Freiraum in Gefahr
Fußballkulturen Fans, Gewalthysterie und Repression
Von Nicole Selmer
Es wehen Fahnen von Borussia Mönchengladbach, Hertha BSC und Hannover 96. Fans in allerlei bunten Trikots jubeln und stöhnen über eine vergebene Torchance. Ein Fan beißt krachend in eine Bratwurst. Es fällt ein Tor. Weiterer Jubel. Die Bilder sind untermalt von Einblendungen: »0% Rauchentwicklung«, »0% Schlagstock«, »0% Angst«. So sieht die deutsche Fußballwelt in einem Werbefilm verschiedener TV-Sender aus, der zum Rückrundenstart der Bundesliga im Januar präsentiert wurde. Der Spot heißt »100% Das Spiel - 0% Gewalt« und ist der aktuelle mediale Einsatz in einer seit mehr als einem Jahr geführten Debatte um Sicherheit und Fangewalt im deutschen Fußball. Mit der Realität hat er allerdings wenig zu tun, nicht nur weil Hertha BSC vorerst nicht in derselben Liga spielt wie Gladbach und Hannover.
Szenenwechsel: Ende Februar kündigt das Bundesverfassungsgericht an, voraussichtlich noch 2012 über eine Verfassungsbeschwerde gegen bundesweite Stadionverbote zu entscheiden. Im Fokus steht ein Stadionverbot »auf Verdacht« - der betreffende Fan des FC Bayern München war mit einer Gruppe unterwegs, aus der heraus es zu Auseinandersetzungen und Sachbeschädigungen kam; seine persönliche Beteiligung ist nicht nachweisbar.
Bei einem Auswärtsspiel von Hannover 96 Anfang Februar werden rund 400 Fans auf dem Weg nach Bremen auf einem Bahnhof von der Polizei mehrere Stunden eingekesselt, dann, wie die Polizei mitteilt, unter »kurzzeitigem Schlagstockeinsatz« zurück nach Hannover gebracht, wo ihre Daten erfasst werden. Die Fans wollten den von der Polizei vorgegebenen Anreiseweg zum Stadion umgehen und eine selbstorganisierte Route wählen. Zwei Böller werden auf dem Bahnsteig gezündet, Fans urinieren auf die Gleise - der Zugang zu einer Toilette ist ihnen während der Einkesselung auf dem Bahnhof untersagt.
Fußball als soziales Ereignis ist durchzogen von spezifischen Regeln, Verboten und Restriktionen. Stadien gelten als besonders gefährliches Terrain; die im Fußballumfeld begangenen Delikte werden von der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze gesondert erfasst. Setzt man ihre Deliktzahlen in einen Zusammenhang mit der Gesamtzahl der Spiele oder auch mit anderen Massenevents, zeigt sich allerdings: Es gibt wenige Orte, die so sicher sind wie ein Fußballstadion in Deutschland. Regelverstößen im Fußballkontext, zumal wenn sie live im frei empfangbaren Fernsehen zu sehen sind, wird jedoch eine immense Bedeutung zugeschrieben: Das Abbrennen von bengalischen Feuern wird zum bürgerkriegsähnlichen Zustand, ein Platzsturm jubelnder Fans zum Zivilisationsbruch und die - oft noch jugendlichen - AnhängerInnen pauschal zu »Chaoten« und »Kriminellen«.
