Antworten, die neue Fragen aufwerfen
Diskussion Das AutorInnenkollektiv Loukanikos über linke Geschichtspolitik
Von Jens Renner
Mit den »Möglichkeiten linker Geschichtspolitik« (ak 570) bzw. den »Perspektiven einer kritischen Gedächtnispolitik« (ak 578) beschäftigt sich das AutorInnenkollektiv Loukanikos. Eine grundlegende Erkenntnis: »Wir brauchen keine linken Mythen«. Damit bin ich voll einverstanden. Anderes erscheint mir diskussionswürdig - oder zumindest ergänzungsbedürftig.
Als Begründer der Lehre vom Mythos als sozialer Kraft gilt Georges Sorel (1847-1922). Vom Marxismus herkommend, wurde er mit seiner Mythentheorie zu einem ideologischen Wegbereiter des Faschismus. Über Sorels Ideen schreibt der Historiker Zeev Sternhell: »Das mythische Denken ist das Gegenteil des reflektierenden und diskursiven Denkens, es handelt sich um eine religiöse Mentalität, die gegen die rationalistische aufbegehrt. Dieses Denken hat eine unmittelbare Aufgabe, die Mobilisierung der Massen und die Veränderung der Welt. Dem Sorelschen Mythos wohnt eine unvergleichliche Kraft der Überzeugung und des Anreizes zum Handeln inne, er ist eine unerschöpfliche Quelle der Erneuerung, der Hebung der Moral, des Heroismus. Der Mythos beinhaltet Denken und Handeln, er erschafft Legenden, die der Mensch lebt, statt die Geschichte zu leben, er erlaubt, seiner erbärmlichen Gegenwart zu entfliehen, gewappnet mit einem unerschütterlichen Glauben.« (1)
In Sternhells Formulierungen wird nachvollziehbar, welche Verführungskraft Mythen haben können - auch für Linke. Dass Mythen keineswegs reine Phantasieprodukte sind, zeigt der 2012 verstorbene Altmeister der marxistisch orientierten Geschichtsschreibung, Eric Hobsbawm, der darauf verweist, »dass Historiker von Berufs wegen die hauptsächlichen Produzenten des Rohmaterials sind, das zu Propaganda und Mythen umgewandelt wird.« Woraus er folgert: »Die Entzauberung politischer oder sozialer Mythen, die sich als Geschichte kostümiert haben, gehört seit Langem zu den Berufspflichten des Historikers.« (2) So weit, so einleuchtend.
Dass es mit der Dekonstruktion von Mythen allein nicht getan ist, räumt auch Loukanikos ein. So zumindest verstehe ich den Verweis auf die »vielen kleinen Erzählungen, die dann nichts mehr aussagen« bzw. »keinen Nutzwert« haben, weder politisch noch erkenntnismäßig, und auf eine noch zu entwickelnde Geschichtspolitik, die »nicht nur nicht-mythisch ist«, sondern auch »emanzipatorisch«. (ak 570) Hier argumentieren die AutorInnen offensichtlich aus der »Perspektive des politischen Aktivisten«, die sie richtigerweise von der »des Historikers« unterscheiden.
Ihr Angebot in Sachen emanzipatorischer Geschichtspolitik linker AktivistInnen erscheint mir dann allerdings schwach. Auf die Frage von Cornelia Siebeck, der Interviewerin: »Also gar keine Traditionen mehr? Droht da nicht Orientierungsverlust?« antworten sie: »Ob wir ganz darauf verzichten können, sei dahingestellt. Die Frage ist aber, wie offen oder geschlossen solche Traditionen formuliert sind. Und wäre es nicht möglich, sich der Vergangenheit anders anzunähern: mit einer kritisch-solidarischen Haltung gegenüber vergangenen Kämpfen? Da wäre erstmal nur emphatisch festzustellen: Es gab immer Kämpfe für eine bessere Welt, um das dann für Gegenwart und Zukunft zu aktualisieren: Es gibt Kämpfe, und es wird sie immer geben. Jenseits davon würden wir dieser kämpferischen Vergangenheit fragend begegnen.« (ak 578)
Fragend schreiten wir voran. Oder treten wir auf der Stelle? »Dass es sich lohnt zu kämpfen« (ak 570), ist eine ziemlich banale Erkenntnis. Unklar bleibt auch, wo der »Raum für Allianzen und Solidaritäten« liegen soll, »die durch homogenisierende Traditionsstiftungen sonst eher verhindert werden«: Wer verbündet und solidarisiert sich wo mit wem, und inwiefern stört hierbei Tradition? Wenn sie es tut, müssen wir sie kritisieren. Da reicht es nicht, »der kämpferischen Vergangenheit fragend (zu) begegnen«.
