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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 579 / 18.1.2013

Neoliberalismus in der Schule

Diskussion Kompetenzgehirnwäsche: Machtausübung durch Individualisierung

Das neoliberale Dogma mit seiner u.a. auf Gery Becker (1976) zurückgehenden »Humankapitaltheorie« dominiert auch die Schule: Gut ist, was betriebswirtschaftlich vernünftig erscheint. Das neue Bildungsideal ist der »flexible Mensch«, der funktioniert, wo immer man ihn hinstellt. Um seine Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt zu garantieren, ist »lebenslanges Lernen« notwendig. Erlernt werden vor allem »Kompetenzen« - ein Schlüsselbegriff, der für das neoliberale Projekt zentral ist.

Von Andreas Hellgermann

Der Philosoph Günther Anders erzählt die Geschichte vom König und seinem Sohn: »Da es dem König aber wenig gefiel, dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen, waren seine Worte. Nun darfst du es nicht mehr, war deren Sinn. Nun kannst du es nicht mehr, deren Wirkung.« (1)

Funktioniert nicht auch Schule so? Der Lehrer ist der König, und die Schule hat die Aufgabe, den SchülerInnen Möglichkeiten bereitzustellen, ein Urteil über die Welt zu bilden. Allerdings wird entweder nicht berücksichtigt oder wohlwollend in Kauf genommen, dass das Urteil über die Welt und die Fähigkeit, es sich zu bilden, durch das Medium bestimmt und vorgegeben wird. Nun könnte Schule auch anders sein: Anstatt das Herumtreiben durch den vielfältigen Einsatz von Medien, Methoden, Richtlinien und Lehrplänen zu verhindern, könnte sie SchülerInnen einen Raum in die Welt hinein eröffnen, durch den und in dem tatsächlich ein eigenes Urteil über die Welt möglich wird. Wir wissen alle, dass das nicht so ist.

Um zu verstehen, welche Hindernisse bzw. politisch-ökonomische Interessen dem entgegen stehen, ist es notwendig, sich intensiver mit dem Begriff der »Kompetenz« und dem damit verbundenen Paradigmenwechsel in Lehrplänen und Schule auseinanderzusetzen. Nichts spricht gegen Kompetenz. Jedoch ist dieser Begriff zum Schlüsselbegriff für die Produktion einer spezifischen Subjektivität geworden, die für das neoliberale Projekt zentral ist. Für dieses sind Schule im Ganzen, die Reduktion des Bildungsbegriffs, das lebenslange Lernen und der Bolognaprozess wichtige Handlungsfelder.

Die betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise

Im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bereichen verlaufen Entwicklungen in der Schule zeitverzögert. Während vielerorts Kritik am neoliberalen Denken und Handeln nicht mehr zu leugnen ist, ist diese Kritik in der Schule noch längst nicht angekommen. Zum einen, weil neoliberale Veränderungskonzepte, die vor 15 bis 20 Jahren angestoßen wurden, erst jetzt in die Schule Einzug halten, und zum anderen, weil sie als solche nicht erkannt werden. Denn es gelingt den entsprechenden »Reformbemühungen«, sich notwendige Veränderung und berechtigte Kritik an den bestehenden schulischen Zuständen zunutze zu machen. So wird Schule zu einer maßgebenden Agentur des Neoliberalismus, und es besteht die Gefahr, auf dem Weg über Bildung und Erziehung Gesellschaft noch langfristiger zu durchdringen und generationenübergreifend zu prägen.

Das neoliberale Dogma, das Gery Becker 1976 formulierte, kennzeichnet die Sichtweise auf Mensch und Gesellschaft, die den Rahmen für alle folgenden Schritte bereitstellt. Die Humankapitaltheorie, die er und andere entwickelt haben, eröffnet den Blick auf menschliches Verhalten aus einer ökonomischen Perspektive und auf die Felder für die damit verbundenen Verwertungsinteressen: »In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist ... seien es wiederkehrende oder seltene Entscheidungen, handle es sich um emotionale oder nüchterne Ziele, reiche oder arme Menschen, Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder, kluge oder dumme Menschen, Patienten oder Therapeuten, Geschäftsleute oder Politiker, Lehrer oder Schüler.« (2) Schon Marx hat diese Perspektive im ersten Satz des »Kapital« auf den Punkt gebracht, indem er die Ware als die Elementarform der kapitalistischen Produktionsweise identifiziert. Auch dem Verhalten von Menschen wird nun diese Elementarfom übergestülpt. Mit ihr verbunden ist die Dominanz der betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise, die sich auch in der Schule wiederfindet.