Verkaufsfördernde Staatsfeinde
Besonders im Fokus sind hier die, die am lautesten und unbequemsten sind - die Ultras oder auch kurz »die Taliban der Fußballfans«. Auf diese Formel brachte es die Fernsehmoderatorin Sandra Maischberger in einer der zahllosen Talkshows zu den Gefahren des Stadionfußballs. Nach außen und innen prägt Ultras eine starke Kollektividentität. Die Kurve im Stadion gilt als Raum der Freiheit und der eigenen Regeln, der im Zweifelsfall auch gewaltsam verteidigt wird. Der Verein, das Spiel und die Mannschaft sind Befestigungspunkte des Ultra-Daseins, doch mit dem Schlachtruf »Gegen den modernen Fußball« gehen Ultras auch auf kritische Distanz zum Massenzuschauersport. Gleichzeitig sind sie selbst aus genau diesem kommerzialisierten Fußball hervorgegangen und liefern mit Choreografien, Gesängen und nicht zuletzt der verbotenen Pyrotechnik weitere atmosphärische Verkaufsargumente für das Produkt Bundesliga.
Die Grenzüberschreitungen, die Ultras bereits im Namen tragen, sind ein wichtiger Bestandteil ihres Selbstverständnisses. In der Interaktion mit Vereinen, Verbänden und Sicherheitsorganen ergeben sich hier ständig Eskalationen: Verbote und Regeln setzen - oft als willkürlich empfundene - neue Grenzen. Das führt zu neu definierten Delikten, neuen DelinquentInnen und damit zu einer weiteren Stigmatisierung von Fußballfans: »Ultras als Staatsfeind Nr. 1 .../Sorry, Al-kaida!« schrieben die Reutlinger Ultras der »Szene E« auf eines ihrer Transparente. Schlagstock und Pfefferspray, Einkesselungen ohne Anlass, das Herausgreifen von einzelnen Fans aus der Gruppe oder Stadionverbote - Maßnahmen, die als ungerecht erlebt werden, gibt es viele. Der Übergang von berechtigter Kritik am repressiven Umgang mit Fußballfans zu einer Selbstinszenierung des eigenen Rebellen- und Opfertums ist jedoch fließend.
Brandbeschleuniger und Kompromisslösungen
Zum Symbolthema der Konflikte zwischen Ultras und dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der Deutschen Fußball Liga (DFL), also der Vertretung der Profivereine, ist die Pyrotechnik geworden. Dabei schien sich genau hier die Möglichkeit einer besseren Verständigung aufzutun. Die vereinsübergreifende Kampagne »Pyrotechnik legalisieren, Emotionen respektieren« wollte Bedingungen für ein legales Abbrennen schaffen und in lokalen Pilotprojekten erproben. Die Gespräche mit DFB und DFL wurden jedoch im Herbst 2011 von den Verbänden einseitig für beendet erklärt. Das Pyrotechnikverbot ist nicht verhandelbar - so lautet seitdem das eisern vorgetragene Dogma von Verbänden und Vereinen, das von Teilen der Ultraszenen genauso eisern ignoriert wird.
Ob Pyrotechnik wirklich unverzichtbarer Teil von Fankultur ist, spielt dabei inzwischen genauso wenig eine Rolle wie die tatsächliche Gefahr von hochgehaltenen Fackeln. Der brennende Bengalo ist längst zu einer Schraube geworden, an der beide Seiten beliebig drehen können, um neue Eskalationen herbeizuführen: Der DFB belegt Vereine für das Abbrennen von Pyrotechnik mit immer höheren Geldbußen oder auch Spielen ohne Zuschauer, die Vereine reagieren mit Stadionverboten und flächendeckenden Sanktionen wie Zuschlägen für Tickets im Stehplatzblock, gesonderten (Nackt-)Kontrollen für bestimmte Fangruppen oder mit der rechtlich zumindest fragwürdigen Umlegung von Verbandsstrafen auf einzelne AnhängerInnen. Die Antwort der Fans ist nicht selten ein »Jetzt erst recht«: noch mehr Feuer in der Kurve.