Die Märtyrerin Rosa Luxemburg
Die Formel von der »kritisch-solidarischen Haltung gegenüber vergangenen Kämpfen« (ak 578) weist in die richtige Richtung. Im Konkreten scheiden sich die Geister an der Frage, wo Kritik und wo Solidarität angebracht ist bzw. wie deren »Mischungsverhältnis« aussehen soll. Es gibt auch eine besserwisserische Kritik vergangener Kämpfe und KämpferInnen, von denen etliche ihr Leben eingesetzt haben. Am wenigsten Probleme haben Linke für gewöhnlich mit denen, die der Neostalinist Domenico Losurdo leicht abschätzig die »Edel-Figuren« nennt - »edel auch, weil sie der Machtausübung fernstanden«.
Dazu zählt natürlich Rosa Luxemburg. Dass die PDS/Linkspartei ihre Stiftung nach Rosa Luxemburg benannt hat, war mutig, die offizielle Begründung für diese Wahl ist pathetisch: »Kompromisslos und stimmgewaltig vertrat sie ihre Überzeugungen. Mit menschlicher Wärme und mitreißendem Temperament vermochte sie jeden für sich zu gewinnen, der sich vorurteilsfrei auf sie einließ. Verschreckt indes reagierten jene, die sich ihr nicht gewachsen fühlten. (...) Rosa Luxemburgs unversöhnlicher Kampf gegen den Krieg und die Radikalität, mit der sie auf der Verbindung von politischer Freiheit und sozialer Gleichheit bestand, haben heute nichts an Strahlkraft verloren. Rosa Luxemburg ist Märtyrerin der deutschen Novemberrevolution. Die Jüdin, Polin und Sozialistin, die jeglichen Terror verabscheute, starb durch die Hand rechter Terroristen in deutscher Uniform am 15. Januar 1919 im Berliner Tiergarten. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung fühlt sich dieser demokratischen Sozialistin verpflichtet.« (www.rosalux.de)
Als Hommage an die Namensgeberin und griffige Formel, die sich auf die Website stellen lässt, mag das angehen. Aber wo es um fundierte linke Geschichtspolitik geht, fällt die kritiklose Verehrung der großen Genossin auf die Gemeinde der Gläubigen zurück; neue Mitglieder wird sie damit nicht gewinnen. Den Angriffen von rechts, den Lügen über und dem Hass auf Rosa Luxemburg lässt sich nur mit einer differenzierten Darstellung entgegentreten. Ein Beispiel ist Ottokar Lubans Kritik an der »ratlosen Rosa«, insbesondere an ihrem Agieren im Januar 1919 und den nachträglich von der KPD verbreiteten Legenden. (3) Luban sieht bei Luxemburg »illusionäre Erwartungen«, »vollständig irreale« Vorschläge an die kämpfenden Massen, ein »deterministisches Geschichtsbild« usw. Das sind starke Worte, die man nicht als Besserwisserei eines Autors abtun sollte, der Jahrzehnte später am Schreibtisch sein Urteil fällt. Linke Geschichtsschreibung bleibt eine Gratwanderung (oder sollte eine sein). Dabei scheinen mir begründete - und zugleich angreifbare - Thesen erkenntnisfördernder als bloße Fragen.
Wie schwierig der Umgang mit linker Geschichte sein kann, zeigt ein zweites Beispiel: die italienische Widerstandsbewegung gegen Faschismus und deutsche Besatzung, die Resistenza. Dass sie das Richtige tat und einen (großen) politischen und (nicht ganz unerheblichen) militärischen Beitrag zur Befreiung leistete, sollte für Linke außer Frage stehen. Für Rechte und Bürgerliche hingegen ist der »Resistenza-Mythos« seit Jahrzehnten ein Stein des Anstoßes und ein wichtiges Thema des seit den 1970er Jahren immer mal wieder aufflammenden italienischen Historikerstreits.
Der »Resistenza-Mythos« - ein rechter Kampfbegriff
Tatsächlich hat die jahrzehntelang von der kommunistischen Partei, dem PCI, dominierte Linke um die Resistenza einen Mythos geschaffen. So erzählen Roberto Battaglia und Giuseppe Garritano in ihrem Standardwerk (4) die »Geschichte des Widerstandskampfes des italienischen Volkes« - gegen eine »Handvoll Abenteurer, die ihr Vaterland um des Hitlerschen Großdeutschlands willen verraten« hätten. In Wahrheit kämpfte nur eine Minderheit, die allerdings gegen Kriegsende immer breiter unterstützt wurde. Zugleich blieben Hunderttausende bewaffneter Faschisten an der Seite Nazi-Deutschlands, keineswegs nur eine »Handvoll Abenteurer«.
