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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 582 / 19.4.2013

Deutsche Familientherapie

Geschichte Der überschwänglich gelobte ZDF-Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« propagiert die Versöhnung mit der NS-Tätergeneration

Von Jens Renner

Von einem »neuen Meilenstein deutscher Erinnerungskultur« schwärmt Der Spiegel, und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher bejubelt »eine neue Phase der filmisch-historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus«. Die Fernsehmagazine Hör Zu und Gong vergaben jeweils die Höchstwertung: »großartig« bzw. »Spitzenleistung«. Das fast einhellige Lob der deutschen Medien gilt dem ZDF-Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« (UMuV), der an drei Abenden Mitte März bis zu 7,63 Millionen Menschen (Marktanteil mehr als 24 Prozent) vor die Fernsehschirme lockte. Sechs Jahre dauerte allein die Arbeit am Drehbuch, 14 Millionen Euro hat die Produktion insgesamt gekostet.

Das war gut angelegtes Geld, finden die allermeisten KommentatorInnen, weil es gelungen sei, spannende Unterhaltung und geschichtspolitische Message in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Drehbuchautor Stefan Kolditz beschreibt, wie er an den Stoff herangegangen ist: »Ohne billige Anklage. Ohne falsche Selbstgerechtigkeit. Ohne moralische Überlegenheit.« In etlichen Kritiken werden die »Grautöne« gelobt.

Es ist allerdings ein Grau, das Farben verschwinden lässt. Vor allem die Farbe Braun. Von den ProtagonistInnen, fünf eng befreundeten jungen Menschen zwischen 19 und 21, lässt niemand irgendwelche Sympathien für den Nationalsozialismus erkennen. Wilhelm ist Leutnant der Wehrmacht und will nur im Krieg seine Pflicht tun, sein jüngerer Bruder Friedhelm hasst den Krieg, Viktor ist Jude und gegen die Nazis, seine Freundin Greta möchte als Sängerin Karriere machen, und Charlotte interessiert sich nur für Wilhelm, den sie heimlich liebt.

Das sorglose Leben junger Leute im NS-Staat

In einer Berliner Kneipe feiern sie Abschied, weil Wilhelm und Friedhelm in den Krieg müssen; Charlotte hat sich als Krankenschwester freiwillig zum Frontdienst gemeldet: »Sie sind jung und haben den Kopf voller Ideen, voller Pläne. Die Welt liegt ihnen zu Füßen. Und vom Leben und seinen Verheißungen, so glauben sie, trennen sie nicht mehr als ein paar Monate. Schon an Weihnachten nämlich wird er beendet sein, der neue Krieg im Osten, versteht sich: Berlin im Juni 1941, wenige Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion.« So steht es in der offiziellen Ankündigung der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. Offensichtlich haben sich zumindest vier dieser sympathischen, jungen Menschen vollständig gegen die Außenwelt abgeschottet. Haben sie nichts mitbekommen von der Verfolgung der Juden, die ja auch ihren Freund Viktor und dessen Eltern betrifft? Hatte auch der am 1. September 1939 begonnene Krieg keinerlei Auswirkungen auf ihre Träume vom »Leben und seinen Verheißungen«? Offensichtlich nicht.

Dass die vier für die Generation der um 1920 Geborenen alles andere als charakteristisch sind, ist indes kein »Fehler«, sondern Absicht: Wären sie, wie die allermeisten dieser Generation, vom NS-Staat und seinen Ideologie geprägt, dann wäre eine Identifikation mit ihnen für die allermeisten ZuschauerInnen von vornherein unmöglich. Die aber muss sein, damit die nachgeborenen Deutschen Verständnis aufbringen: Es sind »die Umstände«, die normale Menschen zu TäterInnen werden lassen: Wilhelm erschießt einen Politkommissar der Roten Armee und lässt Zivilisten in ein Minenfeld treiben, Friedhelm ermordet auch Frauen und Kinder, Charlotte denunziert eine Jüdin. Greta hat Sex mit einem Gestapo-Mann, zunächst, um Viktor zur Flucht ins Ausland zu verhelfen, dann aber vor allem, um ihre Karriere als Sängerin voranzubringen.

So tun die anfangs Guten Böses, aber nicht nur - es sollen ja möglichst widersprüchliche Charaktere gezeigt werden. Wilhelm desertiert, wird gefasst, zum Tode verurteilt, begnadigt und in eine Strafkompanie gesteckt, deren sadistischen Anführer er erschießt. Friedhelm opfert sich, um fanatische Hitlerjungen zu retten, die in aussichtsloser Lage weiterkämpfen wollen. Charlotte verpasst die Evakuierung ihres Lazaretts, weil sie die sowjetische Schwesternhelferin Sonja nicht allein lassen will. Greta äußert öffentlich Zweifel am »Endsieg«; sie wird wegen Wehrkraftzersetzung eingesperrt und kurz vor Kriegsende hingerichtet.

Viktor erscheint als die einzige durchgehend positive Figur. Er kann aus einem Deportationszug fliehen, schließt sich einer polnischen Partisanengruppe an und rettet jüdische Deportierte, die von den antisemitischen Polen ihrem Schicksal überlassen werden sollen, vor dem sicheren Tod. Sein eigenes Leben aber verdankt er Friedhelm, der ihm bei der Partisanenjagd plötzlich gegenübersteht: Statt Viktor tötet Friedhelm einen SS-Mann. Am Ende überleben Wilhelm, Charlotte und Viktor. Sie treffen sich in der Berliner Kneipe, in der sie 1941 auf ein schnelles und siegreiches Kriegsende getrunken hatten. Auch im Mai 1945 ist noch eine Flasche Schnaps da. Aber Deutschland liegt in Trümmern, und die Überlebenden sind traumatisiert.

Friedhelm, der Sensible, der zum Killer mutiert, hat es von Anfang an gewusst: »Der Krieg weckt das Schlechteste in uns.« Ein beliebiger Antikriegsfilm ist UMuV aber nicht. Er zeigt sehr wohl Verbrechen deutscher Soldaten an der Zivilbevölkerung, und das auf sehr realistische Weise. TäterInnen sind aber auch die anderen, etwa die polnischen PartisanInnen, die als mindestens ebenso extreme AntisemitInnen dargestellt werden wie die SS-Offiziere. Eine grobe Geschichtsfälschung, die zu Recht in der polnischen Presse zurückgewiesen wurde. Für Teile des Publikums könnte sogar der Jude Viktor als schuldig erscheinen: Er lockt deutsche Soldaten in einen Hinterhalt - mindestens ein als Zeitzeuge vom ZDF befragter Wehrmachtssoldat beklagt in der begleitenden Dokumentation die »Heimtücke« der Partisanen. Eindeutig zu den Tätern gezählt werden die Sowjetsoldaten. Sie sind - als gefährlicher Feind - meist nur von ferne zu sehen; erst gegen Ende des Films bekommen sie Gesichter: als Vergewaltiger deutscher Frauen.

Kein Wunder, dass UMuV auch hier, wie von den MacherInnen beabsichtigt, als »Sprechanlass« funktioniert. In der begleitenden ZDF-History-Sendung kommen gleichberechtigt diverse AkteurInnen zu Wort: der Wehrmachtssoldat, die Zwangsarbeiterin, die im Deutschen Reich untergetauchte Jüdin. Direkt auf den Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann folgt die von Rotarmisten vergewaltigte, ehemalige Krankenschwester Ruth Trinks. Nach ihren Erinnerungen befragt, antwortet sie: »Wütend war man, warum muss dir so was passieren, es ging ja vielen so.« Aus dem Off folgt der zusammenfassende Kommentar: »Es waren unsere Mütter, unsere Väter«. Film aus, Ende der »Dokumentation«.

Noch schlimmer ging es in den Talkshows zu, in denen das Thema aufgegriffen wurde. Die Moderatorin Maybrit Illner etwa fühlte sich angesichts allzu penetranter Klagen zu der Aussage veranlasst, die Deutschen hätten »nicht nur« gelitten, sondern auch Leid zugefügt! Bei Illners Kollegen Markus Lanz war es der geschichtspolitische Hardliner Arnulf Baring, der das volkspädagogische Lernziel auf den Punkt brachte: »Ganz großartig ist ja in dem Film, dass man sieht, dass die ganze Teilung, von der wir seit Jahrzehnten reden, nämlich zwischen Opfern und Tätern, dass die nicht hinhaut.«

Moralisch integer durch den Krieg gekommen

Und da »seit Jahrzehnten« die Deutschen die Täter sind, dürfen sie jetzt auch mal ausgiebig als Opfer dargestellt werden. Lange Sequenzen des Films spielen in einem deutschen Lazarett, realistisch dargestellt mit sehr viel Blut, Verstümmelungen und Schreien der Verwundeten, die auch mit immer lauterer Radiomusik nicht übertönt werden können: schreckliches, sinnloses Leiden. Sicher - es kommen auch Deserteure vor, ZwangsarbeiterInnen, Deportierte, KollaborateurInnen, ein patriotischer deutscher Jude, eine Volksgenossin, die sich in seiner ehemaligen Wohnung breitmacht, deutsche Flüchtlinge.

Als gelte es eine Liste von Themen und AkteurInnen abzuarbeiten, wird Diverses erwähnt, aber auch weitgehend beziehungslos nebeneinanderstellt. Damit ist der Film immer noch differenzierter als die folgende deutsche Debatte, in der es fast nur noch um die Versöhnung mit den Tätern geht. »Familiengespräch« nennt sich diese therapeutische Übung, und sie soll - siehe die Regieanweisung des ZDF - bitte ohne »billige Anklage, falsche Selbstgerechtigkeit und moralische Überlegenheit« vonstattengehen.

