Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de
ak bei facebook

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 579 / 18.1.2013

Eine anhaltende humanitäre Krise

International Fukushima und die japanische Verharmlosungspolitik

Das Internationale Rote Kreuz und der Rote Halbmond (IFRC) legen in ihrem gemeinsamen Weltkatastrophenbericht für 2012 (1) den Fokus auf Migration und Zwangsumsiedlung als unmittelbare Folge von industriellen Großprojekten und Industrieunfällen. Der Reaktorunfall vom 11. März 2011 in Fukushima wird darin als eine »andauernde humanitäre Krise« eingestuft. Kritisiert wird auch der schlecht organisierte, oft chaotische Umgang mit der betroffenen Bevölkerung in der Anfangsphase der Nuklearkatastrophe.

Der Bericht kommt der japanischen Regierung äußerst ungelegen. Gefährdet er doch das Ziel, den gesamten Umfang des atomaren GAUs zu verharmlosen und möglichst rasch der Welt wieder das saubere Image von Atomkraft präsentieren zu können. Katsunobu Sakurai, der Bürgermeister von Minamisoma, betonte Anfang November 2012 vor der internationalen Presse, dass Japan sich gegenwärtig rasant in die falsche Richtung entwickelt: zurück in die Zeit vor dem Reaktorunfall. (2) Sakurai hatte durch seine deutliche Regierungs- und Atomkritik in einem Youtube-Video wenige Tage nach der Katastrophe enorme Popularität erlangt. Das Time Magazin hatte ihn 2011 zu einem der 100 einflussreichsten Personen des Jahres gekürt.

Am 7. November 2012 musste die Hauptleitstelle für Nuklearkatastrophen der japanischen Regierung zugeben, dass die von ihr installierten 545 Mess-Stationen in der Präfektur Fukushima und die 130 in den Nachbarpräfekturen (Miyagi und Yamagata) um zehn Prozent niedrigere Werte anzeigen, als die tatsächlich in der Umgebungsluft vorhandene Strahlung ausmacht. Die Mess-Stationen an wichtigen öffentlichen Einrichtungen, wie Schulen und touristischen Hot-Spots, sollen der Bevölkerung Sicherheit durch öffentlich sichtbare Kontrolle suggerieren. Die abgelesenen Messwerte können seit April auch auf der Website des japanischen Ministeriums für Erziehung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie (MEXT) abgefragt werden.

Kontrollen durch AnwohnerInnen und lokale Behörden zeigten aber sehr auffällige Abweichungen der Messergebnisse. (3) Jiji Press meldete dazu, dass die gesamte Konstruktion der Mess-Stationen einen optimalen Abschirmeffekt aufweise. So sind die Bleiakkus zur Stromversorgung rings um den Sensor angebracht. Außerdem wurden die Böden und die Betonkonstruktionen im Umfeld der Stationen komplett ausgetauscht und damit das radioaktive Cäsium-134 (Halbwertszeit zwei Jahre) deutlich reduziert. Laut Professor Hayakawa von der Universität Gunma ist es sogar möglich, eine bis zu 30 Prozent verringerte Strahlung vorzutäuschen. (4) Dem ursprünglich beauftragten Hersteller Alpha Tsushin wurde im November letzten Jahres gekündigt, da seine Mess-Stationen dem MEXT zu hohe Werte auswarfen.

Die sich jetzt im Einsatz befindenden Mess-Stationen wurden von Fuji Electric geliefert. Fuji Electric ist einer der vier Hauptausstatter der Elektronik-Schwerindustrie und kommt seinen Auftraggebern gern bei der Optimierung der Produktgestaltung entgegen.

