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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 578 / 21.12.2012

Fragen an den Augenblick

International Was folgt aus dem europäischen Generalstreik vom 14. November?

Am 14. November streikten erstmals Beschäftigte in mehreren europäischen Ländern gleichzeitig. (Siehe Kasten) Wir dokumentieren eine leicht gekürzte Einschätzung von Madrilonia.org. Die Webseite analysiert die städtische Krise in Madrid. Wenn man in Analogie zu Hunter S. Thompsons Roman von »Angst und Schrecken in Madrid« sprechen kann, so das Webseitenkollektiv, dann lautet die zentrale Frage: Wie lassen sich Angst und Schrecken in Aktion verwandeln? Der Text erschien am 21. November 2012.

Von Madrilonia.org

1. Eine neue Form des Streiks?

Der Generalstreik am 14. November unterschied sich deutlich von jenem am 29. März. Die Elemente, die den Unterschied ausmachen, liegen außerhalb dessen, was wir als »traditionellen Streik« verstehen. Der Unterschied lag in der massiven und vielschichtigen Mobilisierung der Bevölkerung. Der Aufruf zum Konsumstreik und die Idee, den Streik als gesellschaftliche Mobilisierung zu begreifen und nicht nur als Arbeitsniederlegung, hat sich schnell verbreitet und neue Aktionsformen hervorgebracht: Bankfilialen wurden besetzt, Lebensmittel in Supermärkten enteignet. Die Leute haben sich neue soziale Räume angeeignet, Zwangsräumungen verhindert, Schulen umzingelt und Krankenhäuser besetzt. Und vor allem waren sie den ganzen Tag über auf der Straße.

Die Streikposten an den Arbeitsplätzen hatten eine vergleichsweise geringe Bedeutung im Verhältnis zu den Aktivitäten derer, die sich durch die Stadt bewegten, an wichtigen Punkten den Verkehr blockierten und die völlig überforderte Polizei in Verlegenheit brachten, die mit blinder und unverhältnismäßiger Gewalt reagierte. Die Zirkulation zu unterbrechen ist eine intelligente Strategie angesichts des gegenwärtigen Systems der Akkumulation, das nicht mehr industriell ist, sondern auf Dienstleistungen basiert. Es ist auch eine mögliche Antwort auf die Prekarität, auf eine Situation, in der nicht zur Arbeit zu gehen bedeutet, dass der Vertrag nicht erneuert wird, oder in der wir gar keine Arbeit haben, die wir bestreiken könnten.

Wir wissen, dass diese Veränderung nicht quantitativ messbar ist, aber sie zeigt eine Tendenz zur Innovation in der Form des Konflikts auf. Studierende, Prekäre, Arbeitslose usw. und ihre kollektiven Praktiken wurden ins Bild des Streiks aufgenommen. Wahrscheinlich wird uns diese Neuerung bei den nächsten Streikaufrufen wieder begegnen, und vermutlich wird sie sich vertiefen.

Aus diesem Schlüsselmoment der Mobilisierung erklärt sich auch die Größe der Demonstrationen am Ende des Tages in Madrid. Es gab ein kollektives Einverständnis, dass es bei diesem Streik mehr um die Destabilisierung einer Regierungsform ging als um die strikte Unterbrechung der Produktion. Dies erklärt auch die extrem harte Reaktion von Polizei und Medien.

2. Eine neue Ebene des Streiks?

Zum ersten Mal konnten wir Bilder einer gemeinsamen Mobilisierung in Griechenland, Portugal und Italien sehen. Wir haben gesehen, dass wir wirklich gemeinsam auf der Straße waren: eine massive Beteiligung an den Mobilisierungen zu den nationalen Parlamenten als intermediären Zentren einer globalen Macht. Diese Verschiebung der Ebene bedeutet eine neue Stufe in der Logik der unterschiedlichen Ebenen und Verbindungen, die wir in der letzten Zeit aufgebaut haben. Heute ist es eindeutig einfacher, gemeinsame Aktionen zu denken, vorzuschlagen und zu kommunizieren, zumindest im Süden Europas.

Das ist kein Zufall, sondern hängt mit den besonderen Bedingungen der Krise zusammen, mit der Regierung der Troika, den Dynamiken der Kontrolle über das Territorium und der Abschöpfung des Reichtums durch das Finanzkapital. Viele wissen bereits um die Verbindung zwischen jedem einzelnen lokalen Angriff und der europäischen Herrschaft. Beispiele sind die von der Troika geforderte Arbeitsreform, die Grenzen, die die EU der Reform des spanischen Hypothekengesetzes (das Zwangsräumungen stoppen soll) gesetzt hat, oder das Ende der öffentlichen Gesundheitsversorgung aufgrund hoher staatlicher Zinszahlungen.

