Eines der großen Massaker, die den Kapitalismus einleiten
Gender Über den Zusammenhang von Hexenverfolgung und ursprünglicher Akkumulation
Interview: Ralf Ruckus / labournet.tv
Silvia Federici gehörte in den 1970ern zu jenen Feministinnen, die die Reproduktionsarbeit von Frauen ins Zentrum politischer Diskussionen rückten, u.a. durch die internationale Kampagne »Lohn für Hausarbeit«. Ende 2012 erschien ihr bekanntestes Buch, »Caliban and the witch«, auf deutsch. Mit labournet.tv sprach die emeritierte Professorin über Reproduktionsarbeit, rebellische Subjekte und die Regulierung weiblicher Körper.
Dein Buch »Caliban und die Hexe« erschien 2004 auf englisch. Wie hängt das Buch mit deiner früheren Beteiligung an der Frauenbewegung zusammen?
Silvia Federici: Ich begann Mitte der 1970er mit der Arbeit an dem Buch, es beschäftigt mich also seit Jahrzehnten. Ich wollte mir die Geschichte dessen anschauen, was als Unterdrückung der Frauen bezeichnet wird. Ich wollte sehen, wie sie den Kapitalismus verändert hatte, als Antwort auf viele Debatten der Frauenbewegung um die Frage, ob die geschlechtliche Diskriminierung ein Überbleibsel früherer patriarchaler Beziehungen ist oder ein spezifischer Typus sozialer Realität des Kapitalismus.
Kannst du uns den Inhalt und die wichtigsten Thesen des Buchs vorstellen?
Im ersten Kapitel geht es um die Krise des Feudalismus und besonders um die Gründe für die Entwicklung des Kapitalismus. Es zeigt, dass der Kapitalismus eine Konterrevolution war, eine Antwort auf eine Reihe sozialer Kämpfe. Ich wollte verstehen, warum dieser Angriff kam und warum die Entwicklung des Kapitalismus mit diesem massiven Angriff auf die Frauen beginnen musste. Das zweite Kapitel analysiert die wichtigsten Prozesse, die den Übergang zum Kapitalismus ausmachten. Es ging darum, die Geschichte zu schreiben, die Marx nicht schrieb - also die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation daraufhin zu untersuchen, wie sich die Reproduktion von Arbeitskraft veränderte, und damit auch die Position der Frauen. Anders gesagt: Der Kapitalismus begann nicht nur mit der Trennung der Bauern von ihrem Land, sondern er begann mit der Auftrennung von Produktion und Reproduktion, nicht im physischen Sinn, sondern in Bezug auf die sozialen Beziehungen.
Das dritte Kapitel dreht sich um den Körper. Hier schaue ich mir an, was bei der kapitalistischen Reorganisation von Produktion und Arbeit mit dem Körper passiert. Der Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er Arbeitskraft als grundlegende Form des Reichtums ansieht. Das ist sehr wichtig für die Form disziplinierender Herrschaft, die er schaffen muss, denn diese bedarf einer ganzen Reihe von Maßnahmen gegen den Körper. Der Körper trägt viele Ressourcen in sich, die entwickelt und maximiert werden müssen. Dabei gibt es natürlich eine Dialektik von Entwicklung und Repression. Hier stehe ich Foucault sehr kritisch gegenüber, der betont, dass sich neue produktive Kapazitäten entwickeln. Allein aus der Perspektive der Repression kann die Geschichte nicht geschrieben werden. Das ist richtig, aber die Repression ist das erste Moment. Du kannst keine Entwicklung neuer Kapazitäten des Körpers haben ohne die Zerstörung vieler Verhaltensformen und Praktiken, die für die Kultur der vorkapitalistischen Gesellschaft grundlegend waren.
Im vierten Kapitel wendest du dich dann dem Thema Hexenverfolgungen zu.