Zunächst einige Beispiele, die erst in der Summe ihre Wirkmächtigkeit deutlich werden lassen.

- Nach dem Sturz Allendes 1973 in Chile begann das Experiment einer neoliberalen Überformung der Gesellschaft unter dem Diktator Augusto Pinochet mit dem Einzug einer Vielzahl von Beratern in die Schlüsselpositionen der chilenischen Gesellschaft. Da der Neoliberalismus aus seinem Selbstverständnis heraus eine Verordnung von Veränderung von oben herab (eigentlich) nicht akzeptieren kann, ist der Berater der entscheidende Typus zur Durchsetzung von Veränderungen. Er hat in vielfältiger Weise auch Einzug in die Schule gehalten. Sein Instrument ist zum Beispiel die Qualitätsanalyse. Er kommt von außen und will helfen, die Qualität von Schule zu verbessern. Im Anschluss an seine Analyse gibt es keine Direktive von oben, sondern im Zentrum steht nun die Zielvereinbarung, die die Beratenen möglichst selbst formulieren.

Dabei ist interessant, dass die Möglichkeiten von externer Beratung an Schulen universitär (an der pädagogischen und nicht an der betriebswirtschaftlichen Fakultät) erforscht werden. Man kommt dort zu folgendem Ergebnis: »Mit Blick auf die zukünftige Bedeutung externer Schulentwicklungsberatung antizipieren die Experten zunächst einmal ausnahmslos einen Anstieg in der Beratungsnachfrage von Seiten der Schulen. Bei der externen Beratung handele es sich demnach keineswegs um eine Modeerscheinung, man stehe derzeit eher am Beginn einer langfristigen Entwicklung. Nach Meinung eines Befragten würden Schulen dann in größerem Maße auf Beratungsbedarfe stoßen, wenn sie sich der Anforderung, eigenverantwortlich zu handeln, stärker stellten. Wenn sie dann Gelegenheit hätten, Beratungsangebote wahrzunehmen, würde sich der Stellenwert von Beratung noch einmal deutlich erhöhen.« (3)

- Die Instrumente zur Verbesserung werden selbstverständlich in privatwirtschaftlichen Zusammenhängen hervorgebracht. In Deutschland steht die Bertelsmann-Stiftung hier an vorderster Front. Grundprinzip ist die kostenfreie Zur-Verfügung-Stellung eines solchen Instruments, bis es eingeführt ist und funktioniert, und die anschließende Übernahme und Fortführung - weil es ja funktioniert - durch eine staatliche Finanzierung. Zugleich werden hier Räume geschaffen, die nun marktförmig strukturiert sind, in denen dann jeweils wieder Berater tätig werden können.

- Dabei steht die Abkehr von der Inhaltsorientierung in der Schule hin zu einer Kompetenz- und Handlungsorientierung an zentraler Stelle. Verbunden mit ihr hat sich eine neue Sprache herausgebildet, ein Jargon, Begriffe, die nun den Schulalltag überschwemmen und mit Inhalt gefüllt werden müssten: Lerncoach, Lernberater, systemische Notengebung, individuelle Förderung, Portfolio, Selbstorganisation, kooperatives Lernen, Qualifikationen, Kompetenzen, Standards, lebenslanges Lernen: Diese »Zauberworte« finden sich in didaktischen Jahresplanungen, Schulprogrammen und Unterrichtsentwürfen von LehramtsanwärterInnen. Mit diesen Konzepten und Begriffen und dem Übergang von der Inhalts- zur Handlungsorientierung soll einhergehen, dass das Lernklima freier, die SchülerInnen selbstständiger und das Leben in der Postmoderne heterogener wird. Ist es dann nicht eigenartig, dass andererseits überall Einengungen, Gängelungen, Homogenisierungen vorgenommen werden? In der Schule (und an vielen anderen gesellschaftlichen Orten) gibt es ein Ausmaß an Standardisierungen, das unerträglich geworden ist und in einem scheinbaren Widerspruch zu den Zielvorstellungen steht, die als Losung ausgegeben werden. Womit hat dieser vermeintliche Widerspruch zu tun?

