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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 582 / 19.4.2013

Der NSU war nicht die einzige rechte Zelle

Rechte Jahrelang planten und verübten Neonazis Anschläge - unter den Augen des Verfassungsschutzes

Von Tomas Lecorte

Seit der Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) wird immer wieder die Frage gestellt, ob es weitere, bis heute unerkannte Neonazi-Zellen gegeben haben könnte. Im Juni 2012 schrieb ich, dass der NSU als Untergrundzelle einen lokalen Sonderfall darstelle und dass man nicht davon ausgehen könne, dass er Teil einer großen, überregional organisierten Struktur gewesen sei. (ak 573) Damit war gemeint, dass es vermutlich keine Vernetzung mehrerer organisierter Zellen gab. Dass auch außerhalb von Sachsen und Thüringen Personen vom NSU wussten und das »Zwickauer Trio« sogar unterstützten, wurde damit nicht in Frage gestellt.

Gibt es denn darüber hinaus Anzeichen für weitere Zellen? Um das herauszufinden, muss sowohl die rechte Szene der Jahrtausendwende betrachtet werden als auch die bekannt gewordenen Anschläge, die einen rechtsradikalen Hintergrund haben oder haben könnten.

Die Sicherheitsbehörden haben schon Ende 2011 erklärt, es würden nun alle ungeklärten Kriminalfälle der Zeit seit 2000 noch einmal unter die Lupe genommen, die ins Muster passen. Da seitdem keine weiteren Anschläge des NSU über die weitgehend bekannte Liste der Taten hinaus öffentlich genannt wurden, ist wohl davon auszugehen, dass dem »Trio« keine weiteren zuzuordnen waren. Nun gab es aber unstreitig seit 1998 eine Vielzahl von rechtsradikalen Anschlägen, die über spontane Aktionen hinausgingen. Wer hat sie begangen - Einzeltäter, Verwirrte, Waffennarren? Oder andere organisierte Gruppen?

In den Medien verschwindet hinter dem monströsen Fall NSU leider oft die Tatsache, dass vor rund zehn Jahren rechtsradikaler Terror durchaus ein sehr präsentes Thema war. Es lässt sich im Rückblick einiges anhand von damaligen Anschlägen rechter Gruppen und der gegen sie erfolgten staatlichen Repression sichtbar machen. Nur verhältnismäßig wenige rechte Anschläge zwischen 1998 und 2003 blieben unaufgeklärt - allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Polizei 1999 selbst einen Sprengstoffanschlag auf die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« in Saarbrücken als »nicht rechtsextremistisch« motiviert einstufte, obwohl in einem Bekennerbrief die »Kameraden in Köln« zu ähnlichen Taten aufgefordert wurden. (1) Es bleibt also eine Ungewissheit, ob es noch weitere Anschläge geben könnte, die selbst in der kritischen Öffentlichkeit bisher, ähnlich wie die NSU-Taten, nicht als rechtsradikal motiviert erkannt worden sind.

Spätestens seit Ende der 1960er Jahre werden in der rechten Szene beständig Waffen und Sprengstoff gesammelt, Wehrsport betrieben, kleine und meist kurzlebige militante Gruppen gebildet; Kleingruppen und einzelne »loose guns« begehen Anschläge. Viele Elemente eines vermeintlich bevorstehenden bewaffneten Kampfes sind dementsprechend ununterbrochen präsent. Für die Rechten ist diese Stimmung des kurz bevorstehenden Endkampfes ein wichtiges Element der Selbstmobilisierung. Doch ungefähr um das Jahr 1997 herum wurde die Idee vom bewaffneten Kampf à la »leaderless resistance« für viele Rechte richtungsweisend. Dies ist in den vergangenen Monaten vielfach dokumentiert worden, ebenso wie die auch seinerzeit schon zahlreichen Warnungen vor entstehenden militanten Strukturen, die unisono von Antifagruppen, JournalistInnen, SicherheitsexpertInnen und InnenpolitikerInnen kamen. (2) Nur der Verfassungsschutz wusste es natürlich besser: »Ungeachtet der Tatsache, dass es den Bombenbastlern von Jena jahrelang gelungen war, sich ihrer Verhaftung zu entziehen, gibt es keine wirkungsvolle Unterstützerszene, um einen nachhaltigen Kampf aus dem Untergrund heraus führen zu können.«

Rechte Zellenbildung ab 1997

In Berlin werden 1998 zwei Anschläge mit selbstgebastelten kleinen Bomben auf die Grabstätte von Heinz Galinski (ehemaliger Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland) verübt, die bis heute unaufgeklärt sind.

Im Mai 1999 meldet sich zudem eine »Nationalrevolutionäre Zelle« in einem Interview in der Hamburger Neonazi-Zeitschrift Hamburger Sturm zu Wort, die sich als »Untergrund-Aktivisten« im »Krieg mit dem System« bezeichnet. Die Gruppe aus dem Berliner und Brandenburger Blood-and-Honour-Umfeld wird im Juni 2000 festgenommen. Es erweist sich, dass der V-Mann Carsten Szczepansky führendes Mitglied war. Diese Zelle verfügt über Waffen und Sprengstoff, kommt aber nicht mehr dazu, sie für Anschläge einzusetzen.