Ja, dort analysiere ich, wie diese abliefen und was hinter den Hexenverfolgungen in den verschiedenen Ländern stand. Das Kapitel versucht auch zu erklären, wie die Hexenverfolgungen mit dem Angriff auf das Proletariat und dem breiteren Prozess der ursprünglichen Akkumulation zusammenhingen, die in jener Zeit stattfanden. Und es untersucht, wie die Hexenverfolgung mit diesen Entwicklungen zusammenhing, indem es in den Blick nimmt, welchen sozialen Status die Hexen hatten und welche Verbrechen ihnen vorgeworfen wurden. Es geht außerdem um den Zusammenhang zwischen den Vorwürfen der Hexerei und der Neudefinition der weiblichen Sexualität, die im Grunde auf ihre reproduktive Funktion reduziert wird. Die Kontrolle über den weiblichen Körper und die weibliche Sexualität ist extrem wichtig für den Kapitalismus, sowohl für die neue Arbeitsdisziplin als auch für die Reproduktion der Arbeiterklasse. Hier gibt es wieder eine Polemik zu Marx und Foucault. Beide erkennen die Bedeutung dieses Ereignisses nicht, das ich für fundamental für die Schaffung der modernen kapitalistischen Gesellschaft halte. Es handelt sich um eins der großen Massaker, die das Erscheinen des modernen Kapitalismus einleitet. Da gibt es den Sklavenhandel, die Eroberung der Amerikas und die Verfolgung der Hexen.
Im letzten Kapitel schließlich zeige ich, dass die Hexenverfolgung kein rein europäisches Phänomen war, sondern ab Ende des 16. Jahrhunderts auch in die sogenannte Neue Welt exportiert wurde. Die Auslöschung der Hexerei wurde von Missionaren und Eroberern eingesetzt, um Widerstand zu brechen und um eine neue Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern einzuführen.
Im Buch entwickelst du deine Vorstellungen als Kritik an existierenden Untersuchungen der Hexenverfolgung. Wie wurde dort die Hexenverfolgung geschildert, und was ist deine Kritik daran?
Im Allgemeinen scheuten sich diese Studien entweder, eine generelle Motivation für die Verfolgungen zu finden und konzentrierten sich nur auf die Analyse der Bedingungen, die sie ermöglichten. Oder, wenn sie nach den Hintergründen suchten, bezogen sie sich auf religiöse Konflikte wie die Reformation. Es gab kaum Versuche, größere Zusammenhänge herzustellen. Die Feministinnen waren die ersten, die versucht haben, die Hexenverfolgungen mit der ursprünglichen Akkumulation und der Vertreibung der Bauern in Zusammenhang zu setzen. Vorherige historische Analysen waren aus dieser Sicht wenig zufriedenstellend.
In Europa begann, chronologisch gesehen, die wichtigste Periode der Hexenverfolgungen im späten 16. Jahrhundert. Wir befinden uns mitten in der Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse und erleben den brutalsten Angriff auf die arbeitende Bevölkerung, den wir uns vorstellen können. Dies ist der Moment, in dem auch die Amerikas kolonisiert werden und das Silber ankommt, das die wirtschaftlichen Beziehungen eines großen Teils von Westeuropa zerstört und eine enorme Verarmung schafft - ähnlich der Verarmung, die wir seit den 1980ern mit den Strukturanpassungen in Afrika erleben. Es ist auch die Phase der Vertreibungen der Menschen von ihrem Land und die Phase, in der neue Gesetze die Wohnform von ArbeiterInnen regeln sollen, ihre sexuellen Beziehungen, Prostitution, Reproduktion. Angesichts dieses Ablaufs drängt sich die Frage auf, wie das mit den Hexenverfolgungen zusammenhing.
Wer waren die Frauen, die der Hexerei bezichtigt wurden?
Es waren die rebellischen Subjekte, die der Kapitalismus vernichten wollte. Rebellisch, weil sie gegen die neuen Regeln rebellierten, aber auch weil sie eine Welt vertraten, die der Kapitalismus zerstören musste. Ob sie nun rebellierten oder nicht, sie repräsentierten ein Netz von Praktiken, Glaubensvorstellungen und Werten, die auf die eine oder andere Art zerstört wurden. Oft ist die Hexe eine Prostituierte oder war in ihrer Jugend eine, oder sie hatte Kinder außerhalb der Ehe oder eine sexuelle Beziehung außerhalb ihrer Klasse. Wie jede wichtige Initiative des Staates gegen eine große Gruppe von Menschen konnte die Hexenverfolgung auf verschiedene Arten genutzt werden. Ich ziehe oft die Parallele zum heutigen Krieg gegen den Terror. Der Krieg gegen den Terror kann heute eingesetzt werden, um eine Vielzahl von Menschen anzugreifen, z.B. Gewerkschafterinnen oder Aktivisten.
