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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 580 / 15.2.2013

Der Aufschrei, der (nicht) gehört wurde

Deutschland In der Debatte über Alltagssexismus wurden wichtige Fragen nicht gestellt

Von Margarita Tsomou

Wir kennen es allzu gut. Wir schreien uns jahrelang über Rassismus und Migration, Eurokrise, Kriegseinsätze, Studiengebühren oder Hartz IV die Kehlen wund - nur selten werden wir gehört. Doch nun ist der seltene Fall eingetreten, dass das Krächzen zu einem öffentlichen Aufschrei angewachsen ist. Der Artikel der Sternredakteurin Laura Himmelreich über die sexistischen Barallüren des FDP-Spitzenmanns Rainer Brüderle sowie die davon ausgelöste Twitterbewegung #aufschrei hat eine beeindruckend breite Debatte über Sexismus im Alltag ausgelöst.

Von den Blättern Bild bis zur Welt, von ARD bis RTL - alle stiegen sie ein. Eine ganze Woche konnte sich kein Mainstreamblatt und keine Fernsehtalkshow erlauben, das heiße Thema zu ignorieren. Zum ersten Mal widmete sich die Republik den eigenen Abgründen des machistischen kollektiven Unbewussten. Die Art und Weise, wie die Debatte geführt wurde, demonstrierte jedoch nicht nur Naivität, sondern auch eine große Konfusion. Davon waren emanzipatorische, linke Kräfte nicht ausgenommen. Scheinbar in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Desinteresse ließ man den Aufschrei verhallen. Doch was wurde in der Sexismusdebatte genau diskutiert? Welche Argumente wurden ausgelassen, wer beteiligte sich und welche neuen Fragen stellen sich?

Frauenfeindliche Rhetorik

Was der Bericht über Brüderle von anderen, medial lancierten, »Enthüllungsgeschichten« unterschied, ist, dass er Zehntausenden von Frauen als Anlass für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung nutzte. Maßgeblich dafür war der von der jungen Feministin Anne Wizoreck eingerichtete Hashtag #aufschrei. In über 60.000 Tweets in weniger als drei Tagen wurden die eigenen Erfahrungen mit Alltagssexismus geteilt. So hat die Schwarmkollektivität des Netzes dazu beigetragen, dass die Debatte jenseits des Falls Brüderle um Themen wie frauenfeindliche Rhetorik und Machtgefälle zwischen »Mann« und »Frau« erweitert wurde. Ein weiteres Mal zeigte sich, dass die neuen, über die Social Media sich formierenden Bewegungen ein unglaubliches Vermögen haben, Öffentlichkeit herzustellen und Themen auf die Agenda zu setzen, für die der Mainstream längst immun ist.

Das heißt natürlich nicht, dass die hegemoniale Seite nicht auch ihre eigenen Narrative verfolgte. Die Berichterstattung verlief nach wie vor in der Logik »sex sells« und »politician sex sells even more«. Um zu überprüfen, ob der Sexismusvorwurf der jungen Himmelreich auch gerechtfertigt sei, interessierte viele JournalistInnen vor allem, wie spät es in der Bar war und wie viel Wein floss. Diese typische Verkehrung von Täter und Opfer mündete schließlich in einem der Hauptaspekte der Debatte: es sei so schwer, die Grenze zwischen einem netten Flirt und einem Übergriff zu finden. Ebenso war vom männlichen Charmeur die Rede, dem nun ein Maulkorb verpasst werden sollte, oder dass man doch nicht Erotik aus dem Arbeitsleben verbannen könne. Sexismus wurde derart auf die individuelle Kommunikation zwischen den dualen Geschlechterkategorien »Mann« und »Frau« im Rahmen eines »Liebesspiels« reduziert.

Während die weniger klugen unter den männlichen Studiogästen mit Machosprüchen ihr Recht auf Sexualität verteidigten, glänzten die »Nice Guys« mit Reue. Letzteres war meist den eingeladenen FeministInnen zu verdanken, die stur wiederholten, dass jede Frau sexistische Adressierungen kennt und von Männern Tag ein, Tag aus einen respektvollen Umgang einfordern müssen. In den meisten Talkrunden versuchte man zwar mit den unsäglichen Schenkelklopfern Quote zu machen; zugleich schien jedoch der Konsens zu herrschen, dass Männer Verantwortung übernehmen müssten und »sich am Riemen reißen«. Doch diese Logik der moralischen Appelle führte oft zu der altbekannten Reaktion, »die Männer seien von Natur so« und es deshalb zu entschuldigen, dass sich der männliche Sextrieb nicht immer leicht kontrollieren lasse. Gesellschaftskritische und systemische Erklärungen, die Strukturen thematisieren, blieben aus. Das Niveau der Diskussionen schwankte zwischen Höhlenmenschenbildern und psychologisiertem Stammtisch.

Machos in der Defensive

Einen analytischen Höhepunkt erreichte die Debatte, wenn zumindest der Zusammenhang zwischen chauvinistischen Gesten und der Ausübung von Macht benannt wurde - vor allem am Arbeitsplatz. Sexistischen Sprüche dienen oft dazu, Kolleginnen nicht ernst zu nehmen, zu erniedrigen und sie auf ihr Äußeres und auf ihr Geschlecht zu reduzieren. An diesem Punkt hörte die Analyse jedoch schnell auf. Warum diese Macht in der Regel von Männern ausgeht und wo sich dieses Machtgefälle in der strukturellen Benachteiligung von Nicht-Bio-Männern wiederfindet, fand kaum Erwähnung. Folglich überraschte es wenig, dass immer wieder nach dem »umgekehrten Fall«, nämlich nach dem Sexismus der Frauen gegenüber den Männern gefragt wurde - was das komplette Unverständnis der patriarchalen Ursprünge von Sexismus demonstriert.