Das MEXT zeigte sich von der abschirmenden Wirkung der Bleiakkus auf radioaktive Strahlung überrascht. Die Umrüstung der fehlerhaften Mess-Stationen kostet die japanische Regierung umgerechnet 1,4 Millionen Euro. (5)

Strahlenbelastete Nahrung auch in Schulküchen

Generell wird von Regierungsseite jede Art der Berichterstattung über Strahlung in Nahrungsmitteln als Panikmache und diskriminierend gegenüber der betroffenen Region betrachtet. So ist zwar für die direkten Nachbarstaaten China, Hongkong, Macau, Taiwan, Südkorea, Singapur und Brunei der Import von Agrarprodukten aus der Präfektur Fukushima und den Nachbarpräfekturen untersagt. Die örtliche Handelskammer hat aber schnell neue Märkte für seine mit durchschnittlich bis zu 18 Bq/Kg (Becquerel pro Kilogramm) radioaktivem Cäsium belasteten Pfirsiche oder Äpfel in Südostasien erschlossen, z.B. Thailand. (6) Ebenso erlauben Indonesien, Malaysia und die Philippinen den Import von durch zertifizierte Prüfstellen begutachtetem und freigegebenem Obst. In welchem Umfang die Ware tatsächlich auf Kontaminierung getestet wird, liegt im Ermessen der Labore. In der Regel werden aber nur Stichproben von ein bis zwei Früchten je Hersteller untersucht.

Als Werbeträger für die Verträglichkeit dieser Agrarprodukte dient regelmäßig der kaiserliche Hof, der diese Geschenke öffentlich überreicht bekommt. (7) Im letzten Jahr hatte die Ausgabe von kontaminiertem Rindfleisch in Schulküchen bei den Eltern der betroffenen Schulkinder für berechtigte Zweifel an den kontrollierenden Institutionen gesorgt. Das über den zulässigen Grenzwert von 500 Bq/kg belastete Rindfleisch war an 278 Schulen und 18 Kindergärten in 20 Städten in Japan verteilt worden. An zwei Schulen konnten noch in verbliebenen Resten radioaktives Cäsium mit 649 bis 1.293 Bq/kg nachgewiesen werden. Die Entschuldigung der Behörden beschränkte sich auf den Hinweis, die verzehrten Mengen seien zu gering, um die Gesundheit der Kinder zu gefährden. (8)

Landesweit geben Schulen nach wie vor Obstsäfte aus strahlenbelasteten Anbaugebieten an die SchülerInnen aus. Als Grund hierfür werden langfristige Abnahmeverträge angegeben, die aus wirtschaftlichen Gründen nicht gebrochen werden könnten. In einigen Schulen des Landes wird es den Eltern sogar verboten, den Kindern selbstgekochtes Mittagsessen mitzugeben, wenn dieses nicht identisch mit dem Speiseplan der jeweiligen Schulen ist. Die Jugend soll früh von der Ungefährlichkeit »schwach kontaminierter« Nahrungsmittel überzeugt werden. Eine Industrienation wie Japan wäre zweifelsohne wirtschaftlich in der Lage, seinen Kindern unbelastete Lebensmittel auszugeben. Dies würde aber die Bevölkerung in ihrer Ablehnung gegenüber der japanischen Atompolitik und der Furcht vor kontaminierter Nahrung bestärken.

Einsatz von Kindern zur Desinformation

Die Verharmlosung der Kontaminierung durch offizielle Stellen lässt sich am gezielten Einsatz von Kindern und Jugendlichen in hoch verstrahlten Gebieten in Fukushima nachweisen. So hat Fukushima-Stadt schon letztes Jahr einen im TV übertragenen »Ekiden-Lauf« abgehalten. Die jüngste Teilnehmerin war 13 Jahre alt. Die Teams kamen zu diesem Anlass aus dem ganzen Land, um allgemein Normalität vorzutäuschen. (9)