Michel Foucault: Lenkung durch Individualisierung

Michel Foucault, der französische Philosoph und Analytiker der Macht, hat sich relativ spät und leider nicht mehr systematisch mit einer Machtform beschäftigt, die in ihrem angestammten Kontext, zumindest in unserer Gesellschaft, immer mehr an Bedeutung verloren hat: der Pastoralmacht.

Für Foucault ist die Pastoralmacht eine besondere Form der Macht, die sich von der Macht eines Herrschers unterscheidet: Sie ist die sich um das Heil der Herde sorgende Macht des Hirten. Sie sollte ursprünglich, im christlichen Kontext, »das Seelenheil des Einzelnen im Jenseits sichern«. (4) Der Hirte kümmert sich - in Anlehnung an das Bild des Neuen Testaments - nicht (nur) um das Wohl der ganzen Herde, sondern um das Wohl bzw. Heil eines jeden einzelnen Schafes, also »um jeden Einzelnen, und das sein Leben lang.« Diese Machtform lässt sich »nur ausüben, wenn man weiß, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht, wenn man ihre Seele erforscht, wenn man sie zwingt, ihre intimsten Geheimnisse preiszugeben. Sie setzt voraus, dass man das Bewusstsein des Einzelnen kennt und zu lenken vermag.« Der prototypische Ort dieser Hirtenmacht ist - wie könnte es anders sein - die Beichte in der katholischen Kirche.

Auch wenn diese Machtform innerhalb der Kirche immer mehr zerrinnt, so heißt das nicht, dass sie überhaupt an Bedeutung verliert. Foucaults These: Die Pastoralmacht ist eine Machtform, die ausgehend von über Jahrhunderte eingeübten kirchlichen Praktiken wiederzufinden ist in den unterschiedlichsten Bereichen unserer modernen bzw. postmodernen Gesellschaft. Und sie ist eine individualisierende Machtform, eine Form der Lenkung, die nicht unmittelbar auf das Subjekt, sondern auf sein Handeln zielt.

Dies hilft uns zu verstehen, wie die scheinbar offeneren Lernformen mit dem Phänomen der Machtausübung und Lenkung zusammenhängen und so mit dem Projekt des Neoliberalismus verwoben werden können. Das Entscheidende an der Pastoralmacht ist, dass sie eine Machttechnik ist, die durch andere als die kirchlichen Institutionen übernommen wird und als neue, vielfältig verwendbare Machtform zur Verfügung steht. Die ehemals auf das Jenseits ausgerichtete Pastoralmacht kreist nun um das Heil des Menschen im Diesseits und damit um das Subjekt. Wie, das wird in der kleinen Geschichte von Günther Anders deutlich. Der König schenkt dem Königssohn Pferd und Wagen, damit er nicht mehr zu Fuß zu gehen braucht. Hier sind die beiden Elemente der Sorge und der Individualisierung enthalten, die sich als Lenkung und damit Produktion einer bestimmten Subjektivität zeigen.

Diese Macht ist gerade nicht zu verwechseln mit Gewalt oder Zwang. Wenn wir uns die Veränderungen in der Schule anschauen, dann lässt sich über einen längeren Zeitraum zeigen, wie sich die Formen der Einwirkungen auf SchülerInnen immer weiter von Gewalt und Zwangsmaßnahmen entfernt haben. Stattdessen haben sich Machttechniken entwickelt, die näher am Subjekt sind, gerade weil sie nicht mehr versuchen, direkt auf das Subjekt einzuwirken, sondern sein Handeln in den Blick nehmen. Nur so kann es gelingen, das Bewusstsein des Einzelnen zu erreichen und dadurch zu lenken, anstatt es zu zwingen.

An dieser Stelle wird nun auch deutlich, wozu die Standardisierungen in der Schule gebraucht werden: Sie sind die entscheidende Kontrollinstanz in Bezug auf das Handeln, weil nur mit ihnen überprüft werden kann, ob »richtig« gehandelt wurde. Und sie sind zugleich der Hinweis auf das Misstrauen gegenüber wirklicher Individualität und wirklicher Heterogenität, die möglicherweise doch zu »falschem« Handeln führen könnten. Darüber hinaus sind sie der Garant und Indikator für die Marktförmigkeit der erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen.

Was ist eigentlich das Problem?