Als Beispiel zur Nachahmung präsentiert Der Spiegel (25.3.13) auf drei Seiten die Familie Fausten: den pensionierten Gymnasiallehrer Heinz Otto Fausten (92) und seinen Sohn Peter (60). Der Vater hat getötet, Sowjetsoldaten »mit seinem MG niedergemäht«. »Am Ende seines Kriegs, bis zu dem Moment, als ihm ein Granatsplitter die Kniekehle aufreißt und ihn ein Bein kostet, werden es Dutzende sein. Vielleicht auch Hunderte.« Belasten tut ihn aber nur der qualvolle Tod eines Kameraden, dem er nicht helfen konnte: »Nein, er habe nichts getan, was er heute bereuen müsste, sagte Heinz Otto Fausten, Panzergrenadiere waren eine Angriffstruppe, die Gräuel im Hinterland habe er deshalb nicht gesehen.« Da ist er wieder, der »saubere« Krieg der Deutschen Wehrmacht. Kein Gedanke daran, dass die Wehrmacht die »Gräuel im Hinterland« erst ermöglicht hat und häufig daran beteiligt war.

Und der Sohn, der dem Vater früher, »1968 und in den Jahren danach«, mit Fragen und Vorwürfen zugesetzt hat, sagt heute: »Ich habe keinen Heiligen neben mir sitzen, aber ich habe den Eindruck, dass mein Vater moralisch integer durch den Krieg gekommen ist.« So stellen sich Der Spiegel, das ZDF und die übrigen deutschen »Meinungsführer« die innerfamiliäre »Vergangenheitsbewältigung« vor!

Die zaghaften Deutschen und ihr ewiges Trauma

Der Spiegel will indes noch mehr, wie die Ausgabe vom 25. März zeigt. »Das ewige Trauma. Der Krieg und die Deutschen« lautet das Thema. Die obere Hälfte des Titelbildes zeigt in Schwarzweiß deutsche Opfer 1945: einen völlig verängstigten Hitlerjungen, Flüchtlinge, Kriegsgefangene und im Hintergrund das zerstörte Berlin. Im unteren Teil, in Farbe, nähern sich dem Betrachter schwer bewaffnete Bundeswehrsoldaten im Kampfeinsatz. Der Krieg und die Deutschen. Naive Gemüter könnten auf die Idee kommen, Der Spiegel propagiere - mit selektivem Verweis auf die eigenen Opfer im Zweiten Weltkrieg - Pazifismus oder zumindest Zurückhaltung bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Nichts falscher als das. Zwei Artikel und ein Interview sind der generationenübergreifenden Erinnerungskultur gewidmet, die durch UMuV neu thematisiert wurde. Der Dreiteiler bietet aber auch den Anlass für den sechs Seiten langen Aufmacher. »Die zaghaften Deutschen« ist der Text überschrieben, der Teaser geht so: »Seit 20 Jahren ist die Bundeswehr an Kampfeinsätzen im Ausland beteiligt. Schrittweise gewöhnte die rot-grüne Regierung das Land an eine neue Normalität. Doch nun ist ausgerechnet Schwarz-Gelb dabei, das Erreichte wieder zu verspielen.«

Deutschland erlebe »einen Rückfall in den Pazifismus«, es müsse seine »zögerliche Haltung« (wie im Fall Libyen und Mali), seine »militärischen Selbstzweifel« endlich überwinden usw. Zwar könne Deutschland »aus historischen Gründen seine Skrupel gegen Militäreinsätze nie ganz und gar überwinden«, und das sei auch gut so. An den Schluss des Artikels stellen die vier AutorInnen dann aber ein Zitat des ehemaligen französischen Außenministers Hubert Védrine; dessen »Botschaft an Deutschland« laute: »Habt keine Angst vor euch selbst, die Geschichte ist lang her.« In diesen Zusammenhang gestellt, erscheint UMuV - und mehr noch die begleitende geschichtspolitische Medienkampagne - als wichtiger Beitrag zur deutschen Militärpolitik: Wir versöhnen uns mit den Nazi-Tätern, lassen die (übertriebenen) Skrupel beiseite und besiegen so »das ewige Trauma«, das uns am Kriegführen hindert. UMuV zeigt, da hat Frank Schirrmacher ganz recht, »was öffentlich-rechtliches Fernsehen vermag« - wenn die deutschen »Meinungsführer« alle mitmachen und ihre Leitmedien in den Dienst der gemeinsamen nationalen Sache stellen.

Kritisches zum Weiterlesen:

Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002.

Hannes Heer: »Hitler war's«. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Aufbau-Verlag, Berlin 2005.