Happy Birthday Hartz-Reform
Wirtschaft & Soziales Der »Amazon-Skandal«: deutsches Dumping für Europa
Von Jan Ole Arps
»Meine Haut ist kaputt, ich hatte viele Blasen an den Füßen. Nach zwei Wochen konnte ich nicht mehr laufen und sollte ins Krankenhaus.« Silvina sieht müde aus. Es liegt an der Schichtarbeit in einem Warenlager, bei der sie ständig umher laufen muss. Aber nicht nur. Die gelernte Kunstlehrerin arbeitet fern von zu Hause, wo ihr Mann und die Kinder leben, drei oder vier Monate lang. Die Bezahlung ist schlecht, das Unternehmen verfügt über die ArbeiterInnen wie über SklavInnen. Untergebracht sind sie in den beengten Zimmern einer Wohnanlage irgendwo im Niemandsland, 30 Kilometer vom Arbeitsort entfernt, bewacht von einem misstrauischen Sicherheitsdienst. Die einzige Verbindung zu ihrem Arbeitsplatz sind ein paar Busse, die nur zu Schichtbeginn und -ende fahren. Wenn ein Bus voll ist oder nicht fährt, haben die ArbeiterInnen Pech gehabt und müssen oft stundenlang in der Kälte warten. Ein Fahrer sagt: »Die bekommen teilweise so wenig Geld, die betteln um Kaffee in der Kantine.«
Die Szenen stammen nicht aus einer Dokumentation über WanderarbeiterInnen in Chinas Weltmarktfabriken, sondern aus dem Fernsehbericht »Ausgeliefert« über ein Lager des Onlineversandhauses Amazon in Bad Hersfeld. Silvina ist Spanierin, eine von 5.000 LeiharbeiterInnen aus ganz Europa, mit denen Amazon im Weihnachtsgeschäft die Auftragsspitzen bewältigte. Der Bericht der FilmemacherInnen Diana Löbl und Peter Onneken rüttelte im Februar die deutsche Öffentlichkeit auf.
Die Zustände bei Amazon mögen drastisch sein, aber sie sind kein Einzelfall. Das Beispiel Amazon ist unter anderem deshalb interessant, weil sich hier zwei Trends der letzten Jahre auf anschauliche Weise verbinden: der verstärkte Einsatz von Leiharbeit und von ArbeiterInnen aus den krisengeschüttelten Ländern Europas. Man könnte auch sagen: Bei Amazon geben sich die rotgrüne Arbeitsmarktpolitik und die schwarzgelbe Krisenpolitik die Hand.
In den letzten Wochen konnte man zahlreiche Berichte über die vielen hochqualifizierten SüdeuropäerInnen lesen, die angesichts der Perspektivlosigkeit in ihren Heimatländern nach Deutschland migrieren. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) lobte sie als kreative Frischzellenkur für den deutschen Arbeitsmarkt: »Jeder gewinnt«, schwärmte sie in der Spiegel-Titelgeschichte vom 25. Februar. »Die jungen Leute, weil sie im Beruf durchstarten können, unsere Wirtschaft, weil Fachkräfte auf offene Stellen nachströmen.«
Die »neuen Gastarbeiter« (Spiegel) - alles ÄrztInnen, ArchitektInnen, Ingenieure? Silvina, die Kunstlehrerin, taucht in diesem Szenario nicht auf. Das ist kein Zufall. Die europäischen LeiharbeiterInnen, die einige Monate von deutschen Zeitarbeitsfirmen an andere Unternehmen vermittelt werden, erfasst keine Statistik.
Auf etwa 100.000 schätzt der DGB-Arbeitsmarktexperte Johannes Jakob ihre Zahl - bei ca. 900.000 LeiharbeiterInnen insgesamt. Hinzu kommen diejenigen, die von Verleihfirmen aus dem europäischen Ausland vermittelt werden, für Subunternehmen aus anderen EU-Ländern in deutschen Firmen arbeiten (z.B. per Werkvertrag) oder als Soloselbstständige ihr Glück versuchen.
Wer sind die »neuen Gastarbeiter«?
Über 500.000 EU-BürgerInnen kamen laut Statistischem Bundesamt in den ersten drei Quartalen 2012 nach Deutschland, die Mehrzahl aus Osteuropa. Zieht man die Fortzüge ab, leben Ende 2012 geschätzt 280.000 EU-BürgerInnen mehr in der Bundesrepublik als noch ein Jahr zuvor. Unter ihnen sind viele AkademikerInnen. Doch längst nicht alle arbeiten in Jobs, die ihren Qualifikationen entsprechen. (Wäre sie statistisch registriert, wäre die Amazon-Leiharbeiterin Silvana als Akademikerin gezählt worden.) Zudem schuften gerade die, die nur einige Monate bleiben, mehrheitlich in schlecht bezahlten Jobs, zum Beispiel in der Landwirtschaft (Saisonarbeit). Und drittens erfassen die »Zuwanderungsstatistiken« EU-BürgerInnen, die von einer Firma mit Sitz im Ausland nach Deutschland geschickt werden, gar nicht.
Gerade die Zahl dieser »entsandten Beschäftigten« hat aber seit Einführung der EU-Dienstleistungsfreiheit im Mai 2011 massiv zugenommen. Seitdem können Unternehmen und Selbstständige aus acht mittel- und osteuropäischen Ländern (und mit Einschränkungen aus Bulgarien und Rumänien) Leistungen in allen EU-Mitgliedstaaten anbieten - und ihre eigenen Beschäftigten mitbringen, die (mit einigen Einschränkungen) zu den Bedingungen des Herkunftslandes arbeiten.
Wie viele Menschen genau unter solchen Bedingungen »im Beruf durchstarten« (Ursula von der Leyen), weiß man mangels offizieller Erfassung nicht. Die DGB-Studie »Grenzenlos faire Mobiliät?« von September 2012 kommt zu dem Schluss, dass insbesondere in Schlachtereien, in der Fleischverarbeitung und im Baugewerbe jeweils 50.000 oder mehr entsandte Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa arbeiten. Die Arbeitsbedingungen sind oft extrem, die Löhne liegen nicht selten unter fünf Euro pro Stunde. Schlachten zum Beispiel ist in Deutschland dank solcher Methoden inzwischen so billig, dass zahlreiche Großschlachtereien ihre Produktion aus anderen Ländern hierher verlagern.
Dabei gewinnt nicht »jeder«, wie Arbeitsministerin von der Leyen meint, sondern vor allem deutsche Unternehmen, die - neben den dringend benötigten gut ausgebildeten »Fachkräften« - billige Arbeitskräfte bekommen, die billige Dienstleistungen und Konsumgüter herstellen, die wiederum an die übrigen Beschäftigten verhökert werden, die sich angesichts sinkender Reallöhne teurere Produkte kaum leisten könnten.
Womit wir bei der rotgrünen Arbeitsmarktreform im Allgemeinen und der Leiharbeit im Besonderen wären. Seit den Hartz-Reformen der Regierung Schröder (SPD) boomt der Niedriglohnsektor. (Siehe Seite 6) Auch die Leiharbeit ist in den vergangenen zehn Jahren stark gewachsen. Im Jahr 2003 waren knapp 300.000 Menschen in Deutschland als LeiharbeiterInnen beschäftigt, heute sind es gut 900.000 - oder drei Prozent der Erwerbstätigen. Dieses Wachstum ist ein direktes Ergebnis der Hartz-Reformen, die Beschränkungen für Leiharbeit gelockert haben.
Die Karriere der Leiharbeit
35 Prozent der Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten greifen laut Deutschem Gewerkschaftsbund regelmäßig auf Leiharbeit zurück. Einerseits um wie Amazon flexibel auf Auftragsschwankungen zu reagieren und Beschäftigte schnell wieder loszuwerden: Knapp die Hälfte der ZeitarbeiterInnen bleibt deshalb weniger als drei Monate im entleihenden Unternehmen, wie ein Bericht der Bundesagentur für Arbeit von Januar 2013 zeigt. Und nur etwa jedeR siebte ZeitarbeiterIn wird übernommen, das ergab eine Befragung des Instituts der deutschen Wirtschaft vom Frühjahr 2011. (Die Übernahmequote soll sich aber laut Auskunft des Mittelstandsbarometers des Interessenverbands deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) zuletzt deutlich verbessert haben.)
Andererseits ist Leiharbeit beliebt, weil sie billig ist. Zwar haben LeiharbeiterInnen einen Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung mit den Stammbeschäftigten in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Löhne. Doch nur wenn Tarifverträge nichts anderes regeln. Jahrelang hatten Dumpingtarife arbeitgebernaher Christlicher Gewerkschaften Niedrigstlöhne für LeiharbeiterInnen festgeschrieben. Als das Bundesarbeitsgericht dieser Praxis vor gut zwei Jahren einen Riegel vorschob, bedeutete das für viele Leihbeschäftigte nur eine minimale Verbesserung. Denn statt gleicher Bezahlung erhalten sie nun den etwas höheren, aber noch immer niedrigen Mindestlohn für Zeitarbeit, den der DGB mit Leiharbeitsverbänden abgeschlossen und den die Bundesregierung für allgemeinverbindlich erklärt hat: mittlerweile 8,19 Euro im Westen und 7,50 Euro im Osten. Im Oktober stehen neue Verhandlungen an.
Auch wenn nicht alle ZeitarbeiterInnen so wenig verdienen, liegen die Löhne deutlich unter denen von Festangestellten mit gleicher Qualifikation. In Westdeutschland erhalten ZeitarbeiterInnen 47 Prozent weniger, in Ostdeutschland 36 Prozent. Wer sich einen Eindruck davon verschaffen will, wie sich schlechte Bezahlung, fehlende Übernahmeperspektive und die Hire-and-Fire-Funktion solcher Jobs auf die Psyche der Betroffenen auswirken, braucht bloß einen Blick in das »Schwarzbuch Leiharbeit« der IG Metall zu werfen, für das die Gewerkschaft 1.000 LeiharbeiterInnen hat befragen lassen. Die Befragten bezeichnen sich darin selbst als »Sklaven«, »Menschen zweiter Klasse« oder »Leihgurken«.
Dass die Niedrigstlöhne aus dem deutschen Arbeitsmarkt gar nicht mehr wegzudenken sind, zeigt die Reaktion mancher Betriebe auf den Zeitarbeitmindestlohn, der seit Anfang 2012 gilt. Seitdem häufen sich Berichte über den Einsatz von Werkverträgen - in Schlachtbetrieben, in der Metallindustrie oder im Supermarkt. Dabei schließt das Unternehmen entweder einen Werkvertrag mit einem Subunternehmen über eine bestimmte Leistung, etwa das Regaleeinräumen oder die Reinigung. Das Subunternehmen lässt diese Leistung dann von eigenen Angestellten ausführen - die weniger erhalten als den Leiharbeitsmindestlohn. Oder das Warensortieren wird gleich an selbstständige WerkvertraglerInnen vergeben - die den Putzjob als Freelancer erledigen.
Werkverträge - der neue Star am Dumpinghimmel
Über die Verbreitung von Werkverträgen gibt es keine offiziellen Angaben, und obwohl sich das Arbeitsministerium besorgt über die Entwicklung äußert, lehnt es eine Meldepflicht für Unternehmen ab. Ungefähre Zahlen liefern wieder gewerkschaftliche Schätzungen. So ergab eine Umfrage der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) von Februar 2012, dass knapp acht Prozent der Beschäftigten in der Ernährungsindustrie WerkvertraglerInnen waren - Tendenz steigend.
All diese Entwicklungen illustriert der »Amazon-Skandal«. Er ist, wenn man so will, die Geburtstagstorte für Gerhard Schröders Agenda 2010, die dieser Tage ihren zehnten Geburtstag feiert. Der deutsche Sparkurs für Europa hat das Billiglohnmodell nun europäisiert. Indem er die Arbeitsmärkte der europäischen Krisenstaaten verwüstet hat, wirkt er auch als Arbeitskräfteflatrate für deutsche Unternehmen - bei Fachkräften wie im Billigsegment.
Und Amazon? Das Unternehmen hat sich inzwischen vom rechtslastigen Sicherheitsdienst und auch von der Firma, die für die Unterbringung und den Transport der LeiharbeiterInnen zuständig war, »getrennt«. Ansonsten ist alles beim Alten. Amazon macht weiter Profite als größter und günstigster Onlineversand. So ein kleiner Medienskandal ist schnell wieder vergessen. Silvana und die anderen porträtierten ArbeiterInnen sind längst wieder zu Hause. Im Weihnachtsgeschäft 2013 werden neue kommen.