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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 582 / 19.4.2013

Den Staat diskutieren

Krisenproteste Die linke Debatte über konstituierende Macht drückt sich um die Frage staatlicher Herrschaft

Von Frieder Otto Wolf

Die neueste Positionsbestimmung von Michael Hardt und Antonio Negri in ihrer Schrift »Demokratie« ist durch eine Ambivalenz geprägt, die auch in Dario Azzellinis Beitrag in ak 581 sichtbar wird. (1) Azzellini schreibt, dass im Zentrum eines konstituierenden Prozesses »keineswegs eine neue Verfassung« stehen müsse, »sondern die kollektive Konstituierung von Alternativen«. Sollte sich dabei ergeben, »dass bestimmte Positionen in Verfassungen Einzug finden« - wie etwa ein Verbot der Privatisierung von Wasser, Bildung oder Gesundheitsversorgung etc. -, dann sei dies »zu begrüßen«. Der »permanente konstituierende Prozess« ginge »indes weiter.«

Verfassungen sind aber unter den herrschenden Verhältnissen immer auch Staatsverfassungen. Das bleibt auch bei Hardt/Negri unaufgearbeitet: Einerseits konzipieren sie die Multitude als ein politisches Großsubjekt, das mit der bestehenden und bisherigen Politik in ihrer staatsförmigen Prägung einfach gar nichts zu tun hat; andererseits sprechen sie von einer »Verfassung für das Gemeinsame« (S. 57-112) und knüpfen dabei ausdrücklich an »Strömungen in der Verfassungstheorie der Vereinigten Staaten« an. (S. 124)

Die Frage nach dem Staat bleibt jedoch unausgeführt und damit ambivalent. Ihre wichtige Einsicht ist zwar, dass konstituierende Prozesse eben nicht wirklich »permanent« sind, die »konstituierende Gewalt« nicht beständig bei sich bleiben kann, sondern immer wieder als Zwischenergebnis konstituierte Verhältnisse hervorbringen muss, also zugespitzt eine Verfassung bzw. eine Verfasstheit. Das kann einerseits radikal gelesen werden: es geht ihnen darum, ein politisches Gemeinwesen zu konstituieren, das die herrschaftlich verselbständigte Form des Staates durchbrochen und hinter sich gelassen hat. Sie könnte aber andererseits auch (vermutlich missverständlich) ganz moderat und traditionell im Sinne der allgemeinen Staatslehre der deutschen Juristen so gelesen werden: der in seiner inneren Logik »außerstaatliche« konstituierende Prozess muss immer wieder in Formen der Staatlichkeit aufgehoben werden, die dann jeweils in einer erneuerten Staatsverfassung fixiert werden. Das ist damit aber keine kleine Differenz, sondern ein Unterschied, in dem es »um alles« geht.

Hardt und Negri überspringen die wirkliche Bewegung spekulativ, indem sie umstandslos die Notwendigkeit der Verfassungsfrage aus einzelnen avancierten Bewegungsansätzen begründen. Und sicherlich: Es geht politisch erst einmal darum, an einigen Punkten weiter zu kommen, an denen sich die Möglichkeit eines alternativen gesellschaftlichen Konsenses abzeichnet. Etwa indem das Öffentliche - in den Feldern von Wasser, Bildung oder Gesundheitsversorgung - gegen Privatisierung verteidigt und für das Gemeinsame geöffnet wird.

Aber es wäre eine Illusion, darüber die nötige Diskussion zur Frage der Herrschaftsförmigkeit des Staates zu verdrängen und die Frage unbearbeitet zu lassen, wie diese - wie ich sagen würde - »sekundäre« bzw. »abgeleitete« Herrschaftlichkeit überwunden werden kann. Was nicht möglich ist, ohne auch die primären Herrschaftsstrukturen von Klasse/Rasse/Geschlecht zu überwinden. Dieses Problem lässt sich allein mit den beiden Kategorien der »konstituierenden Gewalt« und der »Konstitution«, zwischen denen Hardt und Negri hier schwanken, nicht einmal denken.

Das heißt nicht, dass wir es hier mit einer besonderen Schwäche von Hardt und Negri zu tun hätten. Vielmehr kommt hier eine sehr elementare Unklarheit der Linken in der Staatsfrage zum Ausdruck, die seit den Auseinandersetzungen zwischen Marx und Bakunin, zwischen der These vom »Absterben des Staates« und der Konzeption einer »Zerschlagung des Staates« immer wieder ungeklärt geblieben ist.

Das hat schließlich auch dazu geführt, die ganze Problematik einer nicht bloß imaginären »Außerstaatlichkeit« revolutionärer Politik (Althusser) zu verdrängen - durch den Rückzug auf die endlose Prozessualität einer »permanenten Revolution«, vor allem aber durch das stillschweigende Fallenlassen der Frage nach einer nicht-staatsförmigen, aber doch effektiven Politik.

Um diese Problematik bearbeiten zu können, ist es nötig, die Formen politischer Herrschaft als solche zu begreifen, die ihr gerade in Krisensituationen zusätzliche Stabilität verleihen. Das heißt, es wird wiederum darum gehen, den Staat zu diskutieren! Daran werden weder diejenigen vorbeikommen können, die sich in den staatlichen Formen der Politik eingerichtet haben und doch glauben, radikale Politik betreiben zu können, noch diejenigen, die sich die Frage der Staatsförmigkeit von Politik noch gar nicht gestellt haben oder naiv glauben, sie könnten die ganze lästige Frage vermeiden, indem sie sich »außerhalb« des Staates bewegen.

Es geht darum, die Beziehungs- und Sprachlosigkeit zu überwinden, die zwischen denjenigen besteht, die Parteitage, Kandidaturen und Wahlkämpfe vorbereiten, und denjenigen, die auf besetzten Plätzen an Versammlungen teilnehmen und neue Formen der »Besetzung« ersinnen. Dazu haben Hardt und Negri indirekt mit ihrer »Neuaufnahme« der Verfassungsdebatte einen Beitrag geleistet, den es zu nutzen gilt.

Angesichts einer etablierten politischen Wissenschaft, die nur noch von Regierung und »governance« redet, ist es nicht einfach, wirklich »den Staat« zu diskutieren, ohne dabei an vergangenen Formen vor allem obrigkeits- und nationalstaatlicher Politik hängen zu bleiben. Deshalb ist es um so wichtiger, die bisher erarbeiteten Anfangspunkte einer wissenschaftlichen Kritik der Politik ins Gedächtnis zu rufen - von Marx und Engels über Lenin und Mao bis zu Altvater, Agnoli und Poulantzas.

Frieder Otto Wolf ist radikaler Philosoph an der FU Berlin. Weitere Texte finden sich unter www.friederottowolf.de

Anmerkung:

1) Michael Hardt und Antonio Negri: Demokratie. Wofür wir kämpfen. Frankfurt am Main 2013. Alle Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe.