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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 582 / 19.4.2013

Das Unsichtbare ist politisch

Krisenproteste Ein Blick über den nationalen Tellerrand und auf die Grenzen der Lohnarbeit

Von Anna Dohm

Die Krise seit 2007 ist nicht nur von bemerkenswert vielen (General-)Streiks und Auseinandersetzungen in und um Lohnarbeit gekennzeichnet, sondern auch von zahlreichen anderen Bildern und Kämpfen: Kollektive Verhinderungen von Zwangsräumungen in Spanien; Platzbesetzungen in Athen und Madrid gegen die parlamentarische Herrschaft; Aufbau von kollektiven, genossenschaftlichen Gesundheitszentren in Griechenland; Besetzungen und Schaffung von kulturellen Orten wie dem Teatro Valle in Rom; Ansätze solidarischer Ökonomien in vielen südeuropäischen Ländern.

Diese Kämpfe können als Wegweiser dienen, die gegenwärtige Krise nach ihren unsichtbaren Seiten hin zu befragen, sie eben nicht nur als eine Finanz- oder Schuldenkrise zu diskutieren. Vor allem helfen sie, eine umfassendere und radikale Kritik der Verhältnisse zu formulieren. Schließlich sind diese Kämpfe in Südeuropa Kämpfe um Reproduktionsverhältnisse, die selbst in der Krise sind.

»Reproduktionskrise« bezeichnet die Krise der Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Da die Lohnarbeit die herrschende Form ist, in der die Menschen ihr Leben finanzieren, wird das Leben, die physische und psychische Wiederherstellung des Körpers, selbst prekär. (1) Der Krisenbegriff findet in der Linken jedoch häufig nur dann Akzeptanz, wenn damit eine Krise des oder ein Widerspruch für das Kapital verbunden ist. Wann dies der Fall ist, erklären uns beispielsweise die Freunde und Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft. (Siehe ak 580)

Die gegenwärtige Krise sei eine Krise des Kapitals und des Staates. Für die FreundInnen ist deshalb entscheidend, »die Spaltung der Linken in EtatistInnen und Antiautoritäre zu befördern«. Ihre Kritik zielt auf die Teile der radikalen Linken, die vermeintlich verkennen, dass die gegenwärtige Krise Folge der immanenten Logik der kapitalistischen Ökonomie ist.

Den FreundInnen ist an dem Punkt zuzustimmen, dass es um eine radikale Abschaffung des Lohnsystems gehen muss. Geschenkt ist ihre Kritik an der Vorstellung, mit keynesianistischen Regularien das System über den Haufen werfen zu können. Problematisch ist jedoch, dass ihre vorgetragene Kapital- und Krisenanalyse sehr lohnarbeitszentriert ist. Keine Bemerkung zu den Zwangs- und Herrschaftsverhältnissen jenseits von Lohnarbeit, oder jenen, die scharfe Ausbeutung durch Lohnarbeit häufig erst möglich machen. Die globale, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bleibt unbeachtet. Zudem verlieren die FreundInnen kein Wort zur konkreten Verfasstheit der Klasse(n) - speziell in der BRD. Und: Wo ist unsere Klassenposition?

Reichtum global umverteilen

Während die FreundInnen feststellen, dass aufgrund der entwickelten Produktivkräfte »die proletarisierte Masse der Bevölkerung« den »Knüppel« zu spüren bekommt, bleib ihr Appell, praktische Konsequenzen zu ziehen, gleichzeitig verkürzt, leer und abstrakt. Wenn die Produktivkräfte einen ungemeinen Reichtum ermöglichen, dann bedeutet dies doch, dass er emanzipatorisch nach den Bedürfnissen der Menschen global umverteilt werden muss. Gerade angesichts der Reproduktionskrise.