Schauen wir uns eine grundsätzliche Definition an, die für die Entwicklung von Schule nach dem Pisa-Schock maßgebend geworden ist, Pflichtprogramm in allen Ausbildungsseminaren für LehrerInnen: Franz E. Weinert hat Kompetenzen beschrieben als »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen (d. h. absichts- und willensbezogenen) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können«. (5) Diese Begriffsklärung ist die am meisten verwendete, die auch in entsprechenden Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz auftaucht.

In ihr wird definiert, was in der Folge unter Kompetenz zu verstehen ist. Und damit wird festgelegt, was und wie in der Schule gelernt werden soll. Lehrpläne werden auf die Formulierung von Kompetenzen hin ausgerichtet, und auch die Lehrerausbildung ist kompetenzorientiert. Dabei ist es doch irgendwie einsichtig, dass es besser ist, in der Schule eine Fähigkeit zu erlernen als ein Wissen. Keine Frage. Wenn ich lerne, wie ich mir selbst das jeweils brauchbare und notwendige Wissen aneigne, dann kann ich eigentlich jede Situation bewältigen. Wenn ich nur Wissen erlerne, dann kann es sein, dass ich genau dieses Wissen nicht brauche, um mit einer gegebenen Situation klarzukommen.

Aber was wird beim Erlernen von Kompetenzen eigentlich gelernt? Und was wird nicht (mehr) gelernt? In der Definition von Weinert tritt ein bestimmter Typus vor Augen, der der Schüler in der Schule werden soll: der Problemlöser, der bereit und in der Lage ist, jede Situation zu bewältigen. Er ist der von Richard Sennet beschriebene »flexible Mensch«, der handeln kann, wo immer man ihn hinstellt, der funktioniert. Nun ist es ohne Frage sinnvoll, wenn junge Menschen frühzeitig lernen, mit zukünftigen Lebenssituationen umgehen zu können, handlungsfähig zu bleiben. Aber: Was ist, wenn die Situation selber falsch ist, wenn die Gegebenheiten insgesamt infrage gestellt werden müssen, wenn es darum geht, einmal das Ganze zu sehen? Genau das wird nicht gelernt!

Allerdings hält das neue Lernen gegenüber einer reinen Wissensvermittlung eine Möglichkeit bereit: Es ist ausgerichtet auf das Handeln des Subjekts. Und: Es will Subjekte, die nicht mehr von außen geleitet werden, sondern die gelernt haben, sich selbst zu leiten, die all die scheinbar selbstverständlichen Erfordernisse verinnerlicht haben, die wissen, wie sie sein müssen, um zu funktionieren. Der Menschentypus, der diesem Lernen vor Augen steht, ist 2006 vom EU-Parlament festgelegt worden. (6) Es ist - wie könnte es anders sein - natürlich der Unternehmer: Eigeninitiativ und marktorientiert hat er die notwendigen Antriebskräfte in sich hinein verlagert. Und wenn schon kein wirklicher Unternehmer, dann ist er ein verantwortungsbewusster Mitarbeiter, der in der Lage ist, wie ein Unternehmer zu handeln. Er ist derjenige, der über sein Humankapital verfügt und es gewinnbringend einsetzt.

Man könnte nun einmal überprüfen, inwiefern sich die grundsätzliche Ausrichtung von Unterricht auf diesen Menschentypus hin verändert hat. Dafür gibt es viele Hinweise: Lehrerkompetenzen in Bezug auf die Lehrerausbildung, Fortbildungsangebote, strukturelle Veränderungen in der Organisation von Schule, Einführung von Qualitätssicherungssystemen, aber auch nicht zu vergessen: die Sprache, die Begrifflichkeiten, die in der Schule verwendet werden. Diese Art von Veränderungen ist sichtbar. Schwierig ist es, ihre Wirkungen zu beurteilen, weil diese nicht offensichtlich sind und die Neuerung, Veränderung in der Regel immer einen offenkundigen Mangel zum Ausgangspunkt hat.

Ein einfaches Beispiel: die Benotung. Ausgangspunkt ist die allen LehrerInnen und SchülerInnen bekannte Ungerechtigkeit bei der Notenvergabe. Eine Antwort darauf besteht darin, durch ausgeklügelte Systeme die Benotung auf die SchülerInnen selbst zu übertragen. Sie bekommen zum Beispiel bei dem leidigen Thema Gruppenarbeit eine Gesamtnote in Form von Punkten, die dann - sie selbst wissen ja viel besser, wer wie intensiv am Arbeitsprozess beteiligt war - durch Aushandlung untereinander verteilt werden. Solch ein System hat viele »Vorteile«: Es stärkt und fördert die Eigenverantwortlichkeit, die Fähigkeit, sich selbst einzuschätzen, die Selbstorganisation und den Blick für ein gerechtes Aushandeln untereinander.