Wie wurde dein Buch in der feministischen Szene diskutiert?
Das Buch ist sehr gut aufgenommen worden, in der feministischen Szene und darüber hinaus. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen, dass es eine historische Leerstelle ausfüllt, die für das Verständnis der ersten Phase kapitalistischer Entwicklung entscheidend ist. So hat es die Hexenverfolgungen für verschiedene soziale Bewegungen wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt - besonders weil wir eine Rückkehr der Hexenverfolgung erleben. In den letzten drei Jahrzehnten hat es im Zusammenhang mit der Globalisierung in vielen Teilen der Welt, vor allem in Afrika, aber auch in Indien und Nepal, eine Wiederkehr der Beschuldigungen der Hexerei und auch der gewalttätigen Angriffe auf Frauen gegeben. Allein in Afrika sollen mindestens 20.000 bis 30.000 Frauen deshalb getötet worden sein. Bei meiner Arbeit zu den Hexenverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert bin ich auf den Zusammenhang mit der Transformation der wirtschaftlichen Verhältnisse gestoßen, die heute in Afrika und anderen Teilen der Welt vor sich geht. Entsprechend sehe ich auch diese neuen Hexenverfolgungen als Folgen der Globalisierung, nicht als kulturelle Ereignisse.
Wie würdest du die Auswirkungen der Hexenverfolgungen abgesehen von diesen neuen Angriffen beschreiben, ihre heutigen Auswirkungen auf Frauen im Allgemeinen?
Meiner Meinung nach haben die Hexenverfolgungen nie aufgehört - auch wenn das übertrieben klingen mag. Heute finden Hexenverfolgungen gegen Frauen auf viele Arten statt. Zunächst einmal wird das Bild der Hexe weiter als Disziplinierungsinstrument gegen Frauen eingesetzt - eine bestialische Kreatur, nur Sex und Lust, rein körperliche Substanz, ohne Verstand, bereit sich mit dem Teufel zu verbinden, irrational böse. Dieses Bild gibt es. Schaut man sich etwa die Hollywood-Produktionen der 1940er, 50er und 60er an, stellt man fest, dass das Bild der Hexe bei vielen Filmen im Hintergrund steht. Wenn wir von der Hexe sprechen, muss sie nicht auf einem Besen oder auf einer Ziege gezeigt werden. Es geht vielmehr um das Bild der vollkommen bösen Frau, die ohne erkennbare Gründe alle oder bestimmte Männer vernichten will. In diesem Sinn haben die Hexenverfolgungen ideologisch nie aufgehört. Es gibt zum Beispiel in den USA ein neues Gesetz, das Frauen kontrollieren und bestrafen will für alles, was sie während einer Schwangerschaft machen. Frauen werden hier als Maschinen für die Produktion von Arbeitskraft gesehen. So wurde Frauen in den USA heimtückischer Mord vorgeworfen, weil sie während der Schwangerschaft Drogen genommen hatten. Ähnliche Gesetze werden in vielen Staaten diskutiert. Besonders mit der Eskalation der globalen Krise gehen die Hexenverfolgungen und der Krieg gegen Frauen weiter.
Eine Sache habe ich durch die Beschäftigung mit Geschichte gelernt: Diese großen Ereignisse, und besonders die großen Verbrechen, die der Kapitalismus begangen hat, gehören nicht zur Vergangenheit. Sie können nicht archiviert werden. Wir müssen sie für immer im Blick behalten. Sie bieten eine Struktur für den Horizont, für ein gewisses Verständnis davon, was kapitalistische Gesellschaft ist und was kapitalistische Verhältnisse sind.
Das ausführliche Interview von Ralf Ruckus findet sich als Videomitschnitt unter www.labournet.tv.
Silvia Federici: Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Mandelbaum Verlag, Wien 2012. 316 Seiten, 24,90 EUR.
Caliban und die Hexe
ist eine Geschichte des weiblichen wie des kolonisierten Körpers während des Übergangs zum Kapitalismus. Silvia Federici interpretiert darin den Kapitalismus als Antwort auf die antifeudalen Befreiungskämpfe des späten Mittelalters. Um diese zu stoppen, sei ein generalisierter Angriff gegen Frauen nötig gewesen, deren Höhepunkt die Hexenverbrennungen waren.