Aufgeblättert
Besetztes Amsterdam
Monne de Miranda wurde 1875 in einer armen, streng gläubigen jüdischen Familie in Amsterdam geboren. Schon mit elf Jahren musste er zum Familienunterhalt beitragen. Später wurde er vom Diamantschleifer zum sozialdemokratischen Beigeordneten im Gemeinderat. An diesem Beispiel beginnt Barbara Beuys ihr detailreiches Porträt Amsterdams in den Jahren der deutschen Besatzung. Es ist ein widersprüchliches Bild, denn sie berichtet von mutigem Widerstand, aber auch von Kollaboration und Verzagtheit angesichts der Brutalität der Besatzer. Als die Deutsche Wehrmacht im Mai 1940 die Niederlande überfällt, kapituliert die niederländische Regierung nach kurzen Kämpfen. Der Österreicher Arthur Seys-Inquart wird Reichskommissar. Deutsche Panzer schockieren die Bevölkerung. Niederländische Ministerien und Institutionen arbeiten mit den Besatzern zusammen, von der Entrechtung der jüdischen Bevölkerung bis zur Deportation. Barbara Beuys beschreibt das umfassende Kulturangebot vom klassischen Konzert bis zu Tanzveranstaltungen und frechem Kabarett - das Leben mit dem Feind. Mitten in diesem Leben, unter den Augen der Bevölkerung, findet die Verfolgung statt. Als die Alliierten im Mai 1945 Amsterdam befreien, haben nur 5.000 Jüdinnen und Juden überlebt - von ungefähr 75.000. Der assimilierte Jude Monne de Miranda, Visionär einer humanitären Welt, starb im November 1942 nach mörderischer Zwangsarbeit im Konzentrationslager Amersfort.
Raphaela Kula
Barbara Beuys: Leben mit dem Feind. Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945. Carl Hanser Verlag, München 2012. 386 Seiten, 24,90 EUR.
Dissidenz in der DDR
Der Sammelband »Das Begehren anders zu sein« beschäftigt sich mit politischer und kultureller Dissidenz in der DDR. Die Herausgeberin Anne Seeck verspricht, »linke Analysen den Mainstream-Darstellungen entgegenzustellen«, grenzt sich zugleich gegen eine »Re-Idealisierung der DDR« ab. Hochinteressant, so scheint es, doch das Buch enthält grobe Mängel. Das selbstgesteckte Ziel wird weit verfehlt. Einige Beispiele: Erstens wird die DDR nicht unbedingt an ihren unbestreitbaren Verfehlungen kritisiert, sondern an ihren ebenso unbestreitbaren Errungenschaften. So wird das kostenlose und nicht kommerzialisierte Bildungs- und Gesundheitswesen zum Beleg für einen »Zwangscharakter im Alltagsleben«. Zweitens werden klassische Lügen über die DDR reproduziert: Westliche Musik sei verboten gewesen. Im DDR-Musiklabel AMIGA erschienen jedoch Platten von internationalen Größen wie Madonna, Michael Jackson, Elton John, Queen, Rolling Stones, Tina Turner, Depeche Mode, Jimi Hendrix, Nena oder Falco. Drittens ist das Buch geschichtslos: kein Wort von zwei Weltkriegen, NS-Staat, Konzentrationslagern und Holocaust. Doch darin liegen die Ursprünge beider deutscher Staaten, auch der DDR. Einige der 19 Beiträge sind interessant. Der Musikexperte Michael Rauhut befasst sich zum Beispiel mit Jugendkulturen, die in der DDR eine »größere soziale Halbwertszeit« hatten, weil sie nicht »in die industrielle Verwertungskette eingetaktet waren«.
Florian Osuch
Anne Seeck (Hg.): Das Begehren anders zu sein. Politische und kulturelle Dissidenz von 68 bis zum Scheitern der DDR. Unrast-Verlag, Münster 2012. 304 Seiten, 18 EUR.
Pussy Riot!
Dem Nautilus-Verlag ist es zu verdanken, dass nun Originaldokumente zur skandalösen Einkerkerung der drei Frauen von Pussy Riot! auch auf Deutsch vorliegen. Neben dem Punkgebet mit dem schönen Titel »Jungfrau Maria, räum Putin aus dem Weg!« finden sich noch andere Songtexte des feministischen Kollektivs, die Prozesserklärungen der Angeklagten sowie die Plädoyers der VerteidigerInnen und einige Solidaritätsadressen. Bewundernswert ist die anarchische Kraft und die Klugheit, aber auch die Bibelfestigkeit, mit der Pussy Riot! gegen die Repressionsapparate kämpft. In den Texten wird einerseits deutlich, wie unverfroren Putin und seine Vasallen die russisch-orthodoxe Kirche instrumentalisieren. Andererseits zeigt sich die Rücksichtslosigkeit eines Justizapparates hinsichtlich elementarer Standards bürgerlich-demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Gewaltentrennung? Akteneinsicht? Verfassungskonformität? Keine Spur! In einem Plädoyer der Verteidigung heißt es, dass es seit 1917 keinen Blasphemie-Prozess mehr in Russland gegeben hat - nach der Lektüre des Buches ist dies jedoch nachgerade verwunderlich. Der Band bietet nicht nur eine Zusammenfassung des Prozesses gegen Pussy Riot!; er ist gleichzeitig ein schockierendes Sittenbild moderner autokratischer Herrschaft. Wie recht hatte doch dereinst Walter Benjamin: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.«
Martin Birkner
Pussy Riot! Ein Punkgebet für Freiheit. Edition Nautilus, Hamburg 2012. 142 Seiten, 9,90 EUR.
Kapitalismustheorie
Der Kapitalismustheorie sei die Arbeit und der Arbeitssoziologie die Kapitalismustheorie abhanden gekommen, diagnostizieren die Herausgeber. Angesichts aktueller Krisenentwicklungen und öffentlichen Interesses für Marx und andere kritische DenkerInnen müsse nun auch die Arbeitssoziologie ihre Stimme deutlicher vernehmbar machen. Dies könne nur geschehen, wenn empirische Forschung wieder mit den »großen Erzählungen« über den Kapitalismus verbunden werde. Die AutorInnen des Bandes, die das »Terrain sondieren«, suchen in ihren Beiträgen nach Anknüpfungspunkten für solche Debatten. Sie finden sie vor allem in der Regulationstheorie und im »Neuen Geist des Kapitalismus« von Boltanski/Chiapello, daneben in der Internationalen Politischen Ökonomie und im feministischen Diskurs. Einige in der Linken viel diskutierte Kapitalismustheorien werden nicht einbezogen: Weder John Holloways Theorie noch die Trilogie von Hardt/Negri werden auf arbeitssoziologische Erkenntnispotenziale hin geprüft. Dominant orientieren sich die Beiträge an Kapitalismustheorien, die der Arbeiterbewegung eine nach wie vor wichtige Rolle zusprechen. Vielfach bleibt die Perspektive auf Veränderungen unausgearbeitet. So entsteht der Eindruck, dass Herrschaft im Betrieb und »durch den Markt« überaus effizient, wirksam und kaum widerstehbar sei. Allerdings bleiben den AutorInnen nur wenige Seiten für ihre Argumentation - die auch deshalb nicht immer überzeugt.
Stefan Kerber-Clasen
Klaus Dörre, Dieter Sauer, Volker Wittke (Hg.): Kapitalismustheorie und Arbeit. Neue Ansätze soziologischer Kritik. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2012. 513 Seiten, 29,90 EUR.