Diese mittlerweile längst nicht mehr umstrittenen historischen Fakten nutzen allerdings rechte und bürgerliche GeschichtspolitikerInnen für ihre Forderung, »die Gegenüberstellung von Faschismus und Antifaschismus zu überwinden« (so der Historiker Renzo De Felice) - beide Seiten hätten in gutem Glauben für ihre Sache gekämpft. Um die überfällige »nationale Versöhnung« zu erreichen, müsse der »Resistenza-Mythos« zerstört werden. Auch AntifaschistInnen griffen das Versöhnungsangebot auf. Linke Geschichtspolitik wäre gegenüber rechter Geschichtspolitik noch weiter in die Defensive gedrängt worden, hätten nicht andere, etwa der Partisanenverband, sich diesem »Angebot« verweigert. Insofern ist das ein klassisches Beispiel für eine Konstellation, die Loukanikos ironisch umschreibt: »die immer gleichen Helden und Schurken, die sich auf immer neuen Schauplätzen begegnen.« (Dass die Resistenza nicht nur aus »Helden« bestand und in der Debatte um den »Resistenza-Mythos« zu den alten »Schurken« neue hinzugekommen sind, kann hier unberücksichtigt bleiben.)
Noch einmal Hobsbawm
Auch wenn die Aufgaben (professioneller) kritischer Geschichtsschreibung und (aktivistischer) linker Geschichtspolitik nicht deckungsgleich sind, kann ein Rückgriff auf Eric Hobsbawm auch für letztere hilfreich sein. Die in seinem Buch »Wieviel Geschichte braucht die Zukunft« enthaltenen Reflexionen über sein Fach unterteilt Hobsbawm in »drei Kategorien, die sich überschneiden«: »Zum ersten befasse ich mich mit dem Gebrauch und Missbrauch von Geschichte in Gesellschaft und Politik und mit der Erkenntnis und, wie ich hoffe, der Umgestaltung der Welt«; zweitens reflektiert er »Überblicke und kritische Einschätzungen unterschiedlicher geschichtswissenschaftlicher Trends und Moden«; drittens geht es ihm »um meine eigene Form von Geschichte, das heißt um die zentralen Probleme, denen sich alle ernsthaften Historiker zuwenden sollten, um die historische Interpretation ...«
Entschieden wendet Hobsbawm sich gegen die Mode, Vergangenheit als bloße »gedankliche Konstruktion« zu betrachten: »Kurz gesagt, ich bin überzeugt, dass es ohne eine Unterscheidung zwischen Dingen, die so sind, und solchen, die nicht so sind, keine Geschichte geben kann.« Wenn die »Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion, zwischen objektiver Wirklichkeit und begrifflichem Diskurs in Zweifel« gezogen werde, dann »ist meine eigene Konstruktion der Wirklichkeit ebenso gut wie die eines jeden anderen«; dann könne »kein narrativer Bericht unter vielen möglichen Berichten als privilegiert betrachtet werden«.
Zumindest der Tendenz nach sehe ich das, was Hobsbawm als historischen »Relativismus« kritisiert, auch in den geschichtspolitischen Überlegungen von Loukanikos angelegt.
Literatur:
1) Zeev Sternhell: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini. Hamburger Edition 1999.
2) Eric Hobsbawm: Wieviel Geschichte braucht die Zukunft. dtv, München 2001.
3) Ottokar Luban: Die ratlose Rosa. Die KPD-Führung im Berliner Januaraufstand 1919 - Legende und Wirklichkeit. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 1/2001.
4) Roberto Battaglia und Giuseppe Garritano: Der italienische Widerstandskampf 1943 bis 1945. Deutscher Militärverlag, Berlin/DDR 1970.
Loukanikos über linke Mythen
Die Loukanikos-Thesen wurden entwickelt in dem Artikel »Im Zweifel für den Zweifel. Eine Montage zu den Möglichkeiten linker Geschichtspolitik« (ak 570) und in dem Interview »Wir brauchen keine linken Mythen. Perspektiven einer kritischen Gedächtnispolitik« (ak 578). Einige Kernsätze:
»Wenn man davon ausgeht: es gibt eine hegemoniale Erzählung und diese ist mythisch. Und dann gibt es eine Gegenerzählung. Ist die automatisch nichtmythisch? Was macht sie den als hegemonial kritisierten Erzählungen strukturell ähnlich, und wie vermeidet man so eine Ähnlichkeit? Kommen wir dann nicht zu diesem postmodernen Schnickschnack von vielen kleinen Erzählungen, die dann aber nichts mehr aussagen?« (ak 570)
»Und wäre es nicht möglich, sich der Vergangenheit anders anzunähern: mit einer kritisch-solidarischen Haltung gegenüber vergangenen Kämpfen? Da wäre erstmal nur emphatisch festzustellen: Es gab immer Kämpfe für eine bessere Welt, um das dann für Gegenwart und Zukunft zu aktualisieren: Es gibt Kämpfe, und es wird sie immer geben. Jenseits davon würden wir dieser kämpferischen Vergangenheit fragend begegnen.« (ak 578)
»Und natürlich sollen wir weiter eine Geschichte der Unterdrückten erforschen und erzählen! Aber wir müssen uns bewusst bleiben, dass es auch Geschichten gibt, die von den Unterdrückten unterdrückt werden; dass Unterdrückte auch zu Unterdrückenden werden können. Es gilt, den Moment nicht zu verpassen, an dem ein kämpferischer Vergangenheitsbezug in Mythenproduktion umschlägt. Wir brauchen keine linken Mythen.« (ak 578)