Was passiert tatsächlich in diesem Zusammenhang aus einer Perspektive, die das Ganze in den Blick nimmt und sich fragt, was für ein Subjekt hier produziert wird und wofür es gebraucht wird?

In diesem kleinen Baustein werden Macht- und Disziplinierungstechniken in das Subjekt hinein verlagert bzw. durch die SchülerInnen internalisiert, ohne dass noch die Frage entstehen könnte, ob das Benotungssystem als Ganzes ungerecht ist. So wird Ungerechtigkeit verdeckt, anstatt sie erkennbar zu machen. Zugleich wird durch das Aushandeln der Noten das »Sich-als-Einzelne-Wahrnehmen« der SchülerInnen gefördert und der Blick von außen verinnerlicht. Damit werden Marktfähigkeit und Marktförmigkeit trainiert.

»Jeder ist seines Glückes Schmied« ist eine so banale wie entscheidende Losung des neoliberalen Projektes, die immer dann aus der Tasche geholt wird, wenn es darum geht, die Ungerechtigkeit von Strukturen auf den Einzelnen abzuwälzen. Da dies in der Regel nicht zu einer Lösung, sondern tendenziell zur Überforderung des Subjekts in Schul-, Universitäts- und Arbeitszusammenhängen führt und der Einzelne nun damit beschäftigt ist, mit den jeweiligen Anforderungen klarzukommen, kann das Ganze als Ganzes, die gesellschaftliche Grundordnung, nicht mehr in den Blick kommen und kritisch hinterfragt werden. Damit ist auch der Begriff »Kritik« zu einem anderen geworden. Natürlich muss auch »Kritikfähigkeit« gelernt werden. Diese bezieht sich aber ebenfalls nur noch auf individuelle Prozesse oder Gruppen. Es geht hierbei lediglich darum, sich untereinander Kritik sagen und diese aushalten zu können; um das Ganze niemals.

Der Markt als zentrale Größe

Dass diese Subjektproduktion selbstverständlich nicht auf Schule zu reduzieren ist und dass sie Schattenseiten hat, liegt auf der Hand. Vor allem Alain Ehrenberg hat beschrieben, welche gesellschaftlichen Folgen die Formen der Machtausübung durch Individualisierung haben. (7) Die Veränderungen in der Schule sind einerseits Spiegel und Resultat der ohnehin stattfindenden gesellschaftlichen Prozesse, andererseits die Voraussetzung dafür, diese Machttechniken in um so stärkerem und in den Individuen gut verankertem Maße in anderen gesellschaftlichen Bereichen fortzuführen, einhergehend mit einer tendenziellen Verschulung der gesamten Gesellschaft - einer unbegrenzten Ausweitung des Erziehungsprojektes. Die Bemühungen, lebenslanges Lernen in den Vordergrund zu rücken und dieses durch Kompetenzniveaus festzuschreiben, geben Auskunft darüber. Die beschriebenen Prozesse zentrieren sich auf das Subjekt, und immer ist das Individuum die Stellschraube, an der gedreht werden muss, um die Anpassungsleistungen durchzuführen.

Nicht umsonst, so stellt Ehrenberg fest, ist die Depression das paradigmatische Krankheitsbild der Postmoderne. Wir müssen uns fragen, inwiefern wir in der Schule maßgeblich dazu beitragen, dieses »erschöpfte Selbst« bzw. den Menschentypus, der irgendwann einmal erschöpft sein wird, zu produzieren.

Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire (1921-1997), der nicht in Vergessenheit geraten sollte, bringt es auf den Punkt: »Indem man so von der eigenen Welt abgekoppelt wird, verliert man die Möglichkeit, kulturelle Wegweiser auszubilden, die einen befähigen, die Welt zu verstehen, wie auch in ihr zu handeln und sie zu transformieren. Darum ist die neoliberale pragmatische Einstellung in aggressiver Weise darauf aus, einen Bruch zwischen einem selbst und seiner Welt zu bewirken, indem man eine tiefgehende Verbindung zwischen einem selbst und dem Markt geltend macht. In anderen Worten, der Fokus der Erziehung in der neoliberalen Welt ist darauf gerichtet, wie man ein kompetenter Verbraucher wird, wie man ein kompetenter Verteiler von Wissen wird, ohne irgendwelche ethischen Fragen zu stellen.« (8)