Im Saarland wird im März 1999 der bereits erwähnte und bis heute nicht aufgeklärte Bombenanschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken verübt. In dieser Zeit ist die Neonaziszene in der Region sehr aktiv; im November erscheint eine Anti-Antifa-Broschüre mit der Bezeichnung »Der Wehrwolf« aus den Reihen des WAW (Weißer Arischer Widerstand) - eine Gruppierung mit klarem Blood-and-Honour-Bezug.

In Brandenburg entsteht Anfang 2000 die Gruppe Nationale Bewegung, die nach verschiedenen kleineren Aktionen zwischen Juni und Dezember 2000 mehrere Brandanschläge auf türkische Imbisse im Raum Potsdam verübt. Zuletzt bekennt sie sich Anfang Januar 2001 zu dem Brandanschlag auf den jüdischen Friedhof von Potsdam. Es wird gegen 15 Personen aus dem Blood-and-Honour-Umfeld wegen §129a StGB ermittelt, das Verfahren jedoch später mangels Beweisen eingestellt. Pikanterweise wird 2003 bekannt, dass der V-Mann Christian K. von einer bevorstehende große Durchsuchungsaktion gegen die Verdächtigen gewusst und sie verraten hatte.

Im Rhein-Ruhr-Gebiet erschießt im Juni 2000 der schwer bewaffnete Dortmunder Neonazi Michael Berger im Anschluss an eine Verkehrskontrolle drei Polizisten und danach sich selbst. Anfängliche Vermutungen, er habe sich auf dem Weg zu einem Anschlag befunden, werden von der Polizei dementiert. (Rheinische Post, 18.6.2000) Sechs Wochen später, am 27. Juli, explodiert in Düsseldorf eine Nagelbombe und verletzt mehrere jüdische AussiedlerInnen teils schwer; schon damals werden rechtsradikale TäterInnen vermutet. (RP Online, 12.11.2011)

Im Dezember 2003 schließlich wird mit einer Selbstschussanlage ein Anschlag auf einen türkischen Gastwirt verübt. Das Gerät, das einer Vorrichtung ähnelt, die 2011 in der Zwickauer Wohnung des NSU gefunden wurde, soll laut Polizei Spuren mehrmaligen Gebrauchs getragen haben. Ende 2001 entsteht in München die Kameradschaft Süd, in der sich ab Mai 2003 eine konspirative Untergruppe bildet, die Wehrsportübungen betreibt, Waffen und Sprengstoff sammelt und Anschläge plant. Die Gruppe wird nach §129a verfolgt und im September 2003 verhaftet, wobei unter anderem 1,7 kg TNT sowie weitere Sprengmittel gefunden werden. Mehrere Personen erhalten langjährige Haftstrafen.

Nördlich von Stuttgart, im Raum Backnang, werden im ersten Halbjahr 2003 zahlreiche rechte Anschläge - darunter drei Brandanschläge - verübt; bei etwa 20 davon werden Hinweise auf die militante Blood-and-Honour-Untergruppe Combat 18 hinterlassen. Auch hier werden mehrere Täter zu Haftstrafen verurteilt, wobei der Richter befindet, sie hätten mit dem Bezug auf C18 nur prahlen wollen.

Das sind sechs hervorstechende Beispiele für Gruppen, die entweder bereits Anschläge begingen oder sich zumindest als gefestigt und handlungsfähig und -willig erwiesen hatten. Es gibt weitere Fälle, die weniger eindeutig sind: Etwa eine Gruppe um den Neonazi Anton Pfahler, die in Ingolstadt und Umgebung zwischen 1997 und 2003 mehrfach bei der Waffenbeschaffung erwischt wird; Neonazis im Raum Meerane (Sachsen), bei denen im Oktober 1997 zahlreiche Schusswaffen beschlagnahmt werden; Neonazis aus dem FAP-Umfeld im Raum Göttingen, die 1998 der Gründung einer terroristischen Vereinigung verdächtigt werden; die Skinheads Sächsische Schweiz (SSS), die von 1997 bis 2001 neben Straßenterror auch Wehrsport auf dem Programm haben.

