat. Nicht die Tabuisierung oder Relativierung der NS-Vergangenheit, die ja im Projekt Neue Wache noch zum Ausdruck kam, sondern gerade deren offensive Akzeptanz hat eine »Normalisierung« deutscher Identität und Geschichte ermöglicht. Seit 20 Jahren wird eine nationale Läuterungserzählung inszeniert, und nun sind wir beim Happy End.

Zugleich ist die Linke seit Ende des Kalten Krieges fundamental geschwächt. Viele sind seither deutlich nach Rechts gerückt. Die verbleibenden Strukturen sind vielleicht überfordert, in gedächtnispolitische Debatten einzugreifen. Symbolpolitik scheint sekundär im Vergleich zu den akuten gesellschaftspolitischen Kämpfen.

Sicher spielen auch generationelle Faktoren eine Rolle: Diejenigen, die mit der Autorität ihrer Erfahrung als NS-Verfolgte in deutsche Normalisierungsdiskurse intervenieren konnten, werden immer weniger. Und die Jüngeren sind schon mit der »Normalität« des »geläuterten« Nationalismus aufgewachsen: Freiheits- und Einheitsdenkmal, Bundeswehr-Ehrenmal - so was überrascht die gar nicht mehr, auch wenn sie es natürlich ablehnen.

Wäre die radikalste Form der Unterminierung herrschender Gedächtnisdiskurse nicht eine Rückeroberung der Zukunft? Warum überhaupt noch Gedächtnispolitik?

Es macht keinen Sinn, das gegeneinander auszuspielen. Gerade mit Blick auf eine andere Zukunft brauchen wir eine kritische Auseinandersetzung mit Vergangenheit. Wie sonst wollen wir der strukturellen Geschichtsvergessenheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft widersprechen, die ja auch eine Zukunftsvergessenheit ist, weil diese Gesellschaft nur Gegenwart denkt und verwertet? Und wir, wie wollen wir aus dem Scheitern lernen? Die Linke hat es bisher fast gänzlich versäumt, sich offensiv mit Stalinismus und Realsozialismus auseinander zu setzen - sei es aus Desinteresse, sei es aus strategischen Bedenken.

Man überlässt das dem herrschenden Diskurs, dem diese Vergangenheit aber nur wieder als Mittel dient, das Bestehende als alternativlos zu legitimieren. Solange linke AktivistInnen und HistorikerInnen nicht eine eigene Auseinandersetzung mit dieser Geschichte in Gang bringen, wird »1989« ein Totschlagargument gegen jeglichen Versuch einer besseren Einrichtung der Welt bleiben.

Cornelia Siebeck ist Historikerin. Sie forscht und schreibt zu gedächtnispolitischen Themen.

Anmerkung:

1) Alle Zitate zur Neuen Geschichtsbewegung stammen aus: Hannes Heer und Volker Ullrich (Hg.): Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Reinbek 1985.

Das AutorInnenkollektiv Loukanikos

sind Henning Fischer, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen und Till Sträter. Gemeinsam publizierten sie den Sammelband: Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation, Münster: Westfälisches Dampfboot 2012, 19,90 EUR. Ihr Text »Im Zweifel für den Zweifel?« kann auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung heruntergeladen werden.