Lebenslanges Lernen

In einer neoliberalen Welt ist Markt die zentrale Größe, auf die hin Schule ausgerichtet ist. Ein letztes Beispiel soll dies deutlich machen: Der Deutsche Qualifikationsrahmen für Lebenslanges Lernen (DQR) legt ein Bezugssystem vor, das »bildungsbereichsübergreifend alle Qualifikationen des deutschen Bildungssystems umfasst. Als nationale Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) berücksichtigt der DQR die Besonderheiten des deutschen Bildungssystems und trägt zur angemessenen Bewertung und zur Vergleichbarkeit deutscher Qualifikationen in Europa bei. Ziel ist es, Gleichwertigkeiten und Unterschiede von Qualifikationen transparenter zu machen und auf diese Weise Durchlässigkeit zu unterstützen. Dabei gilt es, durch Qualitätssicherung und -entwicklung Verlässlichkeit zu erreichen und die Orientierung der Qualifizierungsprozesse an Lernergebnissen (Outcome-Orientierung) zu fördern.« (9)

Das hier höchste zu erreichende Niveau - das Idealsubjekt europäischer Bildungsanstrengungen - wird folgendermaßen beschrieben:

Auf Niveau 8 verfügt man über »Kompetenzen zur Gewinnung von Forschungserkenntnissen in einem wissenschaftlichen Fach oder zur Entwicklung innovativer Lösungen und Verfahren in einem beruflichen Tätigkeitsfeld ... Die Anforderungsstruktur ist durch neuartige und unklare Problemlagen gekennzeichnet.« Die höchste zu erreichende personale Kompetenz besteht darin, für »neue anwendungs- oder forschungsorientierte Aufgaben Ziele unter Reflexion der möglichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen (zu) definieren« und dementsprechend geeignete Mittel zu »wählen und neue Ideen und Prozesse (zu) entwickeln.«

Jenseits der Frage, ob Sprache hier nicht schon genug verrät, sei auf folgenden Punkt verwiesen: Im EQR/DQR geht es eigentlich nicht um konkrete Qualifikationen für das Berufsleben, sondern um lebenslanges Lernen, das per definitionem über den Bereich von Arbeit und Beruf hinausgehen sollte. In der Beschreibung der jeweiligen Kompetenzniveaus, die für einen EU-Bürger erreichbar sind, geschieht das Umgekehrte: Lebenslanges Lernen wird mit der Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt in eins gesetzt. Und: Nicht einmal Niveau 8 entspricht dem, was Johann Amos Comenius, Begründer der Didaktik im 17. Jahrhundert und Namensgeber einer Vielzahl von EU-Förderprogrammen, zum Ausgangspunkt und Ziel seiner Didaktik gemacht hatte: »Alle alles ganz zu lehren.« Schon das humanistische Bildungsideal der bürgerlichen Gesellschaft hat dies niemals einlösen können (und wollen). Das neoliberale Erziehungsprojekt der EU führt Comenius' Anspruch vollends ad absurdum.

Das Ganze sehen zu lernen aber ist und bleibt eine Voraussetzung dafür, die Notwendigkeit grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen zu erkennen und Transformationsprozesse in Gang zu setzen, die sich nicht von mehr oder weniger wohlmeinenden Reformvorschlägen blenden lassen.

Andreas Hellgermann ist katholischer Theologe und Lehrer am Berufskolleg. Außerdem arbeitet er mit am Institut für Theologie und Politik in Münster.

Anmerkungen:

1) Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen.

2) Gary S. Becker: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens.

3) Kathrin Dedering u.a.: Externe Schulentwicklungsberatung in Nordrhein-Westfalen - Grundinformationen. Bielefeld 2010.

4) Michel Foucault: Subjekt und Macht.

5) zitiert nach Eckard Klieme: Was sind Kompetenzen und wie lassen sie sich messen? in: Pädagogik 6/04.

6) Empfehlungen des europäischen Parlaments und des Rates vom 18.12.2006 zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen.

7) Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst.

8) Paulo Freire: Eine Antwort. In: ders.: Bildung und Hoffnung, herausgegeben von Peter Schreiner u.a.

9) Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen, verabschiedet vom Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen (AK DQR) am 22.3. 2011.