Eine weitere Schlussfolgerung sollte sein, dass subalterne Kämpfe, in denen sich genommen wird, was gebraucht wird, sich vernetzen müssen. Ein Beispiel aus Griechenland: ArbeiterInnen der VioMe-Fabrik in Thessaloniki einerseits und GenossInnen andererseits nahmen selbstorganisiert in einer besetzten Fabrik die Produktion wieder auf. Bei diesem Experiment entstanden Pläne, wie man sich in die in den letzten Krisenjahren entstandenen, solidarischen Ökonomien in Thessaloniki und Griechenland einfügen könnte. Die Besetzung wird als Teil eines gemeinsamen Transformationsprozesses von unten verstanden und praktiziert. Produktion von Baumaterialen einerseits und Kämpfe um Reproduktionsverhältnisse andererseits werden zusammengedacht - als unterschiedliche Momente eines gemeinsamen Kampfes.

Notwendig ist es zudem, Bilder für eine bedürfnisgerechte Vergesellschaftung zu produzieren - durch und in kollektiven, widerständigen Praktiken. Es ist wichtig, dass all diese Bewegungen auch »auf das gesellschaftliche Imaginarium, auf Diskurse« (Dario Azzellini, ak 581) einwirken. In diese Prozesse muss sich auch die radikale Linke einmischen. Ihre Aufgabe ist es, darauf einzuwirken, wohin die Reise mit den diversen Transformationsprozessen geht und was das Ziel sein soll: der revolutionäre Bruch.

Wer derzeit etwa wie die FreundInnen als einzig konkreten Vorschlag Spaltung im Angebot hat, hat vergessen, seine deutsche Brille abzusetzen. Ein grenzüberschreitender Austausch von Erfahrungen hat bereits begonnen und könnte in einem Versuch der kontinuierlichen Organisierungen münden, bei dem in NoBorder Camps und -Netzwerken, bei M31 und Blockupy, in der Agora99 und sozialen Netzwerken eine transnationale Perspektive europäisch erprobt und formiert wird - als konstituierende Macht.

Allerdings verweisen nicht all die genannten Bewegungen und Kämpfe darauf, dass Kapitalismus mehr ist als Lohnarbeit und Mehrwert. Womit wir wieder beim Thema der Reproduktionskrise wären. Der Begriff Reproduktionskrise versucht, sich von zwei Seiten der Krise anzunähern: Wo gibt es Widersprüche und Risse im Kapitalismus, und wie sieht die lebendige, subjektive Seite dabei aus? Widersprüchlichkeiten in der Reproduktion der Ware Arbeitskraft für das Kapital sind tendenziell unsichtbar, aber da. Und: Es sind mehrheitlich Frauen, »die allen Widrigkeiten zum Trotz ihre Familien reproduzieren«. (2)

Kämpfe radikalisieren

Möglicherweise ist diese Permanenz von Widersprüchlichkeit männlich Sozialisierten weniger offensichtlich - wie auch die Situation der MigrantInnen an den Festungsmauern Europas für den Großteil der deutschen Linken nicht präsent ist. Ebenso lastet sozialstruktureller, gesellschaftlicher Druck unterschiedlich stark auf unseren Schultern. Trotz dieser sehr fragmentierten Erfahrungswelt lässt sich feststellen, dass sich die subjektive Dimension der Krise nicht nur darin zeigt, dass es zunehmend schwieriger ist, sich der Lohnarbeit unterwerfen zu können, sondern überhaupt, sich physisch und psychisch zu reproduzieren. (3)

Die Kämpfe um Reproduktionsverhältnisse sind global und zurzeit vor allem in südeuropäischen Ländern alltäglich. Das zeigen die massenhaften gesellschaftlichen Selbstorganisierungen von Wohnraum, wie etwa bei der Alexis-Besetzung in Rom im Dezember 2012 und im April 2013 oder die zahlreich entstandenen Gesundheitszentren in Griechenland. Die Initiativen sind jedoch unterschiedlich in ihrer politischen Ausrichtung. (4) Die solidarischen Gesundheitszentren in Thessaloniki entstanden aus den Hungerstreiks von MigrantInnen und weisen jegliche Vereinnahmung von staatlicher Seite zurück. Gleichzeitig gibt es auch rechte Initiativen und - wie in Griechenland - neofaschistische Ansätze, die »soziale Frage« von unten zu lösen. Gerade deshalb ist eine Intervention von links so wichtig.

