Krisenlösung als Wunschkonzert
Diskussion Die Eurokrise hat linken Mythen von den Möglichkeiten staatlicher Politik neuen Auftrieb gegeben. Das ist gefährlich
Ein Ende der Krise in Europa ist nicht abzusehen. Im Vorfeld der erneuten Blockupyproteste in Frankfurt am Main starten wir eine Reihe zu Krisenanalysen und politischen Strategien der radikalen Linken. Den Anfang machen die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft mit einer Kritik an den Rezepten aus dem Umfeld der Interventionistischen Linken (IL). Sie kritisieren die Fixierung auf Diskurse und beobachten neue Illusionen in die Möglichkeiten staatlicher Politik. Statt über »Hegemonie« und »Krisendeutungen« zu grübeln, sollte sich die Linke auf Kritik konzentrieren - und auf die Frage, wie die jetzige Produktionsweise aufgehoben werden könnte. Ihren Text widmen die AutorInnen »der Reformismuskritikerin Rosa Luxemburg«.
Von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft
Während wir dieses schreiben, lässt der griechische Staat Sondereinheiten der Polizei gegen streikende TransportarbeiterInnen aufmarschieren. Die wirtschaftliche Depression befördert eine autoritäre Entwicklung, und es ist weitaus wahrscheinlicher, dass sich die Situation in Spanien, Portugal und bald auch in Italien ähnlich zuspitzen wird, als dass jener wundersame Aufschwung eintritt, den auch unverdrossene Konjunkturastrologen nicht mehr vorherzusagen wagen. Es sollte eigentlich eine Zeit sein, in der die Linke offensiv auf den Plan tritt. Jahrelang studierte man die blauen Bände, hat sich mit Ware, Wert und Krise abgemüht, und jetzt bestätigt das Kapital jeden Satz, der in Marx' »Kapital« über seine unvermeidbaren und unvermeidbar die ProletarierInnen beutelnden Schwächeanfälle zu lesen ist.
Die Tatsache, dass selbst nach offiziellen Angaben die Hälfte der spanischen und griechischen Jugendlichen ohne Arbeit ist und die andere Hälfte kaum über die Runden kommt, gäbe Anlass, über die Abschaffung des Lohnsystems zu reden, ohne als weltfremder Spinner dazustehen. Wo sich in Platzbesetzungen, Plünderungen und dem Widerstand gegen Zwangsräumungen die massenhafte Fähigkeit zur Selbstorganisation und zum Bruch mit der herrschenden Ordnung bereits gezeigt hat, wäre der Gedanke an das Ende des Staates zumindest nicht völlig abwegig. Wenn die so simple wie radikale Pointe, in die Marx seine Überlegungen münden ließ, zutrifft, wenn es also stimmt, dass die proletarisierte Masse der Bevölkerung in den periodischen Krisen gerade deshalb den Knüppel zu spüren bekommt, weil die Produktivkräfte der Gesellschaft zu weit entwickelt sind, dann wäre jetzt die Zeit, über praktische Konsequenzen nachzudenken - über Schritte zu einer Bewegung, die sich diese Produktivkräfte in freier Assoziation aneignet.
Aber die Linke hat mehrheitlich offenbar anderes im Sinn: Sie fantasiert eine bessere Wirtschaftspolitik herbei, die gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen soll: den Lohnabhängigen Gutes tun und die Krise verscheuchen. Was momentan angesichts eines tatsächlich angeschlagenen Kapitalismus vorgebracht wird, ist falsch und politisch verheerend. Das ist nicht unbedingt mangelnder Kenntnis der Marxschen Ökonomiekritik geschuldet, sondern vielmehr der wenig erbaulichen Tatsache, dass eine Aufhebungsbewegung trotz Riots und Platzbesetzungen momentan nicht in Sicht ist, während sich die barbarische Auflösung der krisengeschüttelten Gesellschaften abzeichnet, wie man es in aller Drastik in Griechenland beobachten kann.
Linksradikaler Schwenk zum Keynesianismus
Dass ein langjähriger Linksradikaler wie Karl Heinz Roth plötzlich der Arbeiterautonomie Makroökonomie vorzieht, um für »Programme der Sozial- und Wachstumsförderung« und die »Umsteuerung der sozialökonomischen Gesamtentwicklung« einzutreten, lässt sich vor allem aus der berechtigten Angst vor den sozialen Folgen einer sich weiter verschärfenden Krise erklären, gegen die dann die Hoffnung in Anschlag gebracht wird, Schlimmeres könne sich durch geschickte Umverteilungsmaßnahmen abwenden lassen. Derartige Überlegungen bieten jedoch nicht nur der linksparteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung das Material zu wirtschaftspolitischen Gedankenspielen für künftige Regierungsbeteiligungen, sondern schüren vor allem Reformillusionen, die niemandem helfen, sondern nur ein Hemmschuh der Subversion sind. Die folgenden Bemerkungen dienen deshalb ausdrücklich dem Ziel, die Spaltung der Linken in EtatistInnen und Antiautoritäre zu befördern.
In den meisten Texten der Linken zur Eurokrise ist jeder Gedanke an Sachzwänge der politischen Ökonomie verschwunden; er gilt als deterministisch. Mit Antonio Gramsci fasst eine Linke, der an »Lösungsvorschlägen« eher gelegen zu sein scheint als an Kritik, das Weltgeschehen nur mehr als eine Frage der »Hegemonie« auf und erklärt ökonomische Sachzwänge zu einer Erfindung des »neoliberalen Diskurses«. Auf dieser Ebene einmal angekommen, spielt das gesellschaftliche Sein denn auch keine Rolle mehr, ein »popularer Schuldendiskurs« (Gruppe Soziale Kämpfe) muss her. (1) Dass das Kapital periodisch in Krisen geraten und sich zulasten der Lohnabhängigen sanieren muss, ist der Rede nicht mehr wert. Stattdessen gilt es, die »Definitionsmacht« (Interventionistische Linke) über die Krise zu erringen. Denn wer die hat, »bekommt auch die politische Lösungskompetenz« (Ingo Stützle, siehe ak 571).
Folgen der linken Gramsci- und Poulantzasbegeisterung
Letztlich geht es also um den Staat - um »Fragen der Staats- und Regierungsmacht«, wie Thomas Seibert freimütig zugibt (siehe ak 548) -, den man mit Nicos Poulantzas zur »materiellen Verdichtung eines Kräfteverhältnisses« verharmlost und als ein »Kampffeld« begreift, auf dem es mitzumischen gilt. Ein Außerhalb, das hat man von Poulantzas gelernt, der als KP-Mitglied ein geschworener Feind aller libertären, antistaatlichen Linken war, gibt es nicht. Und so stiefeln die Klassen als schlichte Interessengruppen durch die Weltgeschichte: Sie ringen um Hegemonie, verschieben Diskurse und prägen je nach Lage der daraus resultierenden Kräfteverhältnisse der staatlichen Politik ihren Stempel auf. Momentan haben die bürgerlichen Kräfte das Sagen, das Ergebnis: Neoliberalismus. Deshalb werden die Gläubiger der Krisenstaaten um jeden Preis bedient, zu zahlen hat die dortige Bevölkerung. Aufgrund der »Re-Definition der Krise als Staatschuldenkrise« habe »keine grundsätzliche Veränderung der Wirtschaftspolitik« stattgefunden, konstatieren die einen (Stützle, ak 571), während die anderen zu bedenken geben, dass die Krise durch Austeritätspolitik nicht gelöst, sondern noch verschärft werde, denn die »würgt die (...) gesunkene Nachfrage weiter ab«. Dagegen steht die Hoffnung, der Staat könne »durch kreditfinanzierte Investitionen zukünftigen gesellschaftlichen Reichtum generieren« (Gruppe Soziale Kämpfe, siehe Anmerkung 1).
Auch die Schuldenfrage ist letztlich »eine Verteilungsfrage und nicht zuletzt eine Machtfrage« (2), schließlich zahlen die Reichen und die Unternehmen seit Jahrzehnten immer weniger Steuern. Und weil der neoliberale Austeritätskurs federführend von Deutschland durchgepeitscht wird, müsse man zunächst »die deutsche Dominanz in Europa brechen«. (3)
Mythos Neoliberalismus
Der erste, grundlegende Mythos ist der von einem neoliberalen Wirtschaftsregime, das als willkürlich eingeschlagener Kurs zwecks Bereicherung der Reichen verstanden wird, oft verbunden mit einer Nostalgie für die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit. Der soziale Frieden der Nachkriegsjahrzehnte aber, der übrigens auch von den Revolten der 1960er und 1970er Jahre aufgekündigt wurde, verdankte sich einer Boomphase, die kein Wunder und auch nicht die Bestätigung des Keynesianismus war, sondern direkt aus der Kapitalvernichtung durch die Große Depression und den Zweiten Weltkrieg resultierte. Keine Hochkonjunktur währt ewig, irgendwann herrscht allgemeine Überproduktion, sinkt die Profitrate.
