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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 582 / 19.4.2013

Zeit für breite Bündnisse

Krisenproteste Die Unzufriedenen Europas stehen mit dem Rücken zur Wand. Nur gemeinsam haben Protestbewegungen, Linksparteien und Gewerkschaften eine Chance

Von Alexander Gallas und Jörg Nowak

1. Subalterne in der Defensive

Der luxemburgische Ministerpräsident und ehemalige Chef der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, warnte Mitte März vor der Gefahr einer »sozialen Revolution« in Europa. Junckers Besorgnis ist das Spiegelbild optimistischer Äußerungen in ak, die in Europa eine vorrevolutionäre Situation ausmachen: »Mit der strukturellen Krise des Kapitalismus hat sich ein Zeitfenster geöffnet, in dem auch radikale Systemveränderungen in greifbare Nähe rücken könnten«, schrieb Dario Azzellini (ak 581). Und die Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft meinen, es sei "jetzt die Zeit, über (...) Schritte zu einer Bewegung" nachzudenken, die sich die »Produktivkräfte in freier Assoziation aneignet«. (ak 580)

Richtig ist sicherlich, dass es in weiten Teilen Europas große Unzufriedenheit mit der herrschenden Krisenpolitik gibt. Bisweilen kommt es sogar zu Volksaufständen. Es fehlt aber ein wichtiges Kriterium für eine vorrevolutionäre Situation: die Fähigkeit der Unzufriedenen, kollektiv Macht auszuüben, also die Abläufe des wirtschaftlichen und politischen Alltagsgeschäfts aktiv zu behindern und somit die politische Agenda mit ihren Anliegen zu besetzen. Bislang sind die Proteste mit wenigen Ausnahmen rein symbolisch.

Umgekehrt sind die Machtblöcke in den europäischen Ländern sehr erfolgreich darin, eine »Politik der Krisenausbeutung« (Arjen Boin u.a.) zu betreiben. Sie nutzen die Krisensituation, um den seit Jahrzehnten betriebenen neoliberalen Umbau des europäischen Wirtschaftsraums erheblich zu beschleunigen. Bestes Beispiel dafür ist der europäische Fiskalpakt, der in den meisten EU-Mitgliedsstaaten bereits mit breiten Parlamentsmehrheiten in geltendes Recht überführt wurde. Die Subalternen in Europa befinden sich nicht in einem vorrevolutionären Zustand, sondern in der Defensive.

2. Protestformen und Bündnisse

Eine Situation der Defensive ist einerseits eine der Schwäche und andererseits eine Situation, in der politische Zielsetzungen im Vordergrund stehen, die sich aus der Ablehnung der vorherrschenden Politik ergeben. Beides spricht für ein Agieren in breiten Bündnissen.

Die Unzufriedenheit über die vorherrschende Krisenpolitik zeigt sich auf drei Ebenen: Erstens sind soziale Bewegungen entstanden, die sich gegen die Auswirkungen der Krise und das Krisenmanagement auf nationaler und europäischer Ebene richten, allen voran die Occupy-Bewegung und die Proteste der spanischen Indignados. Zweitens ist es zu einer Welle »politischer Warnstreiks« in verschiedenen europäischen Ländern gekommen, die hauptsächlich von Gewerkschaften getragen wurden, an denen sich aber auch andere gesellschaftliche Kräfte wie Parteien oder besagte Bewegungen beteiligt haben. Drittens äußert sich Protest auf der politischen Bühne (zuletzt bei den Wahlen in Italien). Er geht zu Lasten der etablierten Großparteien. Was sind die Stärken und Schwächen der verschiedenen Kräfte, und wo befinden sich Anknüpfungspunkte für Bündnisse?

3. Neue Bewegungen gegen die Krisenpolitik

Im Frühjahr 2011 entstand erst in Portugal, dann in Spanien und in Griechenland die Bewegung der Platzbesetzungen, die im selben Jahr wieder abebbte. In Spanien hat die Bewegung gegen Zwangsräumungen inzwischen ein Netzwerk geschaffen, das über 100 Ortsgruppen umfasst. Die Occupy-Proteste, die im Sommer 2011 von den USA nach Europa schwappten, blieben zwar in den meisten Ländern klein, erhielten aber viel Aufmerksamkeit in den Medien.

