Am Anfang steht, die Geduld zu verlieren
Wirtschaft & Soziales Warum Erwerbslose eher selten kollektiv protestieren und was das für die Erwerbslosenproteste bedeutet
Seit der großen Mobilisierung 2003/2004 gegen Hartz IV sind bundesweite öffentlichkeitswirksame Proteste von Erwerbslosen gegen sozialstaatliche Reglementierungen und Verarmungspolitik ausgeblieben. Warum dies so ist, wird von den bundesweiten Erwerbslosennetzwerken unterschiedlich eingeschätzt. Ein Teil sieht im nicht geschlossenen Auftreten einen wesentlichen Grund für die Erfolglosigkeit.
Von Harald Rein
Wer über den Protest von Erwerbslosen in Deutschland nach 1945 schreibt (1), wird nur selten auf erfolgreiche Kämpfe stoßen. So schnell und unerwartet, wie sie entstanden sind, so rasch verschwanden sie auch wieder von der politischen Bühne. Zumindest, wenn man Protest als ein massenhaftes, straßenorientiertes und ereignisreiches Druckmittel begreift, das den Verursachern einer gesteuerten Armutspolitik kollektiv das Misstrauen ausspricht.
Denn Erwerbslose sind keine sozial einheitliche Gruppe mit einem gemeinsamen Bewusstsein. Während die einen schnell einen neuen Arbeitsplatz finden (etwa ein Drittel der Erwerbslosen), geraten die anderen in existenzielle Armut, ohne Chance auf eine gesicherte Zukunft, und/oder befinden sich im Kleinkrieg mit dem Jobcenter bzw. Arbeitgeber/der Leiharbeitsfirma/dem Maßnahmeträger etc. Zuerst kämpft jeder und jede mit individuellen Mitteln für einen neuen Arbeitsplatz, für eine bessere Existenzsicherung und gegen eine sozialstaatliche Bürokratie, die den Einzelnen nur als Kostenfaktor sieht und dementsprechend behandelt.
Es ist müßig, darüber zu lamentieren, warum sich Betroffene bei bestimmten Sozialeinschnitten nicht wehren und warum eine weltweite Krise keine Auswirkungen auf kollektive Aktionsformen von Erwerbslosen und NiedriglöhnerInnen hat. Vergessen wird oft, dass die Situation eines Großteils der Erwerbslosen immer eine krisenhafte ist, das verfügbare Budget befindet sich ständig am unteren Level. Die zentrale Forderung »Wir bezahlen nicht für eure Krise« perlt am tagtäglichen individuellen Kampf um Existenzsicherung ab, sie wirkt vor diesem Hintergrund fast zynisch.
Potenzielle BündnispartnerInnen sind rar gesät, weder die Gewerkschaften noch Wohlfahrtsverbände oder Kirchen sind willens und bereit, für eine wirkliche Verbesserung der sozialen Lage armer Leute einzutreten. Daran ändern auch manch wortgewaltige Rede einzelner Funktionäre oder Unterschriften unter diverse Positionspapiere nichts.
In der Praxis haben sich VertreterInnen von ver.di und IG Metall aktiv an der Hartz-IV-Kommission beteiligt. Wohlfahrtsverbände wie auch kirchliche Organisationen profitieren vom Leid vieler Erwerbsloser (z.B. durch die Einrichtung von Ein-Euro-Jobs). Zu verzahnt sind ihre politischen Interessen mit einem herrschenden Korporatismus, in dem Arbeit um jeden Preis den Mittelpunkt bildet und Sozialpolitik als Vehikel gesehen wird, dies gesellschaftlich umzusetzen.
Aber auch der monolithische Block der Gewerkschaften kann ins Wanken geraten. 2003 schafften es Anti-Hartz-Gruppen mit Unterstützung vieler Gewerkschaftsgliederungen, 100.000 Menschen zum öffentlichen Protest gegen das noch nicht verabschiedete Gesetz nach Berlin zu mobilisieren. Offensichtlich hatten maßgebliche Gewerkschaftsfunktionäre den Protestwillen ihrer Mitglieder falsch eingeschätzt und befanden sich plötzlich in der Defensive. Ein Vorgang, der innerhalb der Sozialprotestbewegung einmalig blieb.
Wann protestiert wird, steht in keinem Lehrbuch
Es kann nicht besonders überraschen, dass es einen Seismografen des kollektiven Aufbegehrens von armen, unterdrückten Menschen nicht gibt. Allerdings wissen wir, so die Soziologin Frances Fox Piven, dass Menschen, »um zu kollektiven Aktionen zu kommen, zunächst eine stolze und wütende Identität entwickeln (müssen) und damit verbundene Forderungen. Erniedrigung und Scham müssen sich in Wut und Empörung verwandeln.« (express 2/11) Auch besitzen Menschen eine Ressource, die nur selten genutzt, aber dennoch Erfolg versprechend sein kann: den Verlust ihrer Geduld und die Aufkündigung ihrer Loyalität gegenüber Politik und Sozialbürokratie.
Ein Beispiel: »Rund 100 Hartz-IV-Empfänger haben in der Arbeitsagentur von Herne randaliert. Der Grund: Zum Monatsletzten war ihr Geld nicht auf den Konten. Die zunehmend aggressive Menge forderte so lautstark die Auszahlung, dass Mitarbeiter die Polizei zu Hilfe riefen. Bochums Polizeisprecher sprach von einem Massenüberfall in noch nicht dagewesener Dimension. Am Nachmittag entspannte sich die Situation schlagartig, als die Überweisungen eingingen.« (bild.de, 1.2.2007)
Wut und Protest entwickeln sich aus der individuellen Wahrnehmung heraus, von einem würdevollen Leben ausgeschlossen zu sein. Auf der Grundlage eines allgemeinen Gerechtigkeitsempfindens wird diese persönlich bestimmte Resistenz durch die unanständige Behandlung durch die Sozialbehörde oder andere Maßnahmeträger hervorgerufen. Werden diese Ansprüche mit der Hoffnung auf rechtliches Gehör verbunden, verwandelt sich die anfängliche Wut in die Hoffnung auf den Rechtsstaat. Im Warten auf ein günstiges Rechtsurteil versiegt dabei all zu oft die Kollektivität. Dennoch kann es immer wieder, bezogen auf ein kurzfristiges Ziel, zu eruptiven Erhebungen kommen (siehe Herne) oder zu massenhaften Straßenauftritten von Erwerbslosen wie z.B. bei den Montagsdemonstrationen im Osten Deutschlands 2004.
Herne und die Montagsdemonstrationen machen deutlich, dass der Zeitpunkt, wann Erwerbslose den Deckel des kochenden Wasserkessels sprengen, in keinem Lehrbuch steht, in den seltensten Fällen vorhersehbar ist und sich oft an kleinen, kaum erkennbaren Details entzündet. Doch was heißt das für künftige Proteste oder Kampagnen zur Verbesserung der Lage von Erwerbslosen?
Christian Schröder und Leiv Voigtländer sind dieser Frage am Beispiel der Proteste des Krach-schlagen-Bündnisses (2) gegen den bestehenden Regelsatz in einem Aufsatz in der PROKLA 166 vom März 2012 nachgegangen. Der Aufsatz ist schon deshalb interessant, weil er einen Erklärungsansatz bietet, der von einigen Erwerbslosengruppen geteilt wird und Konsequenzen für eine Bündnispolitik beinhaltet.
Die beiden Autoren vertreten in ihrem Beitrag »Ringen um den Regelsatz. Erwerbslosenproteste und die Neubestimmung der Hartz-IV-Höhe« die Auffassung, dass nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil im Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsätzen »sich für Erwerbslosen- und Sozialinitiativen sowie ihre Verbündeten ein politisches Gelegenheitsfenster (geöffnet habe), um für eine nennenswerte Regelsatzerhöhung zu streiten«. Dieses Fenster habe sich geschlossen, nachdem eine Art große Koalition einen politischen Kompromiss verabschiedet habe. Der Kampf für eine »nennenswerte Regelsatzerhöhung« war verloren.
Diese enttäuschende Entwicklung erklären die PROKLA-Autoren in dreifacher Weise: mit der organisatorischen Schwäche der Erwerbslosennetzwerke, die auch durch »potenzielle Verbündete« nicht gestärkt werden konnte, einer Parteienkoalition pro Hartz-IV und der herrschenden ökonomischen Strategie, den Niedriglohnsektor weiter auszubauen.
Zusammenfassend lässt sich die Position der Autoren so formulieren: Für eine bestimmte, eng begrenzte Zeitspanne wäre es möglich gewesen, mit einer minimalen Forderung (»80 Euro mehr für Lebensmittel«) zur Erhöhung des Regelsatzes und unter Einbezug möglicher, politisch potenterer Bündnispartner, verbunden mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen, die politische Phalanx der Hartz-IV-Koalition so unter Druck zu setzen, dass eine für Erwerbslose günstigere Lösung herausgekommen wäre. Letztendlich folgten dieser Linie weder die Bündnispartner noch die Mehrheit der Erwerbslosengruppen.
Bei dieser Argumentation fällt auf, dass der Ansatz des Krach-schlagen-Bündnisses als alternativlos angesehen wird, und Kritik an der Mindestforderung durch andere Erwerbslosengruppen (etwa die 500-Euro-Forderung (3) bzw. die Forderung nach einem Existenzgeld (4)) nicht diskutiert wird. Mobilisierungsmöglichkeiten werden nicht in einer grundlegenden Ablehnung des Regelsatzes gesehen, sondern ausschließlich im Hinblick auf eine Mindestforderung, die den Regelsatz als solchen nicht infrage stellt.
Damit erhofft man sich eine Stabilisierung bezüglich der Innenstruktur des Bündnisses, d.h., das gemeinsame Votum für einen Minimalkompromiss erscheint als Erfolg versprechend und Sozialverbände bzw. Gewerkschaften fällt es leichter, sich dem Bündnis anzuschließen (was später im »Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum« geschehen wird, s.u.).
Im Mittelpunkt steht nicht, wie die Autoren am Anfang ihres Artikels behaupten, die Beantwortung der Frage, was der Mensch zum Leben braucht, sondern die Frage, wie wir einen Teilaspekt der Regelsatzdiskussion (hier Ernährung), den wir als »realpolitisch machbar« ansehen, begründen, um (als Beispiel gesehen) auch die letzte Erwerbslosengruppe im Hintertaunus zusammen mit dem sozialdemokratisch orientierten Geschäftsführer der Caritas aus dem Breisgau in ein gemeinsames Bündnis einzubeziehen.
Tatsächlich ist dieser politische Ansatz gescheitert, weil sich eben nicht alle Erwerbslosengruppen (und schon gar nicht alle Erwerbslosen) auf einen Minimalkonsens einlassen wollten und der festgesetzte Zeitpunkt für zentrale Aktivitäten nicht automatisch zu Aktivitäten führt: Ein - zu diesem Zeitpunkt - nur geringer Alltagswiderstand wird quantitativ nicht größer, indem zu einer zentralen Demonstration und zu sich daran anschließenden, dezentralen Aktionen aufgerufen wird.
Ein Bündnis mit Teilen der Elendsverwaltung demotiviert
Aber auch Caritas, AWO, DGB und andere haben noch nie ihren Organisationsapparat dazu verwendet, für Erwerbslosenforderungen auf der Straße zu mobilisieren - seien sie noch so zart formuliert. Dazu sind ihre Interessen mit den sozialpolitischen Interessen der Bundesregierung viel zu stark verwoben.
Das soll nicht als Plädoyer gegen den Versuch missverstanden werden, bundesweite Aktivitäten für eine Verbesserung der Lebensqualität armer Menschen zu initiieren. Schließlich weiß man oft erst vor Ort, ob die bewusstseinsmäßige Stimmung unter den Betroffenen groß genug war, weite Wege und Entbehrungen in Kauf zu nehmen, um in Berlin oder Oldenburg zu demonstrieren.
Aber ein wesentlicher Unterschied zur Demonstration 2003 in Berlin fällt auf: Dort wurde nicht als Minimalziel z.B. die Rückgängigmachung der Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung gefordert, sondern die Rücknahme der Neuregelung für Arbeitslosenhilfe- und SozialhilfebezieherInnen, nämlich »Weg mit Hartz IV!«. Das war zwar kein Ziel der höheren GewerkschaftsfunktionärInnen und schon gar nicht der GeschäftsführerInnen der Wohlfahrtsverbände, sprach aber Erwerbslose genauso an, wie prekär Beschäftigte und Gewerkschaftsmitglieder bis in die mittlere Funktionärsebene.
Wird der Mechanismus Hartz IV nicht als Ganzes kritisiert und infrage gestellt, erscheint es so, als sei es möglich, einzelne Teile zu reformieren und im Sinne der Erwerbslosen zu verändern. Dies kann zu einem Trugschluss führen und lässt Verantwortliche eines erniedrigenden Zwangssystems (PolitikerInnen, Wirtschaftsfachleute, GeschäftsführerInnen der Wohlfahrtsindustrie usw.) plötzlich als Bündnispartner erscheinen.
Real finden sich einige von ihnen (AWO, Diakonie, Evangelischer Fachverband für Arbeit und soziale Integration) in dem von einigen Erwerbslosengruppen (u.a. Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg, Tacheles, Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen) initiierten »Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum« wieder. Ausgangspunkt sind gemeinsame Kritikpunkte an der willkürlichen, aber dennoch politisch bestimmten Begründung für eine Regelsatzerhöhung durch die Bundesregierung.
An vielen Beispielen wird in dem vom Bündnis vorgelegten Positionspapier »Ein menschenwürdiges Leben für alle - das Existenzminimum muss dringend angehoben werden! - update erforderlich!« die »Dimension des Mangels« im aktuellen Regelsatz nachgewiesen und sich für eine »methodisch saubere, transparente Ermittlung der Regelsätze« eingesetzt. Ziel sollte es sein, »für eine deutliche Erhöhung der Regelsätze in der Gesellschaft einzutreten und zusammen eine breite gesellschaftliche Debatte anzustoßen über die Frage Wie viel braucht ein Mensch zum Leben und wie soll das aussehen?«.
Zu allererst stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Veränderungen es gibt, vor deren Hintergrund ein Bündnis mit Kräften eingegangen werden sollte, die nicht nur staatstragend sind, sondern auch aktiv das Hartz-IV-System gefördert haben und weiter fördern. Eine öffentliche Distanzierung davon ist nicht erkennbar, allenfalls Umsetzungsfehler werden kritisiert. Warum also mit solchen Organisationen über Monate an einem Papier feilen, das in der Praxis der beteiligten Organisationen (bis auf die Erwerbslosengruppen) kaum eine Rolle spielt?
Und warum über Details eines Regelsatzes verhandeln, der als Ganzes ein Politikum der Armut darstellt?
Gäbe es einen nennenswerten, öffentlichen Widerstand in der Alltagswirklichkeit der Erwerbslosen, eine sichtbare Kampagne für eine Erhöhung des Regelsatzanteils Ernährung, wäre womöglich ein solcher Schritt eine Stärkung des Widerstandes, eine Argumentationsgrube für weitere Aktivitäten. Aber so sieht die Praxis nicht aus, der Alltagskampf beschränkt sich zumeist auf die rechtliche Ebene oder auf individuelle Ausbrüche.
Das Zusammensitzen mit gesellschaftlichen Gruppen, die das Elend verwalten, stärkt nicht den Protest, sondern schwächt ihn, weil er aus der Position der Schwäche der Erwerbslosenbewegung heraus denjenigen die Hand reicht (und sie somit rehabilitiert), die bisher wenig oder gar nichts zur Verbesserung der sozialen Lage Erwerbsloser beigetragen haben. Dies zeigt sich auch in den schwammigen Formulierungen des Positionspapiers: »Wir sehen ... dringenden Handlungsbedarf, die bestehenden Sanktions- und Zumutbarkeitsregelungen zu überwinden ... Ähnliches gilt auch für alle gesetzlichen Regelungen, die das Leben in einer menschenwürdigen Wohnung in Frage stellen«.
Ein wenig erscheint es so, als ob die VertreterInnen dieses Ansatzes bei der Diskussion um den Regelsatz allein auf Vernunft setzen, auf das Rationale, und glauben, eine Erhöhung dadurch erreichen zu können, indem WissenschaftlerInnen »methodisch saubere« Erläuterungen liefern. Aber es ist ein Trugschluss, darauf zu setzen, da die Herrschenden von einer anderen Rationalität ausgehen - nicht der Mensch steht dabei im Mittelpunkt, sondern ausschließlich dessen ökonomische Verwertbarkeit.
Eine Orientierung auf Mindestsicherungen in Zusammenarbeit mit zum Teil für Erwerbslose inakzeptablen Großorganisationen wirkt eher demotivierend.
Harald Rein lebt in Frankfurt am Main und ist seit Jahrzehnten in der Erwerbslosenbewegung aktiv.
Anmerkungen:
1) Siehe Harald Rein (Hrsg.): Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest 1982-2012. Dokumentation, Analyse und Perspektive, Neu-Ulm 2013.
2) Dem Bündnis gehörten zeitweise unter anderem die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), das Aktionsbündnis Sozialproteste (ABSP), ver.di-Erwerbslose, die Bundesarbeitsgemeinschaft prekäre Lebenslagen (BAG-PLESA) und die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) an. Siehe auch www.krach-statt-kohldampf.de.
3) Siehe www.500-euro-eckregelsatz.de.
4) Siehe Anne Allex/Harald Rein (Hrsg.): »Den Maschinen die Arbeit ... uns das Vergnügen!« Beiträge zum Existenzgeld, Neu-Ulm 2011.