Andere Aktivitäten zeigen eine ähnlich fatale Auffassung von Kindeswohl. Kindergartenkinder, die verstrahlte Postkästen reinigen (10); Schulkinder, die selbstangebauten Reis in einem Stadtpark ernten; die reichliche Beigabe von Pilzen im Schulessen. Anfang Dezember wurde zu einer Reinigungsaktion in Onami, einem sehr hoch kontaminierten Bezirk von Fukushima-Stadt, aufgerufen. Ein Plakat im Manga-Stil wirbt dafür mit einem Jugendlichen mit strähnig blond gefärbten Haaren. Der Bezirk wurde schon letztes Jahr dekontaminiert. Dennoch sind die Strahlungswerte wieder auf dem Niveau von vor einem Jahr. Gesucht wurden nun 1.000 freiwillige HelferInnen. Im Kleingedruckten des Aufrufs wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Veranstalter Schutzkleidung zur Verfügung stellt; da allerdings das Anlegen der weißen Anzüge bei den BewohnerInnen des Stadtteiles Panik auslösen könnte, rät er dringend davon ab. Zugleich weist er darauf hin, dass alle, die auf den Schutzanzug verzichten, für Verletzungen oder Folgeschäden durch Strahlung selbst aufzukommen haben!

Anfang November 2012 wurden neue Testergebnisse für die staatliche Schilddrüsen-Ultraschall-Reihenuntersuchung der Schulkinder in der Präfektur Fukushima veröffentlicht. Bei bisher knapp 100.000 ausgewerteten Daten konnten bei 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen Zysten bis 20 mm Umfang festgestellt werden, bei 491 Untersuchten eine medizinisch signifikante Knotenbildung von 5 mm und mehr. (11) Diese Zahlen sind laut Dr. Helen Caldicott seit der letzten Untersuchung signifikant angestiegen. Außerdem berichtet sie von zwei amtlich noch nicht bestätigten Krebsfällen bei einem Mädchen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren und einem zwölfjährigen Jungen.

Anomalitäten in den Schilddrüsen der Kinder

Zeitgleich hat das Team um Dr. Lydia Zablotska seine erweiterte Langzeitstudie (12) zu Krebsfällen bei an den Aufräumarbeiten in Tschernobyl beteiligen Arbeitern veröffentlicht. Von der Fachwelt so nicht erwartet, zeigt diese einen Anstieg an chronischer lymphatischer Leukämie bei einer auch als gering eingestuften Strahlungsdosis auf. Schäden durch radioaktive Strahlung treten schon bei nur gering erhöhten Normalwerten auf. Dies müsste zu einer Neuklassifizierung von Höchstwerten bei Nahrungsmitteln führen. Die jetzigen international zulässigen Grenzwerte sind zu willkürlich gesetzt und entbehren wissenschaftlicher Grundlagen.

Nicht nur für Japan muss Fukushima ein Wendepunkt in der Atompolitik sein. Wie Bürgermeister Sakurai in seiner Rede die Welt aufgefordert hat, dürfen PolitikerInnen weltweit die Augen nicht länger vor der Realität der Tragödie von Fukushima verschließen. Nur die Auflösung des engen Beziehungs- und Abhängigkeitsgeflechts zwischen Presse, Massenmedien, Energiewirtschaft und der von der Atomlobby finanzierten Politik kann eine energiepolitische Trendwende einleiten. Die Folgen einer Fortsetzung der jetzigen Atompolitik werden vor allem die Kinder Japans zu tragen haben.

Annette Groth ist Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE. Gunnar Silberborth ist einer ihrer Mitarbeiter im Wahlkreisbüro Pforzheim.

Anmerkungen:

1) World Disasters Report 2012 Focus on forced migration and displacement IFRC.

2) The Mainichi Japan, 5.11.2012.

3) Kyodo News, 7.11.2012.

4) Professor Yukio Hayakawa's Volcano Blog - Universität Gunma.

5) FNN News, 13.11.2012.

6) Fukushima Minpo. 10.8.2012, 11.11.2012.

7) Yomiuri Shinbun, 5.8., 8. 8.2012.

8) Asahi Shinbun, 11.8.2011.

9) FNN News.

10) Fukushima Minyu, 11.4.2012.

11) Präfektur Fukushimawww.pref.fukushima.jp.

12) dx.doi.org/10.1289/ehp.1204996 Staatliche Messwerte für Nahrung aus der Region Fukushima unter: www.new-fukushima.jp.