Dank der Bewegungen sind in vielen Teilen Europas Netzwerke im Alltag der Menschen entstanden, mit deren Hilfe auch in Zukunft zu Protesten mobilisiert werden kann. Darin besteht ihre Stärke. Gleichzeitig weisen die Bewegungen eine große politische Unbestimmheit auf. Der Konsens besteht in einer diffusen Ablehnung etablierter politischer Kräfte. Das führt einerseits zu fehlender Abgrenzung gegenüber reaktionärer Systemkritik, andererseits zu Spannungen bei der Bündnisbildung mit etablierten Organisationen, also Gewerkschaften und (Links-)Parteien. Der Bewegung der Platzbesetzungen in Griechenland schlossen sich Menschen mit zum Teil entgegengesetzten politischen Überzeugungen an - z.B. NationalistInnen und AnarchistInnen - wodurch die Entwicklung einer gemeinsamen politischen Agenda ausgeschlossen war. Die Forderungen der Demokratiebewegung in Spanien waren so allgemein gehalten, dass sie in die Beliebigkeit und Erfolglosigkeit führten.

Ein positives Gegenbeispiel ist das britische Protestnetzwerk UK Uncut, das im Oktober 2010 aus den sozialen Bewegungen heraus entstand und bislang vor allem durch die Besetzung von Banken und Geschäften während der Öffnungszeiten in Erscheinung trat. Mit den Aktionen macht es darauf aufmerksam, dass die britischen Finanzbehörden die systematische Umgehung von Steuern durch Großkonzerne ignorieren oder sogar dulden, während die Regierung unter Verweis auf die schlechte Haushaltlage den öffentlichen Sektor zerschlägt. Dank dieser klaren Positionierung verfügte UK Uncut über eine Schnittstelle zu den Protesten gegen die Kürzungspolitik aus dem Gewerkschaftsspektrum. Entsprechend haben zahlreiche Gewerkschaftschefs und -funktionärInnen ihre Unterstützung für UK Uncut erklärt und sich gegen die Kriminalisierung von Besetzungsaktionen gewandt.

4. Politische Warnstreiks

Viele Menschen sind in als Lohnabhängige von der Krise und der herrschenden Krisenpolitik betroffen. Entsprechend mobilisieren die Gewerkschaften in vielen europäischen Ländern breit zu Protesten. Dabei handelt es sich oft um »politische Warnstreiks«, also eintägige, branchenübergreifende Streiks gegen Kürzungsmaßnahmen plus Großdemonstrationen. Diese hat es seit Ausbruch der Krise unter anderem in Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien gegeben. Am 14. November 2013 gab es sogar einen europäischen Streik in Portugal, Spanien, Italien und Griechenland. (Siehe ak 578)

Prinzipiell handelt es sich bei den etablierten Gewerkschaften um »massenintegrative Apparate«, wie Joachim Hirsch sie nennt. Sie entschleunigen Kämpfe und bringen Forderungen von Lohnabhängigen mit Kapitalinteressen in Einklang. Aber Gewerkschaften bieten immer auch Möglichkeiten zur Ausübung von Klassenmacht, weil sie Lohnabhängigen einen Rahmen für kollektive Forderungen bieten. Und in der Situation der Krise, in der die politischen EntscheidungsträgerInnen die Kosten auf die Bevölkerungen abwälzen, tritt die integrative Funktion von Gewerkschaften zurück. Gerade in einer solchen Situation werden sie als Kampffeld wichtig: Im Gegensatz zu den neuen Protestbewegungen konnten die Gewerkschaften immerhin symbolisch andeuten, wie weitreichend die Folgen einer durch Massenproteste lahm gelegten Wirtschaft sein könnten. Dennoch finden die Streikaktionen seit 2008 innerhalb der deutschen Bewegungslinken bislang wenig Beachtung. Eine Auseinandersetzung mit diesen Streiks kann zu einer genaueren Einschätzung der politischen Situation verhelfen und neue Perspektiven des politischen Handelns aufzeigen.

Die Zahl der »politischen Warnstreiks« ist seit Beginn der Krise in Westeuropa deutlich angestiegen; die Zahl der ökonomischen Streiks - also der Streiks, bei denen es direkt um Arbeitsbedingungen geht - fällt hingegen seit 30 Jahren gemessen am Ausfall der Arbeitsstunden kontinuierlich. Insofern ist die wachsende Bedeutung der »politischen Warnstreiks« ein Ergebnis davon, dass Branchenstreiks zur Durchsetzung von Forderungen an Wirkung verloren haben. Das Kampfmittel der eintägigen symbolischen Streiks ist ein Ausdruck der defensiven Situation, in der sich die europäischen Arbeiterklassen befinden. Entsprechend ist es bislang nicht gelungen, mit Hilfe der Streiks Forderungen durchzusetzen. Dennoch kommt ihnen eine wichtige Bedeutung für den Protest zu: Sie sind Orte und Situationen, in denen eine alternative Öffentlichkeit entsteht.

Anders als die Platzbesetzungen sorgen die stabilen Organisationsstrukturen der Gewerkschaften für Kontinuität. Gleichzeitig sind sie schwerfälliger, enger an den Staat angebunden und anfällig für autoritäre Führungsstile. Und natürlich erreichen sie zahlreiche gesellschaftliche Gruppen nicht, z.B. SchülerInnen und StudentInnen, Arbeitslose und RentnerInnen. Aber gerade ihre Verzahnung mit den Protestbewegungen böte die Chance, diese Schwäche zu kompensieren. Im Idealfall könnte eine Seite als Korrektiv der anderen agieren.

5. Politische Bühne

Auf den politischen Bühnen schwindet in vielen Teilen Europas die Unterstützung für etablierte Parteien. Linksparteien profitieren von dieser Entwicklung nur in einigen Ländern: In Griechenland ist Syriza nach Umfragen vom März 2013 mit 23 bis 29 Prozent die stärkste Partei, in Spanien rangiert die Vereinigte Linke bei 15 Prozent, und in Portugal erhalten die beiden Linksparteien zusammen 20 Prozent.

Schon aus demokratiepolitischen Gründen sollten die Parteien als Bündnispartner ernst genommen werden, denn sie genießen Unterstützung in Milieus, die weder die neuen Bewegungen noch die Gewerkschaften erreichen. Sie repräsentieren also ansonsten übergangene Bevölkerungsteile. Aber auch machtpolitische Erwägungen spielen eine Rolle: Starke Parteien können sich im Parlament in die Konfrontation mit den Regierungen begeben und haben privilegierten Zugang zu den Medien; sie formulieren eine klare Programmatik und allgemeinpolitische Forderungen. Zweifelsohne haben sie tendenziell eine massenintegrative Wirkung: In vielen Staaten ist der parlamentarische Prozess auf das Schließen von Kompromissen zwischen den Parteien angelegt. Und auch Linksparteien unterliegen dem Wahlzyklus und der Einflussnahme durch Kapitalinteressen. Insofern benötigen die Aktiven in den Krisenprotesten klare Kriterien für eine Zusammenarbeit. Linksparteien können ein wichtiger Bestandteil der Abwehrketten gegen das Krisenmanagement sein, solange sie gegen die Kürzungspolitik opponieren und sich weigern, den Protesten durch Kompromisse mit Regierungen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Anders verhält es sich mit neuen Protestparteien, die sich einer Einordnung im Links-Rechts-Spektrum verweigern, z.B. der Piratenpartei, der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien und der Union des Fortschritts und der Demokratie in Spanien. Durch ihre unklare politische Orientierung schwächen sie die Proteste und haben eine integrierende Wirkung. Ihr Erfolg verweist auf die ideologische und organisatorische Schwäche der Protestbewegungen und das Fehlen einer durchsetzungsfähigen Krisendeutung auf Seiten der Linken.

6. Das gegenseitige Ausgleichen von Schwächen

In der Situation der Defensive wäre es ein verhängnisvoller strategischer Fehler, ausschließlich auf die Besetzungsbewegungen zu setzen. Diese sind zu schnellen und zum Teil massenwirksamen Aktionen fähig, ihre politische Orientierung ist aber häufig diffus. Die Gewerkschaften und die Linksparteien bedienen sich nach wie vor hierarchischer Organisierungsmodelle und sozialdemokratischer Politikmuster, die auf staatliche Lösungen fixiert sind. Beides ist in der gegenwärtigen Situation wenig erfolgversprechend. Als Massenorganisationen haben sie aber viele, zum Teil langjährige Mitglieder, die sie kontinuierlich erreichen. Dadurch sind sie auch ein Speicher intellektueller und politischer Orientierungen. Die neuen Bewegungen können von den Kampferfahrungen von GewerkschafterInnen und parteipolitisch Aktiven lernen, was der Diffusität ihrer Zielsetzungen entgegenwirkt. Wenn Bewegungslinke und AktivistInnen der neuen Bewegungen dieses Potenzial nutzen, indem sie Bündnisse eingehen, können sie umgekehrt den etablierten Kräften neue Formen der Entscheidungsfindung und andere Aktionsformen nahe bringen.

Die in einigen Ländern bereits begonnene Zusammenarbeit zwischen neuen Bewegungen, Linksparteien und Gewerkschaften bietet deshalb gleichermaßen die Chance einer Loslösung der Arbeiterbewegung von ihren hierarchisch-staatsgläubigen Traditionen sowie einer Politisierung der neuen Bewegungen. Dazu können vor allem die Erfahrungen in alltäglichen Kämpfen beitragen. Ziel wäre das Entstehen von Abwehrketten aus neuen Bewegungen, Gewerkschaften und linken Parteien, die sich dem Angriff der Machtblöcke entgegen stellen können, weil jedes einzelne Kettenglied die Schwächen der anderen Kettenglieder ausgleicht.

Alexander Gallas ist Sozialwissenschaftler und Übersetzer. Jörg Nowak ist Politikwissenschaftler und arbeitet in der Stadtteilarbeit und an der Universität Kassel.