Die Vereine und Verbände haben sich dabei ohne Not in die Enge treiben lassen: Das Handling der Pyrotechnikgespräche war unprofessionell, und dem von InnenpolitikerInnen und PolizeigewerkschafterInnen vorgetragenen Populismus wurde kaum etwas entgegengesetzt. Statt fadenscheinige Behauptungen einer neuen Qualität von Fußballgewalt oder Forderungen nach einem Stehplatzverbot argumentativ zu entkräften, beugten sich die Vereine dem politischen und medialen Druck. Im Dezember 2012 verabschiedete die DFL das Konzeptpapier zum »Sicheren Stadionerlebnis«. Ein erster Entwurf war nicht nur von Fanorganisationen, sondern auch von Vereinen wie Union Berlin, Eintracht Frankfurt oder dem HSV heftig kritisiert worden. Viele der Einwände - z.B. gegen sogenannte Nacktkontrollen, gegen eine aufoktroyierte Selbstverpflichtung aller Fanklubs zum Verzicht auf Pyrotechnik, gegen Kollektivstrafen oder die Forderung nach umfassenden Ermittlungsauskünften der Polizei an die Verbände - flossen in die verabschiedete revidierte Fassung ein. Das Grundproblem blieb jedoch bestehen: Das Konzept »Sicheres Stadionerlebnis« hat das Problem, das es zu lösen vorgibt, erneut verschärft.
Ist das noch Ultra?
Schwer ist es für die Fanszenen, eine nach außen einheitliche Position herzustellen, schließlich sind Rivalitäten doch ihr konstitutives Merkmal. Dennoch ist dies in den vergangenen Jahren über weite Strecken gelungen: von einer großen Fandemo im Herbst 2010 über die Bildung der Pyroinitiative und einen Fankongress im Januar 2012 bis zu den Protesten gegen das DFL-Papier. Die Fans meldeten sich mit der Initiative »12:12« Ohne Stimme keine Stimmung« eindrucksvoll zu Wort, und zwar indem sie die Stimmungsproduktion im Stadion niederlegten und 12 Minuten schwiegen. Die Massenwirkung hat jedoch ihren Preis. Für einen möglichst breiten Protest hat sich »12:12 die Unterstützung von rechten und rechtsoffenen Gruppen nicht ausdrücklich verbeten und damit manche klar antirassistisch positionierten Fans vor den Kopf gestoßen.
Von anderer Seite hingegen wird die von Fanorganisationen immer wieder signalisierte Dialogbereitschaft kritisiert: Das Szenesprachrohr Blickfang Ultra veröffentlichte im November 2012 einen mehrseitigen Kommentar, in dem die Bereitschaft zu Verhandlungen mit Verbänden und Vereinen, zu Interviews und Talkshowauftritten als Verrat am Geist der Subkultur Ultra kritisiert wird. Statt eines »Aufbäumens gegen staatliche Repressionen« habe man sich »zunehmend mit dem millionenschweren Fußballcasino« arrangiert, um sich im auf Profitmaximierung ausgerichteten System Fußball wenigstens die Illusion von Freiheit zu bewahren. Verständigungen über kontrolliertes Abbrennen von Pyrotechnik, Absprachen mit Polizei und Verein über den Marsch zum Stadion oder ein erklärter Gewaltverzicht - das ist für Blickfang Ultra reformistische Anpassung und nicht der revolutionäre Geist, der die Ultrabewegung kennzeichne.
Gegen die Perspektive weiterer Kompromisse und Zugeständnisse steht der Widerstand und damit letztlich der Untergang »mit wehenden Fahnen«. Eine Zerschlagung der aktiven Fanszene müsse jedoch nicht das Ende der Ultrakultur bedeuten. Blickfang Ultra ruft dazu auf, das Potenzial »als gesellschaftskritische Kraft« zu nutzen und den Kampf gegen staatliche Repression außerhalb der Stadien fortzusetzen. Damit wären die Ultras wieder dort angekommen, wo ihre Bewegung in den 1960er Jahren in Italien ihren Anfang nahm: auf der Straße.
Nicole Selmer lebt in Hamburg. Sie schreibt zu Fußball, Fankultur und Gender, u.a. für die Fußballmagazine ballesterer und Transparent.