»Kein Konzept für einen bewaffneten Kampf«

Obwohl die Sicherheitsbehörden in dieser Zeit nicht müde wurden zu erklären, es gebe keine rechten Terrorstrukturen, wurden zwischen 1999 und 2004 immerhin mehr als zehn Ermittlungsverfahren wegen krimineller oder terroristischer Vereinigung gegen rechte Gruppen geführt, wobei es zu etwa zwanzig Verurteilungen kam. Gruppen wie Blood and Honour und SSS wurden verboten. Wieso das alles kein »Terrorismus« gemäß offizieller Definition war, wusste der Verfassungsschutz auf pfiffige Weise darzulegen. Terrorismus sei »der nachhaltig geführte Kampf für politische Ziele« vor allem mit Straftaten, die im §129a StGB aufgeführt sind. Da aber nach Ansicht des VS Neonazis mangels »geeignete(r) Führungspersonen, Logistik und finanzielle(r) Mittel« nicht in der Lage seien, »nachhaltig« zu kämpfen und überdies »militante Rechtsextremisten Terrorismus ablehnen« (VS-Bericht 2002), können ihre Taten gar kein Terrorismus sein. Selbst, als in der Jenaer Garage 1998 vier Rohrbomben gefunden werden, stellt der VS-Bericht dazu lapidar fest: »Konkrete Anschläge scheint die Gruppe damit nicht beabsichtigt zu haben.«

Es ist festzuhalten, dass in den Jahren von 1998 bis 2003 genau das passiert ist, was öffentlich vorhergesagt wurde: Es bildeten sich mehrere militante rechte Kleingruppen, die Anschläge begingen. Es gab sie, neben dem NSU, zumindest im Raum Berlin, Saarbrücken, Potsdam, Ruhrgebiet, Stuttgart, München. Die Bombenanschläge von Saarbrücken (März 1999) und London (April 1999) wirkten dabei wie Startschüsse (3); der Düsseldorfer Bombenanschlag vom Juli 2000 kennzeichnete den Eintritt in die »heiße Phase« der rechten Terrorzellen: Der VS-Bericht 2000 stellt fest, dass nach einem ruhigen Beginn des Jahres ab Juli »ein starker Anstieg zu verzeichnen« war.

Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keine geheime Steuerung dieser Gruppen gab, sondern sie das Ergebnis einer folgerichtigen Entwicklung in einem bestimmten politischen Milieu waren - und zwar weniger der Kameradschaftsszene, sondern vor allem dem der Blood-and-Honour-Klientel -, ist doch klar, dass es die »anderen« Terrorzellen neben dem NSU sehr wohl gab. Der Unterschied liegt darin, dass das »Zwickauer Trio« situationsbedingt in den Untergrund ging und dort fortbestand, während sich die anderen Gruppen wieder auflösten, nicht unwesentlich aufgrund der staatlichen Repression. Der Organisierungs- und Reifegrad der Gruppen war allerdings höchst unterschiedlich: Die einen schafften es kaum, einen Imbisswagen in Brand zu setzen, während andere Bomben mit TNT bastelten.

Dem Verfassungsschutz blieb diese Entwicklung auch gar nicht mal verborgen: Noch im VS-Bericht 2000 wurden »Ansätze für ein Entstehen rechtsterroristischer Strukturen« notiert, im Rückblick 2004 wurde dann erleichtert festgestellt, der Höhepunkt der Entwicklung sei 2000 überschritten gewesen und die Verfolgungsmaßnahmen hätten Wirkung gezeigt. Aus heutiger Sicht kann weder eine damalige Untätigkeit der Sicherheitsbehörden noch eine allgemeine Unsichtbarkeit des Problems »rechter Terror« behauptet werden. Die historische Parallele, die sich zu ähnlichen Situationen rechtsradikaler Mobilisierungen wie in den Jahren 1972, 1980 und 1992 ziehen lässt, ist vielmehr die Mischung aus Bagatellisierung und »das-konnte-doch-niemand-ahnen«. Auch die nächsten rechten Zellen werden wieder »völlig überraschend« kommen. Schon 1970 beklagte ausgerechnet die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass rechtsradikale Taten allzu oft unzurechnungsfähigen Einzeltätern zugeschrieben würden. (Spiegel 41/1980)

So konnte am 12. November 2011der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Hartmann, in der Wochenzeitung Die Zeit beruhigend erklären: »Ich sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Verfassungsschutz hier eine gefährliche Entwicklung verschlafen hat.« Darin ist ihm unbedingt beizupflichten: Der VS hatte nicht geschlafen. Er hatte mal wieder zugesehen.

Tomas Lecorte stellte in ak 573 sechs Hypothesen zum rechten Terror des NSU auf. Er betreibt den Blog www.lecorte.de.

Anmerkungen:

1) BfV-Spezial: Rechtsextremismus Nr. 21 - Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten - Entwicklungen von 1997 bis Mitte 2004.

2) So die Journalistin Heike Kleffner in der taz vom 21.7.2000, Uwe Kranz, Leiter LKA Thüringen, auf Spiegel Online vom 3.3.1997, Bernd Wagner, Ex-Staatsschutz-Polizist, im Spiegel (25/2000) oder Berlins Innensenator Eckart Werthebach (CDU) in der SZ vom 13.9.2003.

3) In London handelte es sich um einen Nagelbombenanschlag in der Compton Street durch den Neonazi David Copeland.