Seit dem Ende des Nachkriegsbooms ist entgegen aller marktradikalen Rhetorik das wirtschaftliche Gewicht der Staaten kaum geringer geworden: Immer noch fließt sehr viel Geld durch ihre Hände, sind die Sozialausgaben hoch und gerade in der viel gescholtenen Ära des Neoliberalismus ist die Staatsverschuldung in astronomische Höhen getrieben worden. Wer das nicht zur Kenntnis nehmen mag, lässt sich bis heute von den markigen Worten Maggie Thatchers und Ronald Reagans blenden, die doch schon damals die ideologische Larvenschminke für eine Wirtschaftspolitik waren, die auf Staatsinterventionen ungeheuren Ausmaßes - Stichwort Rüstungskeynesianismus - längst nicht mehr verzichten konnte. Mit immer aberwitzigeren Anleihen auf einen zukünftigen Mehrwert wurde der unabwendbare Ausbruch einer Krise aufgeschoben, deren Ursache allein in der nachlassenden Dynamik des Kapitalismus zu suchen ist. Auch die Niedrigzinspolitik in der Dekade vor der jüngsten Krise war keineswegs neoliberal, sondern schlichter »Börsenkeynesianismus« (Robert Brenner): Es wurde munter Geld in die Wirtschaft gepumpt, mit dem Ergebnis einer kurzen Scheinblüte.
Gerade das Krisenmanagement seit 2008 zeigt keine Spur neoliberaler Hegemonie. Als es brenzlig wurde, haben die Regierenden auf die marktradikalen Bekenntnisse gepfiffen, um mit Rettungspaketen, Konjunkturprogrammen und notfalls Verstaatlichungen jenen Entwertungscrash abzuwenden, den momentan selbst eingefleischte Laissez-faire-KapitalistInnen mehr zu fürchten scheinen als die verhassten Staatseingriffe.
Die Angst vor dem Crash
Das ist das zentrale Dilemma der aktuellen Krise: Ein solcher Crash wäre notwendig, um einem neuen Aufschwung den Boden zu bereiten; denn wenn Krisen einen Mangel an Mehrwert gemessen an der Größe des existierenden Kapitals ausdrücken, kann ihre Überwindung nur in verschärfter Ausbeutung einerseits, Kapitalvernichtung - von Werksschließungen bis zur Entwertung von Staatsanleihen - andererseits bestehen. Nie hat sich der Kapitalismus anders bewegt als durch einen ständigen Zyklus von Boom und Crash. Die Folgen eines solchen Entwertungscrashs aber wären in einer global engmaschig vernetzten Wirtschaft so unberechenbar - und zweifellos grauenhaft -, dass man sich nicht einmal traut, das Labor Griechenland hochgehen zu lassen: Es hängt einfach zu viel daran, nicht zuletzt der Euro.
Wenn die griechischen Staatsschulden also um jeden Preis bedient werden, dann nicht um die Gläubiger zu schonen - eine Anklage mit der sich Linke in eine surreale Koalition mit den letzten aufrechten Marktradikalen begeben -, sondern um eine unkontrollierbare Kettenreaktion abzuwenden.
Kein Mythos ist, dass es eine »deutsche Dominanz in Europa« gibt: Merkel und Schäuble machen die Kettenhunde für die härtesten Angriffe auf das Proletariat in der Nachkriegsgeschichte. Zweifellos hat die Krise Europa auch entlang nationaler Grenzen in KrisengewinnerInnen und -verliererInnen geteilt. Zu den GewinnerInnen gehören - bislang - die exportstarken Nationalökonomien, allen voran Deutschland, dessen starke Verhandlungsposition sich daraus ergibt, dass es seit der Umsetzung der Agenda 2010 zu unschlagbar niedrigen Lohnstückkosten qualitativ hochwertige Waren produzieren und exportieren kann. Selbstredend ist die deutsche Krisenpolitik nationalen Interessen verpflichtet, sie folgt aber auch der Tendenz des Kapitals, die allgemeine Wettbewerbsfähigkeit durch Entwertung der Ware Arbeitskraft und Schließung unproduktiver Sektoren zu erhöhen. Die krisenverschärfenden Austeritätsprogramme wurden von Deutschland zwar durchgeboxt, sind allerdings im Interesse aller europäischen Bourgeoisien, solange sie ihren Standort nicht zu zerstören drohen.
Auch ist die deutsche Dominanz keineswegs ungebrochen. Gegen das deutsche Spardiktat steht bspw. eine Europäische Zentralbank, die unbegrenzt Ramschanleihen der Krisenstaaten kauft, die heikle Politik des Schuldenmachens also weitertreibt. Im Ringen um das europäische Krisenmanagement spiegelt sich also letztlich das Dilemma, dass Austerität langfristig zwar unvermeidbar ist, kurzfristig jedoch den Crash heraufbeschwört, während keynesianisches Schuldenmachen kurzfristig zwar beruhigend wirkt, diesen Crash jedoch nicht endlos aufschieben kann.
Mehr als dieses Versprechen aber hat der neue Linkskeynesianismus nicht im Angebot. Der fromme Wunsch, der Staat könne weiterhin »durch kreditfinanzierte Investitionen zukünftigen gesellschaftlichen Reichtum generieren«, ist angesichts der Tatsache, dass die gigantischen Konjunkturprogramme seit Ausbruch der Krise kaum Konjunktur, dafür aber gewaltige Staatsschulden bewirkt haben, illusionär.
Verteilungspolitische Irrwege
Auch das Nachfrageargument, der vermeintliche Trumpf aller LinkskeynesianerInnen, sticht nicht: Alle KapitalistInnen wünschen sich zahlungskräftige Kundschaft. Sie wissen aber auch, dass Lohnerhöhungen in Zeiten der Krise das Letzte sind, was sie brauchen können, drücken höhere Löhne die ohnehin schwächelnde Profitrate doch ganz direkt. Deshalb wurde keine einzige Krise in der Geschichte auf diesem Weg überwunden. Einziges Ergebnis des linkskeynesianischen Versuchs, dem Klassengegner das proletarische Lohninteresse als höheres Gebot volkswirtschaftlicher Vernunft aufzuschwatzen, war und ist die Vernebelung des Bewusstseins.
Bleibt das Finanzamt, zu dem alle Wege des aktuellen Reformismus führen. Steuerpolitik ist nichts weiter als eine sekundäre Verteilung zwischen den Klassen; die Schwäche der Lohnabhängigen kann dauerhaft nicht durch einen starken, umverteilenden Staat wettgemacht werden, denn in den Lohnrunden können sich die Unternehmen jeden Cent zurückholen, den dieser indirekt den ArbeiterInnen zukommen lässt. Auch dienten die Steuerleichterungen der letzten Jahrzehnte für Vermögende und Unternehmen nicht in erster Linie dem Ziel privater Bereicherung, sondern sollten die nachlassenden Investitionen wieder ankurbeln - mit mäßigem Erfolg.
Gut möglich, dass die Reichen angesichts akuter Finanznot der Staaten wieder stärker zur Kasse gebeten werden. Springen Linke auf diesen Zug auf, befestigen sie jedoch nur den gerade hierzulande ohnehin beängstigenden Glauben an den Staat und zerbrechen sich ohne Not den Kopf über dessen Kassenlage. Auch lagern die Reichtümer der Reichen nicht in Tresoren, wo man sie konfiszieren und an die Bedürftigen verteilen könnte: Kapitalistischer Reichtum ist prozessierender Reichtum, er muss sich verwerten - deshalb ruht er nicht, sondern wird investiert. Mangels lukrativer Anlagemöglichkeiten in den produktiven Sektoren hat er sich mittlerweile in immer fantastischere Finanzprodukte geflüchtet, was wiederum auf die allgemeine Überakkumulationskrise verweist, die durch keine Umverteilungspolitik zu bereinigen ist.
Wie man es auch dreht und wendet: Eine »soziale Krisenlösung« gibt es nicht und hat es nie gegeben. Das linke Wunschdenken fügt sich zwanglos in das momentane Klima eines besinnungslosen Politizismus, in dem zwar keiner - insbesondere nicht die vermeintlich Herrschenden - genau weiß, was zu tun ist, aber alle etwas tun müssen.
Mit ihren Rezepten verkörpert eine Linke, die mittels »popularem Schuldendiskurs« die »Definitionsmacht« über die Krise zu erringen sucht, das falsche Bewusstsein der Abwehrkämpfe gegen die Austerität. Denn diese Kämpfe werden nicht das Tor zu einem »sozialen Europa« aufstoßen, sondern, sollten sie anhalten, die unausweichliche Sanierung der schwer lädierten Ökonomie blockieren. Damit setzen diese Kämpfe, bewusst oder unbewusst, jene Frage nach der Aufhebung der jetzigen Produktionsweise auf die Tagesordnung, die in den linken Reformgespinsten gar nicht mehr gestellt wird.
Die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft laden für den 2. März zu einem Tagesseminar über Krise und Staatskritik ein; mehr unter kosmoprolet.org
Anmerkungen:
1) Gruppe Soziale Kämpfe: Krise und Herrschaft durch Schulden. Für einen popularen linken Diskurs, arranca.org/ausgabe/45/krise-und-herrschaft-durch-schulden
2) Ingo Stützle und Stephan Kaufmann in der Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung »Ist die ganze Welt bald pleite?«, die unter www.rosalux.de heruntergeladen werden kann.
3) Aus »Dazwischengehen. Zeitung für eine Interventionistische Linke«, Mai 2012.