So wurde der Chauvimann zwar in die Defensive gedrängt, aber die Chance verpasst, eine Diskussion über Sexismus zu führen und darüber, welche Konsequenzen die Gesellschaft daraus ziehen muss - außer natürlich, dass sich die Männer »zurückhalten sollen«.

Debatte mit blinden Flecken

In der feministischen Blogosphäre tobt mittlerweile eine wütende Debatte über die Auslassungen und die Rhetorik der Sexismusdebatte. Denn eigentlich ist man doch mit vielen Themen schon weiter: Es ist schon ein Kunststück, die Sexismusdebatte zu führen, ohne über die Frauenquote in Wirtschaft und Politik zu sprechen, um Frauen in Machtpositionen zu heben und dem Gendergefälle entgegenzuwirken. Verwunderlich ist auch, wie es möglich ist, das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen oder den Niedriglohnsektor auszusparen, obwohl sie klare Beispiele von Benachteiligung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts sind - Sexismus.

Natürlich ganz geschwiegen wurde über diejenigen unter uns, die auf der Straße mit ganz anderen Sexismen konfrontiert sind. Denn die Subjekte, um die es ausschließlich ging, waren »der alte Lustmolch« und »das junge Ding«. Es wurde allein in der heterosexuellen Matrix diskutiert. Dass queere Menschen, Lesben und Schwule tagtäglich auf der Straße mit Gewalt konfrontiert sind und wie komplex die Sache bei nicht-weißen Frauen ist, fand erst gar keine Erwähnung. Nicht einmal zu einer Diskussion über sexistische Bilder in den Medien kam es, was vielleicht eine Chance gewesen wäre, individuelle Verhaltensweisen in einen allgemeineren Erklärungskontext zu setzen.

Aber der Stein kam ins Rollen und sowohl die TwitterInnen zu #aufschrei, die BloggerInnen sowie die vielfältigen mittlerweile sehr aktiven feministischen Zusammenhänge werden diese Konjunktur nutzen. Denn, dass überhaupt soviel Sensibilität für die Perspektive der Frauen gezeigt wurde, ist sicherlich auch ihr Verdienst.

In den letzten Jahren ist die feministische Szene in Deutschland enorm angewachsen, was sich in verschiedenen Formen zeigt - ob in feministischen Magazinen und Fanzines, den Aktivistinnen der neuen Medien und der Blogosphäre, den popfeministischen Ladyfesten, einer sehr lebendigen queeren Bewegung in Subkultur, Kunst und Universität oder durch sehr sichtbare und erfolgreiche Kämpfe. Zum Beispiel der großen Solidaritätsbewegung für die festgenommenen Pussy-Riot-Girls aus Russland, den mittlerweile sich global auf der Straße etablierten »Sluwalk« gegen sexuelle Belästigung und Gewalt und dem globalen V-Day am 14. Februar, an dem weltweit Frauen ihre kollektive Stärke und Solidarität auf die Straße brachten.

In dieser Generation wird heute Feminismus neu verhandelt und zwar nicht ohne produktive Reibungen: die einen wollen die Frauenquote, die anderen wollen sich nicht als Opfer stilisieren, andere sprechen lieber von Gender als von »Frau« und während manche als weiße, heterosexuelle Karrierealphamädchen beschimpft werden, gelten diejenigen, die Geschlechter als Konstruktionen auflösen wollen als zu akademisch. An dieser Konjunktur jedoch ist ein neues ermächtigtes (Frauen-)Selbstverständnis erkennbar, das zumindest »in Bewegung« ist und an dem der Mainstream, wie in der Sexismusdebatte deutlich geworden ist, auch nicht mehr vorbeikommt.

Linke AktivistInnen hingegen meldeten sich in der Debatte kaum zu Wort. Vielleicht war man beschämt, um das eigene Verhalten - denn, wenn das Streicheln meiner Wange statt von einem Manager von einem Genossen aus der Gewerkschaft kommt, macht es das nicht besser. Vielleicht war man beleidigt, dass der gehörte Aufschrei wieder nicht der eigene war. Die Altlasten des »Nebenwiderspruchs« spielen auch ihre Rolle - viele, so hörte ich, hatten »Wichtigeres« zu tun, als sich mit Sexismus zu beschäftigen.

Sicherlich gibt es auch ein Unbehagen bei der neuen Form von Öffentlichkeit der »Twittersubjekte«, die politisch so schwer in bekannte Schubladen von Organisierung und Bewegung einzuordnen sind. Und sicherlich haben die linken feministischen Diskurse teilweise einen ganz anderen Focus und beschäftigen sich weniger mit dem Alltag, den kulturellen oder verinnerlichten Widersprüchen. An den Mängeln und Leerstellen der Diskussion jedoch sieht man das Potenzial und dass es sich lohnt, in der Debatte des jugendlichen #aufschrei einzusteigen - nicht zuletzt, weil man diese neue Bewegung ernst nehmen muss.

Margarita Tsomou ist Mitherausgeberin des popfeministischen Missy Magazine.