Wenn laut offiziellen Zahlen über ein Drittel der griechischen Gesellschaft nicht mehr versichert ist, dann spielt es für die Menschen weniger eine Rolle, die »richtige« Krisenanalyse zu haben, sondern es geht um die Frage, welche Praxis und konkrete Militanz eine Vergesellschaftung von unten ermöglicht.

Durch prekäre und neoliberale Lohnarbeitsverhältnisse, Abbau staatlicher Leistungen, öffentlicher Daseinsvorsorge, Abbau freier Bildung, Privatisierungen etc. verschränken sich die subjektiven Probleme mit der allgemeinen Krise gesellschaftlicher Reproduktion, d.h. dem Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme oder öffentlicher Verkehrssysteme.

Das Öffentliche ins Zentrum

Zwar werden die genannten Projekte, wie sie etwa in Griechenland aus dem Boden sprießen, aus deutscher Perspektive gelobt. Stehen derartige Projekte hierzulande allerdings als konkrete politische Option zur Debatte, werden sie schnell als reformistisch und nationalistisch abgetan. Die Kämpfe jenseits deutscher Grenzen sollten aber für hier fruchtbar gemacht werden. Auch hierzulande müssten entlohnte und unentlohnte Reproduktionsarbeiten in den Blick genommen werden, um einen radikalen Standpunkt in dieser Krise einnehmen zu können. (Siehe ak 552) Das ermöglicht, eine Strategie zu bestimmen, die nationale Grenzen und Lohnarbeitsfetisch sprengt.

Daran anschließend sollte eine Strategiedebatte radikal das Öffentliche ins Zentrum stellen und damit die Frage nach den Beni Comuni, den gesellschaftlichen Gemeingütern. Das Unsichtbare ist politisch. Eine Strategie, die im Süden praktiziert wird und die privaten Eigentumsverhältnisse infrage stellt. Hierzulande könnte dies in einem Organisierungsprozess geschehen, sprich der solidarischen Vernetzung verschiedenster politischer Kräfte und Kapazitäten, um transnationale solidarische Ökonomien zu entwickeln und gleichzeitig stets den Konflikt mit dem Kapital weiter zuzuspitzen.

Hierzulande könnte ein solcher Organisierungsprozess beispielsweise eine Debatte um die Forderung nach Kindergartenplätzen vorantreiben. Dieses Feld ermöglicht eine kritische Selbstbefragung und eine Auseinandersetzung mit ostdeutschen GenossInnen. Eine kollektive Radikalisierung wäre sicherlich die Folge.

Dario Azzelini konstatierte, dass sich das Bedürfnis nach Demokratie und Partizipation global in den Kämpfen der letzten Jahre artikulierte. Die Frage nach unseren Bedürfnissen sollte uns in der Erprobung neuer Praktiken gegen die Troika, gegen deren Europa, gegen das Kommando des Kapitals anleiten. Das bedeutet auch, Antworten auf folgende Fragen zu finden: Wie ermöglichen wir eine selbst organisierte Praxis - begleitet von einer kritischen Reflexion unserer eigenen (autonomen) Geschichte(n) - ohne in einer selbstbezogenen Szene zu versumpfen? Wie können andere Vergesellschaftungsformen aussehen, wenn wir ernsthaft versuchen wollen, den Patriarch Vaterstaat nicht um Erlösung anzurufen, sondern die Staatsform als umkämpftes Feld begreifen? Denn sind wir aus deutscher Perspektive mal ehrlich: Wenn der Staat hierzulande etwas Gutes gebracht hat, dann die diversen sozialen Absicherungen. Und wie meinen wir, dies anders vergesellschaften, anders organisieren zu können?

Anna Dohm lebt hauptsächlich in Berlin und ist in der Interventionistischen Linken aktiv. Eine Langfassung des Textes findet sich auf ihrem Blog bassrandale.blogsport.de.

Anmerkungen:

1) Vgl. Gabriele Winker: Erschöpfung des Sozialen. In: Luxemburg 4/2012, S. 6-13.

2) Silvia Federici: Aufstand aus der Küche. Münster 2012, S. 24.

3) Vgl. Kerstin Jürgens: Deutschland in der Reproduktionskrise. In: Leviathan 4/2010, S. 559-587.

4) Vgl. express 3/2013 und labournet.de.