Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de
ak bei facebook

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 581 / 15.3.2013

Erzählung statt Mythos

Diskussion Vom Umgang mit linker Geschichte

Von David Begrich

»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX)

In welchem Zustand sich linke Erinnerungspolitik befindet, lässt sich alljährlich im Januar in Berlin-Friedrichsfelde in Augenschein nehmen. In einer säkularen Fronleichnamsprozession pilgern dort tausende Menschen zu den Gräbern Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Es gibt Erbsensuppe, Würstchen und Ikonenbilder, rote Plastenelken und nostalgische Arbeiterlieder. Eine Mischung aus Kirmes und Gespensterzug. Nicht wenige TeilnehmerInnen reden über »Karl und Rosa«, als seien sie verstorbene nahe Verwandte. Ein Familientreffen. Stasi Alfred trifft auf Peter Jungautonom. Nach sechs Stunden ist das Defilee an den Gräbern vorbei. Bis zum nächsten Jahr. Dieses erstarrte Januarritual auf den Straßen Ostberlins ist Spiegel des Sprachverlusts der Linken nach dem Wegfall ihres geschichtlichen Narrativs in den Jahren nach 1989. Wie eingefroren wirken Sprache und Formen dieser linken erinnerungspolitischen Wallfahrt. Ihre BesucherInnen beschwören Liebknecht und Luxemburg als ihrer Zeit enthobene Heilige und erinnern die Geschichte der Novemberrevolution nur als die von der Reaktion um ihren Sieg gebrachte Arbeiterklasse. Die geschichtliche Erfahrung für heute zu übersetzen, scheint unendlich schwer.

Vermutlich treten dem AutorInnenkollektiv Loukanikos Anlässe wie das Liebknecht/Luxemburg-Gedenken vor Augen, wenn es für die Abkehr von linken Mythen wirbt. Was jedoch an deren Stelle treten soll, bleibt in dem Interview undeutlich. Mit keinem Wort reflektiert Loukanikos das Problem, dass nach 1989 ganze linke Wissenswelten auf den Grund des Vergessens herabsanken und deshalb so schwer zu heben sind, weil es an Orten mangelt, wo sie gehoben werden könnten. Die »kritisch-solidarische« Rede über »vergangene Kämpfe« setzt deren Kenntnis voraus. Das hört sich banal an, ist es aber nicht. Der Horizont dessen, was Linke als historischen Bezugsrahmen ansehen, ist weithin fragmentiert und eingeengt auf die perspektivische Wahrnehmung eigenen politischen Selbstverständnisses oder Aktionsfeldes.

Erzählung oder Narrativ meint nicht Märchenstunde

Zudem kennt Loukanikos offenbar keinen Unterschied zwischen Mythos und Erzählung. Das ist fatal. Mythen sind verzichtbar, schaden gar. Erzählungen jedoch geben einer politischen Strömung erst Sprache und Herkunft. Erzählung oder Narrativ meint nicht Märchenstunde, sondern die vermittelbare Rede davon, was Geschichte ist: keine Abfolge von Siegen oder Niederlagen, sondern ein offener Prozess.

Ein Versuch zu einem linken Narrativ sollte der Utopie einer anderen Gesellschaft dicht auf der Spur bleiben, ohne »Weil damals, so heute«-Schlüsse zu ziehen. Vielmehr gilt es, die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit linker Geschichte(n) sicht- oder hörbar zu machen. Diese Vielstimmigkeit muss den Abgründen und Verbrechen linker Geschichte ebenso Raum geben, wie unbestreitbaren Verdiensten und Erfolgen von Personen und Ereignissen. Dem Streit, wer oder was der Geschichte der Linken nicht, noch nicht oder nicht mehr zuzuordnen wäre, gälte es eine Multiperspektivität entgegenzusetzen, deren Interesse nicht das glatte Papier historischer Annalen ist, sondern die Spannung, die entsteht, wo scheinbar nicht zusammenpassende Erzählungen aufeinander treffen. Die Arbeit in der Unterwelt linker Geschichte ist erfolgreich, wo sie Fragmente von Utopie als Spur freilegt, ohne sie sogleich zu einem festen Bild fügen zu wollen.