Die gleichzeitigen, massiven Mobilisierungen der BürgerInnen in mehreren Ländern haben die Handlungsmacht sichtbar gemacht, die wir zusammen entwickeln können. Sie stellen auch eine wichtige Veränderung im Verhältnis zu früheren Phasen dar: die der aktivistischen Gegengipfel. Ein Machtzentrum in einem anderen Land zu blockieren ist eine Aktion, die nur einige Wenige machen können: wegen der Zeit, der Reisekosten und der Fitness, die man braucht, um nicht festgenommen zu werden. Unsere Stärke ist es, die Mehrheit zu sein. Das hat der erste europäische Streik gezeigt.

3. Einige offene Fragen

Angesichts dieser Aspekte glauben wir, dass wir es mit einer offenen politischen Situation zu tun haben. Das Zentrum der Aufmerksamkeit hat sich von der Puerta del Sol (dem Ort der ersten Protestcamps im Frühjahr 2011) zum Fuente de Neptuno (dem Auftaktort der Parlamentsumzingelung im September 2012) verschoben - und von dort auf die ganze Stadt ausgeweitet. Die Subjektivität der Bewegung hat den Streiktag geprägt und die Gewerkschaften dazu gebracht, eine Dynamik neuen Typs aufzunehmen, um ihre eigene Legitimität und ihr Überleben zu sichern. Dennoch bleibt die Situation von einer organisatorischen Unsicherheit gezeichnet: Wie weiter? Wie der Regierung den Willen der Mehrheit aufzwingen?

Nicht einmal die massive gesellschaftliche Mobilisierung hat die Position der Regierung wesentlich verändern können, auch wenn es eine direkte Beziehung zwischen dem Legitimationsverlust der Regierung und der Polizeigewalt auf der Straße gibt, die das einzige Mittel war, um den Schein der Ordnung aufrecht zu erhalten. Sogar die Gewerkschaften erkennen an, dass wir uns mittelfristig in einer Situation der institutionellen Blockade befinden. Zum ersten Mal seit vielen Monaten haben wir kein Ereignis vor Augen, von dem aus wir uns neu zusammen finden. In diesem Vakuum können wir die nächsten Schritte planen und beginnen.

Wir müssen Mechanismen erdenken, die von neuem die politische Situation im Sinne von Konflikt und Partizipation öffnen. Die für alle zugänglich sind, auf einer prozesshaften Logik aufbauen und zugleich Wachstum und Kontinuität ermöglichen. Auf den Plätzen werden Vorschläge zum konstituierenden Prozess gemacht. (1) Wir wissen, dass das derzeitige Parteiensystem uns nichts bringt, und dass neue Parteivorschläge innerhalb der derzeitigen undemokratischen Ordnung nur einen Elitenaustausch produzieren würden. Wir brauchen eine echte Demokratie, die garantiert, dass die Gewählten gehorchend befehlen und dass unsere politischen und sozialen Rechte unantastbar sind. Wie fangen wir an, Vorschläge zu diskutieren? Wie stärken wir Allianzen mit spezifischen Bereichen wie dem der Gesundheit, der in Madrid gerade heftig umkämpft ist?

Der 14. November und auch die weiße Flut des 18. November (2) haben uns neue Fragen und Herausforderungen gestellt, und das ist ein Ausdruck ihrer Macht. Jede neue Frage macht den zurückgelegten Weg sichtbar und auch das, was wir erreicht haben. Wir können jetzt nicht aufhören. Es geht um unser Leben, nicht weniger.

Madrilonia.org untersucht Krise und Prekarität des städtischen Lebens in Madrid.

Übersetzung: Martin Schmalzbauer

Anmerkungen:

1) Zum konstituierenden Prozess siehe das Interview auf Seite 14.

2) An diesem Tag fand eine große Demonstration gegen die Privatisierungen im Gesundheitswesen in Madrid statt.

Generalstreik in Europa

Am 14. November riefen Gewerkschaften und soziale Bewegungen in mehreren europäischen Ländern zum Generalstreik auf. Vor allem in Spanien und Portugal, aber auch in Italien, Zypern, Malta und Belgien wurde teils heftig gestreikt, in kleinerem Umfang in Griechenland. Die Arbeitsniederlegungen waren begleitet von Aktionen und Demonstrationen jenseits des gewerkschaftlichen Protestrepertoires. In Portugal ging in großen Teilen der Industrie und des öffentlichen Dienstes nichts mehr. Auch in Spanien beteiligten sich bis zu zehn Millionen an den Streiks. Die größten Demonstrationen mit jeweils bis zu einer Million Menschen fanden in Barcelona und Madrid statt; die spanische Polizei ging extrem brutal gegen die Proteste vor. Solidaritätsaktionen gab es auch in Nordeuropa. Insgesamt einige Tausend beteiligten sich in Deutschland an Kundgebungen, in Berlin waren ca. 1.000 Menschen auf der Straße. Eine ausführliche Übersicht bietet die Labournet-Unterseite »N14 - Generalstreik in (Süd)Europa«.

-> www.labournet.de