Im Fachkabinett Geschichte meiner Schule gab es an der Wand einen Zeitstrahl. Auf diesem führte in tiefem Rot der Gang der Geschichte über die Entdeckung des Feuers, die Oktoberrevolution und das erfolgreiche Wohnungsbauprogramm der DDR geradewegs in den bildlich nicht mehr dargestellten Kommunismus. An seiner Stelle war die Wand schmutzig weiß. Im Herbst 1989 wurde der Zeitstrahl abgehängt. Die Geschichte habe sich erledigt, so jener Lehrer, der bis September des gleichen Jahres ein glühender Verfechter des Modells roter Zeitstrahl als alleinigem Verständniszugang zur Geschichte war. Als ihm eine Gruppe Schüler/innen zum Abschied Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte schenkten, reagierte er irritiert ratlos. Dort heißt es: »Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« (1) Der Determinismus des Zeitstrahls hatte sich in der Tat erledigt. Die Frage, was an die schmutzig-weiße Leerstelle treten könne, war hingegen offener als zuvor.

Rosa Luxemburg kennt jedeR. Die Geschichte jener Frau aber, der wir die Überlieferung ihrer Schriften verdanken, Mathilde Jacob, Sozialistin, Jüdin, Sekretärin und enge Vertraute Rosa Luxemburgs, die nicht nur ihre Schriften schmuggelte, ihr Wäsche und Äpfel in die Festung Wronke zu bringen vermochte, die revolutionären Tobsuchtsanfälle von Leo Jogiches ertrug und Paul Levi half, die Klageschrift gegen Rosa Luxemburgs Mörder zu verfassen, weiß kaum jemand zu erzählen, obwohl sie mehr über das 20. Jahrhundert sagt als jedes Lehrbuch. Gerade weil Mathilde Jacob keine Gedenkzüge gewidmet sind, sie sich der Eindeutigkeit politischer Zuschreibungen entzieht und ihr Leben die Spannungen des Jahrhunderts spiegeln, sollte ihr ein Gedächtnis zukommen, welches sich von den Zuschreibungen an Luxemburg/Liebknecht fernhält. Linkes historisches Bewusstsein erfährt eine ungeheure Erweiterung, wo es auf den Aufenthalt in scheinbar sicherem Gefilde verzichtet. Die Erkenntnisse der Strömungen kritischer Geschichtsschreibung der zurückliegenden 40 Jahre sind Beleg dafür.

»Die Toten haben einen leichten Schlaf«

Heiner Müller sah das fortwährende Gespräch mit den Toten für den Fortbestand historischen Gedächtnisses als unabdingbar: »Die Toten haben einen leichten Schlaf. Sie konspirieren in den Fundamenten. Ihre Träume sind es, die uns würgen.« (2) Ihn interessierten die Zwischenräume historischer Vorgänge, in denen die Dinge überhaupt nicht so entschieden waren, wofür wir sie später zu deuten gewohnt wurden. Es lohne sich, so Müller, in den historischen Zwischenräumen nach kontrafaktischen, politisch nicht intendierten Wirkungen historischer Vorgänge zu fahnden, die Auskunft über das Maß an Eigensinn geschichtlicher Akteure geben.

»Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte«, sang die Band Freundeskreis in den späten 1990ern und erinnerte damit in einer Zeit, in der unentwegt das Ende der Geschichte beschworen wurde, daran, wie Geschichte fassbar wird. Dass von ihrem Ende niemand mehr spricht und stattdessen der Horizont der Geschichte weithin aufgerissen ist, zeigt, welche Schätze und Abgründe jene erwarten, die sich nicht für Gewissheiten, sondern für Konflikte interessieren.

David Begrich ist Theologe und in der politischen Bildung tätig.

Anmerkungen:

1) Walter Benjamin: Werke und Nachlass: Kritische Gesamtausgabe Band 19. Über den Begriff der Geschichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.

2) Heiner Müller: Germania 3: Gespenster am toten Mann. Henschel Schauspiel Verlag, Berlin 1996

Literatur:

Heinz Knobloch: Meine liebste Mathilde: Erinnerungen an Mathilde Jacob. Buchverlag Der Morgen, Berlin (DDR) 1985.

Heiner Müller: Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche mit Alexander Kluge. Rotbuch Verlag, Hamburg 1996.

Emil Stock: Jakob Walcher: Gewerkschafter und Revolutionär zwischen Berlin, Paris und New York. Trafo Verlag, Berlin 1998

Oskar Negt/Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn, Band 2. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993.

Die Loukanikos-Debatte

Das AutorInnenkollektiv Loukanikos entwickelte seine Thesen zu linker Geschichtspolitik in dem Artikel »Im Zweifel für den Zweifel« (ak 570) und in dem Interview »Wir brauchen keine linken Mythen« (ak 578). In ak 580 nahm Jens Renner mit dem Beitrag »Antworten, die neue Fragen aufwerfen« darauf Bezug. Die Debatte wird fortgesetzt.